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Eines Abends saß Ben Hur drüben in Trachonitis mit einigen seiner Galiläer am Eingang der Höhle, in der er seine Wohnung aufgeschlagen hatte, als ein Eilbote, ein Araber, auf ihn zuritt und ihm einen Brief überbrachte. Den Umschlag erbrechend, las er:
»Jerusalem, am 4. Nisan.
Ein Prophet ist erschienen, von dem die Menschen sagen, er sei Elias. Er hat jahrelang in der Wüste gelebt und in unseren Augen ist er ein Prophet. Alle seine Worte weisen auf einen anderen hin, der größer sei als er, der, wie er sagt, eben jetzt kommen soll und auf den er am Ostufer des Jordanflusses wartet. Ich bin hingegangen, ihn zu sehen und zu hören, und jener, auf den er wartet, ist gewiß der König, den Du erwartest. Komm und urteile selbst! Ganz Jerusalem zieht hinaus zum Propheten, und dazu kommen noch viele andere Menschen, so daß das Ufer, wo er weilt, aussieht wie der Ölberg in den letzten Tagen der Osterzeit. Malluch.«
Ben Hurs Antlitz erglühte vor Freude. »Diese Botschaft, meine Freunde,« rief er, »diese Botschaft macht unserem Warten ein Ende. Der Herold des Königs ist erschienen und hat ihn angekündigt.«
Er las ihnen den Brief vor, und auch sie freuten sich über die Verheißung, die er ihnen bot.
»Macht euch nun bereit«, fügte er hinzu, »und tretet morgen den Heimweg an. Zu Hause angekommen, benachrichtigt sofort die euch Unterstellten, daß sie jeden Augenblick zur Stelle sind, wenn mein Ruf sie versammeln sollte. Ich will hingehn, um mich für meine Person und für euch zu überzeugen, ob der König wirklich so nahe ist, und euch dann Nachricht senden. Inzwischen wollen wir uns der Verheißung freuen, die uns geworden ist.« In die Höhle tretend, schrieb er einen Brief an Ilderim und einen an Simonides, worin er ihnen von der erhaltenen Nachricht und von seiner Absicht, sogleich nach Jerusalem zu reisen, Mitteilung machte. Die Briefe ließ er durch Eilboten befördern. Als die Nacht hereinbrach und die Sterne, seine Wegweiser, sichtbar wurden, stieg er zu Pferde und schlug mit einem arabischen Führer die Richtung nach dem Jordan ein. Er gedachte dem Karawanenwege zu folgen, der von Damaskus nach Rabbath-Ammon führte.
Um Mitternacht hatten die beiden den harten Lavaboden hinter sich und eilten nach Süden. Bei Sonnenaufgang waren sie noch immer in der Wüste, als sie auf der endlosen öden Fläche sich bewegende Punkte sahen, die sie bald als ein Kamel mit einem Begleiter zu Pferd erkannten.
Etwas später konnte Ben Hur selbst unterscheiden, daß es ein weißes und ungewöhnlich großes Kamel war, und er erinnerte sich an das wunderbare Tier, das Balthasar und Iras zur Quelle im Daphnehain gebracht hatte. Er gedachte der schönen Ägypterin, und unmerklich verlangsamte sein Pferd die Gangart bis zum gemächlichen Schritt. Endlich konnte er das durch Vorhänge geschützte Reitzelt unterscheiden, worin zwei Personen saßen. Wenn sie Balthasar und Iras waren! Sollte er sich ihnen zu erkennen geben? Aber während er noch diese Frage erwog, hatte der weit ausgreifende Schritt des Kamels die Reiter ihm nahegebracht. Er hörte das Geklingel der Schellen und sah die kostbare Satteldecke, die von der Menge bei der kastalischen Quelle so bewundert worden war. Er sah auch den Äthiopier, den treuen Begleiter der Ägypter. Das stattliche Tier blieb nahe bei Ben Hurs Pferde stehn. Er blickte auf und sah Iras, die unter dem emporgehobenen Vorhang mit ihren großen, leuchtenden Augen erstaunt und forschend auf ihn herabsah.
»Der Segen des wahren Gottes sei mit dir!« sprach Balthasar mit seiner zitternden Stimme.
»Und mit dir und den Deinen sei der Friede des Herrn!« erwiderte Ben Hur.
»Meine Augen sind durch die Jahre geschwächt,« sagte Balthasar, »dennoch sagen sie mir, daß du jener Sohn Hurs bist, den ich jüngst als geehrten Gast im Zelte Ilderims des Edlen kennen lernte.«
»Und du bist Balthasar, der weise Ägypter, dessen Reden über bevorstehende heilige Ereignisse so viel mit meiner Anwesenheit hier in dieser wüsten Gegend zu tun haben. Was führt dich hierher?«
»Niemals ist der allein, welcher dort ist, wo Gott ist, – und Gott ist überall,« antwortete Balthasar ernst. »In Beantwortung des Sinnes deiner Frage teile ich dir mit, daß eine kurze Strecke hinter uns eine Karawane folgt, die auf dem Wege nach Alexandrien ist, und da sie durch Jerusalem ziehen wird, hielt ich es für das beste, die Gelegenheit zu benützen und mich ihr bis zur heiligen Stadt, dem Ziele meiner Reise, anzuschließen. Heute morgen indes brachen wir, unzufrieden mit ihren langsamen Bewegungen – die Ursache ist eine römische Kohorte, die sie begleitet – zeitiger auf und wagten uns allein so weit voraus.«
»Ja,« sagte Iras mit gewinnendem Lächeln, »und jetzt sind wir müde der Wüste und sehnen uns nach einer Rast an einer kühlen Quelle.«
»Wenn es dir recht ist, werde ich dich nach einer Quelle führen,« erwiderte Ben Hur.
Die Gesellschaft brach jetzt wieder auf, Ben Hur ritt mit dem Führer voran. Nach einer Weile kamen sie in ein seichtes Wadi, durch welches der Führer, sich zur Rechten wendend, den übrigen voran hinabritt, und gelangten endlich durch eine enge Schlucht in ein weites, überaus anmutiges Tal, das, nach der gelben, einförmigen, baum- und graslosen Ebene plötzlich auftauchend, ihnen wie ein eben entdecktes Paradies vorkam. Die da und dort sich windenden Wasserkanäle erschienen wie weiße Fäden, die sich zwischen grünen, mit Schilf umsäumten Inseln vielfach ineinander schlangen. Eine Palme stand abseits in königlicher Erhabenheit. Am Fuße der Talwände rankten Weinreben empor, und unter einer überragenden Klippe war ein Maulbeerwäldchen gewachsen, das der Gesellschaft die gesuchte Quelle verkündigte.
Das Wasser sprudelte aus einem Spalt im Felsen, den eine sorgsame Hand zu einer gewölbten Höhlung erweitert hatte. Von der Felsenwölbung rann das Wasser munter über eine mit lichtem Moos bewachsene Steinplatte und floß in einen kleinen, durchsichtig klaren Teich. Von da rieselte es verstohlen zwischen grasigen Flächen hin, die Bäume erquickend, bevor es im durstigen Sande sich verlor. Die Pferde wurden abgezäumt und ihnen freie Bewegung gegönnt, und der Äthiopier half Balthasar und Iras vom knienden Kamele steigen. Alsbald wandte der Greis sein Gesicht nach Osten, kreuzte die Hände ehrerbietig auf der Brust und betete.
»Bringe mir einen Becher!« sprach Iras mit einiger Ungeduld. Der Diener brachte ihr vom Reitzelt einen Kristallbecher. Dann sprach sie zu Ben Hur: »Ich werde dich an der Quelle bedienen.«
Sie gingen mitsammen zum Wasserbecken. Er wollte für sie schöpfen, sie aber ließ es nicht zu, kniete selbst nieder und hielt den Becher unter den hinabrieselnden Wasserstrahl. Als das Gefäß abgekühlt und bis zum Rande gefüllt war, bot sie ihm den ersten Trunk.
»Ich weihe diesen Becher«, sagte sie dabei, »dem Sieger im Wagenrennen und dem tapferen Kämpfer auf der Burg in Jerusalem.«
Ben Hur errötete geschmeichelt, dann aber kam ein mißtrauischer Gedanke über ihn. Niemand kannte in Jerusalem seinen Namen, woher wußte sie, daß er der Führer in dem Kampfe gewesen war? Sollte Malluch oder Simonides es ihr mitgeteilt haben? War Iras ihm feindlich gesinnt, so konnte ihre Kenntnis ihm gefährlich werden. Aber schnell zwang er seine Gedanken nieder, füllte den Becher von neuem, und sich erhebend, sprach er mit erzwungener Gleichgültigkeit:
»Schöne Ägypterin, wäre ich ein Ägypter oder ein Grieche oder ein Römer, so würde ich sagen« – er hielt dabei den Becher empor –: »O ihr guten Götter! Ich sage euch Dank, daß der Welt bei all ihren Bitterkeiten und Leiden der Zauber der Schönheit und der Trost der Liebe geblieben sind, und ich trinke auf jene, die beides am besten verkörpert: – auf Iras, die lieblichste unter den Töchtern des Nils!«
Sie legte die Hand sanft auf seine Schulter.
»Fürchtest du nicht,« fragte sie lächelnd, »daß ich die kleine Jüdin aufsuche, die im Hause des großen Handelsherrn drüben in Antiochien die Rosen pflegt und Sonnenschein in die Finsternis bringt? Ich werde ihr wiederholen, was du mir mit emporgehaltenem Becher, die Götter zu Zeugen anrufend, gesagt hast.«
Er schwieg einen Augenblick, als wollte er der Ägypterin Zeit lassen, noch mehr zu sagen. Mit lebendiger Phantasie sah er Esther an der Seite ihres Vaters, wie sie den ihm gesandten Nachrichten lauschte – bisweilen selbst sie las. Sie war mit Iras bekannt geworden; diese war weltgewandt und klug, jene besaß ein schlichtes, herzliches Wesen und war deshalb leicht zu überreden. Simonides konnte die Treue nicht gebrochen haben, auch Ilderim nicht, denn wenn ihn auch die Ehre nicht gebunden hätte, so mußte er doch wissen, daß ein Ruchbarwerden der geheimen Abmachungen für niemand so ernste und unausbleibliche Folgen hatte wie für ihn. Sollte Esther unbewußt die Ägypterin unterrichtet haben? Ehe aber Ben Hur auf die letzte Anspielung antworten konnte, erschien Balthasar an der Quelle und lud ihn zu einer Mahlzeit ein. Bald saßen sie gemeinsam unter dem Zelt, das vor Jahren den drei Weisen bei ihrem Zusammentreffen in der Wüste ein schützendes Dach gewährt hatte. Und sie aßen herzhaft von den Vorräten, welche die Ägypter auf dem Kamele mitgeführt hatten.
»Als wir dich einholten, Sohn Hurs,« sprach Balthasar am Schlusse des Mahles, »schien auch dein Angesicht nach Jerusalem gewandt. Nimm mir daher die Frage nicht übel, ob du dahin reisest.«
»Ich bin auf dem Wege nach der heiligen Stadt.«
»Da es für mich dringend geboten ist, jede längere Anstrengung zu vermeiden, möchte ich noch eine Frage an dich stellen: Gibt es keinen kürzeren Weg als den über Rabbath-Ammon?«
»Ein kürzerer, aber beschwerlicherer Weg führt über Gerasa und Rabbath-Gilead. Es ist der Weg, den ich zu nehmen gedenke.«
»Ich brenne vor Ungeduld,« sprach Balthasar. »In der letzten Zeit wurde mein Schlaf von Träumen – oder vielmehr von demselben oft wiederholten Traum – heimgesucht. Eine Stimme – es ist weiter nichts – läßt sich vernehmen, die mir zuruft: Eile, steh auf! Der, den du schon so lange erwartest, ist erschienen!«
»Du meinst denjenigen, der König der Juden sein wird?« fragte Ben Hur, den Ägypter unverwandt anblickend.
»Ja.«
»Du hast also nichts von ihm gehört?«
»Nichts als die Worte der Stimme im Traume.«
»So habe ich hier Nachrichten, die dir ebenso Freude bereiten werden, wie sie mir angenehm waren.«
Ben Hur zog aus den Falten seines Gewandes den von Malluch erhaltenen Brief hervor. Die Hand des Ägypters zitterte heftig, als sie denselben in Empfang nahm. Er las laut, und beim Lesen nahm seine Erregung zu. Die welken Adern seines Halses schwollen an und es begann in ihnen zu pochen. Am Schlusse hob er die tränenbenetzten Augen in dankbarem Gebete zum Himmel. Er stellte keine Fragen, hatte aber keine Zweifel.
»Du warst sehr gütig gegen mich, o Gott!« rief er. »Laß mich, ich bitte dich, nochmals den Erlöser sehen und anbeten, und dein Diener ist bereit, in Frieden zu scheiden!«
Der Inhalt, der Ton und die ganz eigentümliche Art des schlichten Gebetes machten auf Ben Hur einen tiefen Eindruck und erweckten in ihm neue Gefühle. Nie schien ihm Gott so wesenhaft und nahe. Es war ihm, als neige er sich über sie herab oder als sitze er an ihrer Seite – ein Freund, von dem man durch die einfachste Bitte Hilfe erlangen kann – ein Vater, der alle seine Kinder in gleicher Weise liebt – ein Vater nicht nur der Juden, sondern auch der Heiden – der Vater aller, an den sich jeder ohne Ausnahme mit Vertrauen wenden kann. Der Gedanke, daß ein solcher Gott statt eines Königs der Menschheit einen Erlöser sende, erschien Ben Hur nicht nur in einem neuen Lichte, sondern auch so klar und natürlich, daß er das größere Bedürfnis nach einem solchen Gottesgeschenke und seine größere Übereinstimmung mit der Natur eines solchen Gottes beinahe einsah. Er konnte also nicht umhin zu fragen:
»Nun, da er erschienen ist, Balthasar, glaubst du noch, daß er ein Erlöser und nicht ein König sein wird?«
Balthasar warf einen nachdenklichen, aber zärtlichen Blick auf ihn.
»Laß mich versuchen, Sohn Hurs,« nahm er dann wieder das Wort, »dir zu einem klaren Verständnis meines Glaubens zu verhelfen. Ich vermag dir nicht zu sagen, wann die Idee, daß in jedem Menschen eine Seele wohne, ihren Ursprung nahm. Sehr wahrscheinlich brachten sie die ersten Eltern aus dem Garten Eden mit. Bei einigen Völkern ging sie verloren, bei allen nicht; zuzeiten verblaßte sie und wurde getrübt, in anderen Jahrhunderten wurde sie von Zweifeln überflutet. Mein Gott sandte in seiner großen Güte von Zeit zu Zeit geistesmächtige Männer, deren scharfer Verstand die Menschen wieder zum Glauben an die Seele und zur Hoffnung zurückführte. Warum sollte in jedem Menschen eine Seele sein? Erwäge, Sohn Hurs, für einen Augenblick die Notwendigkeit der Seele. Sich hinlegen und sterben und nicht mehr sein – nicht mehr für immer –, nie gab es eine Zeit, wo der Mensch sich ein solches Ende wünschte, noch gab es je einen Menschen, der sich in seinem Herzen nicht etwas Besseres erhofft hätte. Alle Denkmäler der Völker, der Statuen und Inschriften, die Geschichte erheben lauten Protest gegen das Nichtsein nach dem Tode. Auch nur die Möglichkeit dieses Nichtseins bejahen hieße zum Ankläger Gottes werden. Glauben wir also, daß seine Vorsehung uns ein Fortleben nach dem Tode verschaffen wird, ich meine ein wirkliches Leben, etwas mehr als eine bloße Erinnerung im sterblichen Gedächtnisse, ein Leben mit Kommen und Gehen, mit Empfindung und Bewußtsein, mit Tätigkeit und Urteil, ein Leben, ewig der Dauer nach, wenn es auch dem Zustande nach Änderungen unterworfen ist. Vor allem benimmt dieser Gedanke dem Tode seine Schrecken, indem er das Sterben als eine Änderung zum Besseren und das Begraben als das Pflanzen eines Samenkornes erscheinen läßt, aus dem neues Leben entspringen wird. O könnte ich dir das Entzücken schildern, das jenes künftige Leben in sich schließen muß! Sage nicht, daß ich hierüber nichts wisse. So viel weiß ich, und es ist mir genug: eine Seele sein heißt in einem gottähnlichen Zustande leben. An einem solchen Wesen haftet kein Staub noch etwas Unreines; es muß feiner sein als die Luft, durchsichtiger als das Licht, reiner als der Äther: – es ist das Leben in seiner ganzen Reinheit. Und nun, Sohn Hurs, da ich so viel weiß, soll ich mit mir selbst oder mit dir über Unwesentliches streiten – über die Form meiner Seele, oder wo sie ihren Sitz haben soll, oder ob sie esse oder trinke, ob sie beflügelt sei oder dies oder jenes an sich habe? Nein, es ziemt sich besser, in allem auf Gott zu vertrauen. Alles Schöne und Gute auf der Welt hat seinen Ursprung in ihm. Ist mir das nicht eine Bürgschaft, daß ich, vertrauensvoll wie ein Kind, ihm die Sorge für meine Seele und das Leben nach dem Tode überlasse? Ich weiß, daß er mich liebt.« Der fromme Greis hielt inne und trank, und seine Hand zitterte, als sie den Becher an die Lippen führte. Iras und Ben Hur teilten beide seine Erregung und verharrten im Schweigen. Dem letzteren ging ein Licht auf. Er begann wie nie zuvor einzusehen, daß es ein geistiges Reich geben könne, welches für die Menschheit wichtiger sei als ein irdisches, und daß im Grunde ein Erlöser wirklich ein gotteswürdigeres Geschenk sei als der größte König.
»Ich könnte dich jetzt fragen,« fuhr Balthasar fort, »ob dieses irdische Leben, das so kurz und voller Mühen ist, dem vollkommenen und ewigen Leben, wie es der Seele bestimmt ist, vorzuziehen sei. Aber stelle dir die Frage selbst: Ist eine Stunde einem ganzen Jahre vorzuziehen, das gleiche Glück auf beiden Seiten vorausgesetzt? Dann gehe zur Hauptfrage über: Was sind siebzig Jahre gegen eine ganze Ewigkeit mit Gott? Wenn du in solcher Weise nachdenkst, Sohn Hurs, wirst du nach und nach die Bedeutung der folgenden Tatsache erfassen, die mich mehr in Erstaunen setzt als irgendeine andere und in ihren Wirkungen so tief betrübend ist; es ist die Tatsache, daß die Idee von einem Leben der Seele fast wie ein erloschenes Licht in der Welt ist. Die Menschen leben heute in den Tag hinein, als ob die Gegenwart alles in allem sei, und verkünden überall: Es gibt kein Morgen nach dem Tode, oder wenn es eines gibt, so soll es für sich selbst sorgen, da wir darüber nichts wissen. Wenn der Tod sie dann abberuft, können sie nicht in den Genuß der glorreichen Ewigkeit eingehn, da sie nicht fähig und würdig sind. Findest du nun nicht, daß die Erkenntnis vom Reich Gottes wiederkehren muß, und daß das Bedürfnis nach einem Erlöser unendlich größer ist als das nach einem Könige? Darf derjenige, den wir erwarten, noch länger als Krieger mit dem Schwerte oder als Herrscher mit der Krone in deiner Hoffnung leben? Nun bleibt nur noch die eine Frage zu beantworten: Wie werden wir ihn erkennen? Bleibst du bei deiner Ansicht in bezug auf seinen Charakter – daß er ein König sein wird, wie Herodes einer war –, dann wirst du natürlich so lange suchen, bis du einen in Purpur gekleideten Mann, der ein Zepter trägt, findest. Derjenige aber, den ich suche, wird arm, niedrig, unangesehen sein, ein Mann, der dem Äußeren nach sich von anderen nicht unterscheidet. Und das Zeichen, an dem ich ihn erkennen werde, wird das einfachste sein, das sich denken läßt. Er wird sich erbieten, mir und allen Menschen den Weg zum ewigen Leben, zum herrlichen, reinen Leben der Seele zu zeigen.«
Die Gesellschaft saß einen Augenblick in lautloser Stille; Balthasar unterbrach das Schweigen.
»Laßt uns jetzt aufbrechen,« mahnte er, »laßt uns aufbrechen und wieder vorwärtseilen. Was ich gesagt habe, hat in mir aufs neue die Ungeduld erregt, ihn zu sehen, der beständig in meinen Gedanken ist. Und scheine ich euch zu große Eile zu haben, Sohn Hurs und du, meine Tochter, so sei dies meine Entschuldigung.«
Auf sein Zeichen brachte der Diener Wein in einer Lederflasche. Sie schenkten sich ein und tranken, dann schüttelten sie die Tücher aus, die sie auf den Schoß gebreitet hatten, und erhoben sich. Während der Diener das Zelt und alle gebrauchten Gegenstände wieder in der Kiste unter dem Reitzelte verwahrte und der Araber die Pferde herbeibrachte, wuschen sich die drei in dem Becken.
In kurzer Zeit befanden sie sich auf dem Rückwege durch das Wadi. Sie hatten zunächst die Absicht, die Karawane einzuholen, falls sie ihnen bereits vorausgekommen war.