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16.

Am Morgen nach seinem Einritt in Linz, zeitlich früh, begab sich Franz Stephan hinaus in die Vorstädte. Überall hin führte ihn sein Ritt, und er sah, welch schaurige Verwüstung seine Kroaten und Panduren angerichtet hatten. Aber, das wird alles wieder zu bessern sein, dachte er – und wir haben die Stadt! Und in seiner natürlichen Gutmütigkeit und mit jener liebenswürdigen Art, die ihm so leicht die Herzen gewann, sprach er mit den Leuten, bedauerte sie und versprach im Namen seiner königlichen Gemahlin Hilfe und Entschädigung in reichstem Ausmaß.

Dann, gegen Mittag, strömte das Volk von Linz in hellen Haufen zusammen. Der Sieg, die Befreiung sollte gefeiert werden – und aller Herzen waren dabei. Großartig war das Hochamt in der Pfarrkirche, jubelnd erklang das Tedeum vom hohen Kirchenchor hernieder. Der Hauptplatz sah eine prächtige Parade des Korps der Österreicher, der Prinz von Sachsen-Hildburghausen führte als kommandierender General die Truppen dem Herzog vor. Wieder krachten die Geschütze – diesmal nicht Stimmen des Unheils, sondern der Freude. Und dann fand auf dem Schloß ein großes Bankett für die Generale und Stabsoffiziere statt.

Aber bei diesen Festlichkeiten fehlten die Vertreter der Stände … Der alte Graf Thürheim hatte es sich selbst immer vorhergesagt, was dann auch eintraf: als er, gleich nach dem Einzug des Herzogs, sich zu ihm begab, um ihm namens des ganzen Ständekollegiums seine Glückwünsche zum großen Sieg und die Versicherungen tiefster und unerschütterlicher Ergebenheit darzubringen, da hatte ihn Franz Stephan nicht empfangen … Die Königin grollte! Franz Stephan überlas den Brief, den ihm soeben ein Eilkurier aus Wien gebracht hatte: zweideutig fand seine Gemahlin das Verhalten der Stände bei der Besetzung der Stadt. Und sie hatten Karl Albrecht gehuldigt … War der Zwang wirklich so unwiderstehlich gewesen?! Gleichviel – die Königin bat den Gemahl, in seiner Eigenschaft als Mitregent, den Grafen Thürheim abzusetzen. Und so erhielt dieser, kurz nach der verweigerten Audienz, den Befehl, Linz zu verlassen und sich auf seine Besitzungen zu begeben. Und ein gleicher Befehl erging an die paar anderen Mitglieder der Stände, die während der Belagerung in der Stadt gewesen waren. –

Der alte Graf zuckte die Achseln. Er hatte es kommen sehen! Was wäre denn geschehen, wenn sie sich damals gegen die Bayern zur Wehr gesetzt hätten? – Vielleicht wäre die Stadt dann schon damals halb zusammengeschossen und verbrannt worden …

»In Weinberg läßt es sich auch leben« – dachte Thürheim. »Lange genug habe ich den Karren der Geschäfte gezogen. Mag's einmal ein anderer versuchen …«

Dieser andere war Leo Freiherr von Hoheneck, der bald darauf zum Präsidenten des Ständischen Kollegiums ernannt wurde. –

Dann, nach den Tagen der festlichen Freude – kamen die Tage der Arbeit. Ein Teil des Landesaufgebotes kam in die Stadt, um sie von allen Spuren der Belagerung und Besetzung zu säubern. Die Palisaden, die noch standen, wurden abgerissen, die Wälle wurden eingeebnet, die Gräben ausgefüllt. Und als am 30. Januar der Herzog mit seinen Truppen die Stadt verließ, um sich nach Wien zu begeben, mußten die Bürger von Linz die Stadtwache wieder übernehmen, was sie herzlich gerne taten. –

Und dann bekamen alle Handwerker mächtig zu tun – denn es mußte wieder durch den Frieden aufgebaut werden, was der Krieg zerstört hatte …

*

Auch die Grünen Husaren waren nach Wien abgezogen; nur eine kleine Abteilung war fürs erste in Linz zurückgelassen worden. Lambert Roxheim hatte den Obersten Graf Gerani gebeten, dieser Schar zugeteilt zu werden – fürs erste, wie er hinzufügte, da er wichtige Dinge familiärer Natur zu ordnen habe, die seine Anwesenheit dringend nötig erscheinen ließen. Der Graf verstand und bewilligte sein Ansuchen. Roxheim hatte ihm kurz erzählt, daß er in einem Ehrenhandel, unmittelbar vor dem Abzug der Feinde, den Vicomte de Kersaint getötet habe, ohne auf nähere Einzelheiten einzugehen. Aber der Graf ahnte, daß es sich um Roxheims Braut gehandelt haben mochte.

Und jetzt wohnte Roxheim im Städtischen Quartierhaus, an der Ecke, wo Hofberg und Altstadt sich trafen – und wenn er ausging, kam er immer am Hause Tann vorbei …

Pranck hatte ihm, nachdem er Romana heimgebracht hatte, indes Roxheim an einer Ecke auf ihn gewartet hatte, in kurzen, knappen Worten von der schweren Krankheit des alten Ratsherrn erzählt, dem jede Aufregung ferngehalten werden müsse. Und auch das hatte er ihm mitgeteilt, wie Petronella ihn zum Überbringer ihrer verhängnisvollen Botschaft gemacht hatte …

»Und nehmen Sie mein Ehrenwort –« hatte er beigefügt, »daß ich auch nicht die leiseste Ahnung von jener unheilvollen Beziehung hatte, die zwischen Fräulein von Tann und Kersaint obwaltete. Glauben Sie mir – ich hätte alles aufgeboten, um meinen armen Freund zur Vernunft zu bringen – und ihn von solchen Taten abzuhalten, wie es die war, die sein Ende herbeigeführt hat.«

Roxheim hatte schweigend zugehört. Dann hatte er gesagt: »Ich danke Ihnen, Herr von Pranck, daß Sie mir geholfen haben, an jenem Morgen ohne allzugroßes Aufsehen ein vorläufiges Ende zu machen. Und Dank auch für Ihre guten Gesinnungen gegen Herrn von Tann …« Und dann hatten sie sich voneinander empfohlen. –

Jetzt aber hatte Roxheim, nach dem Abzug des Herzogs, sehr viel Zeit, über die weitere Entwicklung der Dinge nachzudenken – und er mußte zu einem Schluß kommen. Denn seine Anwesenheit in der Stadt war nicht unbekannt geblieben – er war Barbara begegnet, dann auch dem Ehepaar Payrhuber – und alle hatten ihm von des alten Tann Krankheit erzählt – und daß auch Romana leidend sei. Dann war ein Brieflein in sein Quartier gekommen, von Tann selber, mit zitternder Hand geschrieben: »Lieber Sohn, ich fühle mich stark genug, die Freude, dich wiederzusehen, auszuhalten!« – Jetzt konnte er nicht länger zögern, jenes Haus zu betreten, in dem ihn so schwere und unerquickliche Auseinandersetzungen erwarteten.

Er ging mit sich zu Rate. Unmöglich war es, zu tun, als ob nichts vorgefallen wäre. Romana hatte ihn treulos betrogen, er hatte sie eine Dirne genannt, ihren Galan umgebracht – darüber kommt man nicht hinweg … Sein Ingrimm an jenem Morgen war gekränkter Stolz, beleidigte Ehre gewesen – nicht, wie er sich selber offen zugab, verwundete Liebe … Roxheim war ein Mann von durchaus nüchternem Denken. Eine nahe Verbindung mit Tann war ihm seit seinen Jünglingsjahren von seinem Vater immer wieder als Ziel hingestellt worden. Dies Ziel hatte er in seinen festen Lebensplan aufgenommen. Ein sehr schönes reiches Mädchen aus altvornehmer Patrizierfamilie zu heiraten – das war gerade das, was er als adeliger Offizier brauchte. Er wußte, Tann hatte es ihm bei der Verlobung selbst gesagt, daß er einmal Tanns Erbe sein werde. »Meine Tochter Petronella weiht sich dem klösterlichen Stande –« hatte der alte Mann damals kurz gesagt …

Roxheim hatte, als der Krieg ausbrach, schon unmittelbare Vorbereitungen zu seiner Vermählung getroffen. Er war seiner Versetzung in ein Regiment, das in Wien stand, sicher gewesen. Später, nach ein paar Jahren, würde er den Dienst quittieren, und seine Besitzungen bewirtschaften. Im Winter dann in Linz leben, in dem geräumigen Haus, das er zu modernisieren und zu verschönern dachte. An der Seite der schönen Frau, die so gut in dies behagliche und vornehme Leben hineinpassen würde …

Und nun war das alles endgültig vorbei und abgetan! Nie hätte Roxheim es für möglich gehalten, daß Romana in so haltloser Leidenschaft sich verlieren würde. Und jetzt, beim Überlegen und Sinnen, ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er Romana am meisten deshalb zürnte, weil ihr Tun all seine wohlgeordneten Pläne und erfreulichen Aussichten zunichte gemacht hatte … Roxheim durchmaß sein Zimmer mit raschen Schritten, in unruhigem Hin und Her. Wie würde er es seinem alten Freunde Tann, der stets wie ein zweiter Vater gegen ihn gewesen war, sagen können: »Ich trete von der Verlobung mit Ihrer Tochter zurück …« Und dann würde Tann um den Grund fragen – – Und was dann?! –

Aber mußte das alles wirklich sein? – Mußte er so handeln? – Roxheims ärgster Zorn war längst verraucht und jene Erwägungen, die sich auf das Erreichen seiner Ziele, auf das Wohlbefinden seiner Person bezogen, hatten, zuerst unmerklich, dann immer bewußter, mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen. Wenn er so recht kaltblütig überlegte: seiner Ehre war durch den Tod des Vicomte vollkommen genug getan worden. Der Schimpf war mit Blut abgewaschen … Niemand hatte davon erfahren, daß seine Braut verkleidet unter den abziehenden Feinden gewesen war – dank Prancks Umsicht war alles glatt abgegangen. Und Pranck war ein Ehrenmann, würde schweigen – den kleinen Pariser hatte er mit sich genommen – – wie, wenn auch er, Lambert Roxheim, Schweigen über diese dunkle Geschichte breitete?! –

Der Gedanke machte ihn augenblicklich ruhig. Er überlegte weiter: wenn er den gnadenvoll und großmütig Vergebenden zeigt, dann muß ihm ja das Mädchen noch unendlich dankbar sein, daß er sie, trotz ihrer Schmach nicht ihrem Schicksal und dem Zorne des Vaters überließ … Er würde dann eine sehr ergebene und gehorsame Gattin an ihr haben. Und ihm blieb das schöne Erbe und alle Annehmlichkeiten dieser Verbindung. Das häßliche Wort, das er seiner Braut zugerufen hatte – das mochte sie als gerechte Strafe hinnehmen. O – sie würde gewiß seiner Verzeihung froh sein und demütig nach seiner Hand fassen … Einen Strich unter diese üble Sache – und ein neues Leben angefangen! –

In aller Eile begann er sich anzukleiden. Es war vor Tisch, gerade recht, um Besuch zu machen. Natürlich würde er ungestört mit Romana reden können – das war so natürlich, daß die Verlobten nach so langer Trennung den Wunsch hatten, sich auszusprechen … Und dann würde er alles ins Reine bringen – kurz und tapfer, wie es einem Husaren geziemte … Und dann würde man wieder zur Hochzeit rüsten – –

Die Sonne der ersten Februartage schien ihm plötzlich schon ein Vorbote des Frühlings zu sein. Und in dieser Stimmung klopfte es an seine Türe – und als er öffnete, wies sein Reitknecht auf die Zofe Ludmilla, die schüchtern und mit ihrem stets heimlich neugierigen Gesicht draußen stand, einen Brief in der Hand. Roxheim trat auf sie zu. Sie knixte.

»Von Fräulein Romana an den Herrn Baron –« sagte sie. »Und Sie möchten, wenn es Ihnen möglich ist, recht bald kommen – und sich gleich bei ihr melden lassen … Das hat sie mir noch aufgetragen, zu sagen …«

Sie huschte davon – und Roxheim ging in Verwunderung in sein Zimmer zurück. Siehe da – sie tat den ersten Schritt! Jetzt reuet sie es wohl … Um so leichter würde er mit ihr ins Reine kommen. Strenge und dann Gnade erweisen. Er riß den Brief auf. Da stand in Romanas klarer, feiner Handschrift:

»Lambert – ich bitte Sie, meinem kranken Vater zuliebe, um eine Unterredung. Sie wird uns beiden schwer fallen, vielleicht mir noch mehr, als Ihnen, aber sie muß stattfinden. Und zwar bald. – Beim Heile Ihrer Seele bittet Sie darum die unglückliche Romana.« – –

Roxheim ließ sich vom Diener in den Mantel helfen, drückte die Husarenmütze keck auf den wohlfrisierten Kopf und schritt sporenklirrend die schmale Treppe hinab, dem Hause Tann zu. Der Weg war nicht weit – aber weit genug, daß er sich inzwischen alles schön zurechtlegen konnte, was er sagen wollte … Sie würde weinen, um Vergebung bitten – er würde ein paar ernste Worte sagen – und dann der gnädige Tröster sein … Und dann war alles wieder in Ordnung. –

*

Als Romana an jenem Morgen, als Pranck sie bewußtlos ins Haus zurückgebracht hatte, aus ihrer tiefen Ohnmacht wieder zu sich kam, war ihre erste Empfindung schneidender Frost. Sie fühlte, wie sie entkleidet wurde, schlug die Augen auf, erkannte Petronella, und im gleichen Augenblick stand das ganze Furchtbare, das sie erlebt hatte, vor ihrem Geiste: ihre mißlungene Flucht, Kersaints Tod – und die klare Erkenntnis, daß sie von der Schwester verraten worden war. Mit einem qualvollen Aufstöhnen stieß sie Petronellas Hände, die ihr eben die Dienerkleidung abgestreift hatten, von sich – wollte sich erheben, aber die Kräfte verließen sie aufs neue und sie sank in die Kissen zurück. Sie schloß die Augen, um die Schwester nicht zu sehen, die jetzt – mit Nicoles zusammengerafftem Sonntagsgewand über dem Arm – rasch und lautlos das Gemach verlassen hatte. –

Lange lag Romana regungslos da, von Frost durchschauert, von Fieberglut überflutet. Endlich – der Vormittag war schon weit vorgeschritten – kam leise und vorsichtig die alte Barbara herein, brachte einen erwärmenden Trank und fragte, wie es ihr gehe. Nella hatte ihr mitgeteilt, daß die Schwester erkrankt sei und ungestört bleiben wolle. Wenn der Vater nach Romana frage, so solle man ihm sagen, daß ein heftiges Erkältungsfieber sie ans Lager feßle.

Romana trank den heißen Wein, den ihr die Alte reichte, ließ sich erzählen, daß die Feinde nun endgültig fortgezogen seien, sprach aber kein Wort und sah so elend aus, daß Barbara gleich wieder ging. Dann war sie mit ihren fürchterlichen Gedanken allein …

Darüber verfiel sie neuerlich in eine halbe Betäubung, die endlich in Schlaf überging. Leib und Seele, beide erschöpft und gepeinigt, forderten ihr Recht …

Ein paar Tage gingen auf diese Weise hin. Romana war wirklich krank – aber endlich überwand die Kraft ihrer Jugend das Fieber und an jenem Tage, da Herzog Franz Stephan Linz verließ, erhob sie sich von ihrem Krankenlager. Und auf einmal kam eine große Angst über sie, was sollte jetzt aus ihr werden? Wußten die Ihren, außer Petronella, was geschehen war?

Petronella … Bis jetzt hatte sie kein einziges Wort mit der Schwester gewechselt, sich immer schlafend gestellt, wenn diese im Zimmer weilte. Aber jetzt gab es wohl kein längeres Ausweichen mehr. Sprechen mußte sie mit der Schwester, die so unbarmherzig ihr Lebensglück zerstört hatte – –

An diesem Abend, als Nella zur Ruhe ging, fand sie die Schwester noch angekleidet neben dem Bett sitzen. Und Romana sprach sie an:

»Nella – – was hast du mir angetan!«

Mit einem in Trotz versteinerten Gesicht zuckte Petronella die Achseln. Auch sie hatte in diesen Tagen rastlos gegrübelt – über sich selber … Nein, niemand konnte ihr einen Vorwurf machen, daß sie die Schwester nicht in Abenteuer und Unehre hatte rennen lassen … Und hatte sie nicht klug und entschlossen dafür gesorgt, daß bis jetzt niemand wußte, was Romana eigentlich zugestoßen war? – Ahnungslos war der Vater, ahnungslos die Hausleute … Freilich – auch in Nella erhob sich immer wieder die Frage: Was würde jetzt geschehen? Was würde Roxheim tun?

Immerhin – sie war frei von Schuld. Und das sagte sie sich hundertmal vor. Aber tausendmal sagte es ihr ihr Gewissen, daß nicht Sorge um die Ehre der Schwester, sondern hassender Neid die eigentliche Triebfeder ihres Tuns gewesen war …

Und wieder hörte sie die klagende Stimme der Schwester: »Nella – warum hast du das getan?!«

Jetzt fand sie Worte. »Diese Frage könnte ich dir zurückgeben … Warum hast du fliehen wollen? Schande über uns alle bringen? – Sei froh, daß ich dich rechtzeitig zurückhielt … Hast du nicht an den Vater gedacht und – –«

Aber jetzt war Romana aufgesprungen. Glühenden Blicks stand sie vor Nella, die unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Mit vor Erregung zitternder Stimme sagte Romana: »Woher wußtest du, was Maurice und ich planten? – Hast uns nachgespäht – sag –«

Wieder hob Nella die schmalen Schultern. Es war an Romana sich zu rechtfertigen, nicht an ihr. »Ein Zufall hat mich zur Mitwisserin gemacht … Daß du ein unerlaubtes Spiel triebst mit dem Franzosen, das habe ich schon vorher geahnt. Dann aber sah ich dich ihm nacheilen in seine Stube – –« Und auf einmal legte sie die Maske der leidenschaftslosen Ruhe ab. Sie trat ganz nahe an Romana heran. »Zufall, sagte ich? – Nein – kein Zufall! – Ja, du sollst es wissen: ich durchschaute dich! Und an jenem Abend wollte und mußte ich hören, wie weit du wagen würdest, dich zu vergessen. Und den Heiligen Dank: ich kam noch zur rechten Zeit …«

»Lästere die Heiligen nicht!« Romana sprach es mit gepreßter Stimme. »Wenn du mich irren und straucheln sahst – wäre es da nicht deine Pflicht gewesen als Schwester, hervorzutreten und mich abzumahnen? – Aber du ließest mich meinen Weg gehen – bis es zu spät war …« Und auf einmal standen ihre Augen voll Tränen und ein unsagbares Weh schnürte ihr die Kehle zusammen. »Du – meine Schwester – der ich hold und gut war – und jetzt ist es mir, als wüßte ich es, daß du mich gehaßt – –«

»Dich hassen?« Leidenschaftlich rief es ihr jetzt Nella entgegen. »Vielleicht … Nein – nicht dich – aber das Geschick, das alles dir gab, immer nur dir: die Aussicht auf freies, buntes, schönes Jugendleben und mir die kahle Klosterzelle. Dir den größeren Teil der Liebe des Vaters, dir den Verlobten, dir die Lust der Liebe – – alles dir: und ich hätte dich ziehen lassen sollen und bescheiden zusehen – und dann vielleicht auch noch büßen für deine Schuld?!«

Sie standen sich gegenüber – fest die Blicke aufeinander geheftet. Dann wandte sich Romana ab. »Schuld … schweres Wort, das mich mahnt. Trag du die deine, wie ich die meine schleppen muß …« Und von einem plötzlichen Gedanken erfaßt: »Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe, daß meine Last nicht noch größer wird.«

Petronella erwiderte nichts. Stumm lehnte sie an der Wand neben ihrem Bett, der Schwester gegenüber, die das Gesicht in den Händen verborgen hielt. Eine Weile verstrich in Schweigen – dann sagte Nella, ganz leise, kaum hörbar: »Es weiß niemand etwas im Haus … Pranck und ich haben dafür gesorgt. Du kannst ruhig sein.« Und als Romana keine Antwort gab: »Nur – der Vater fragt immer nach Roxheim – hat ihm auch schon geschrieben.«

Da sah Romana auf. »Auch ich werde ihm schreiben.«

Die große Ruhe eines Entschlusses war jäh über sie gekommen. Verwundert sah Petronella in ihr vergrämtes Gesicht, das jetzt sich mit seltsamem Ausdruck ihr zuwandte: »Ich will versuchen, Nella – ob ich dir vergeben kann.«

Kein Wort weiter. Auch Petronella wagte keine Erwiderung. Sie löschte das Licht. Im Dunklen war jede der beiden mit ihrem wild bewegten Herzen ganz allein …

.

Dann, am Morgen, war es das erstemal seit ihrer Krankheit, daß Romana sich in ihres Vaters Gemach begab, um ihn zu begrüßen und nach seinem Befinden zu fragen.

Herr von Tann hatte sich etwas erholt. Aber immer wieder betonte der Arzt, daß jede Aufregung zu vermeiden sei, damit kein Rückfall eintrete. Nun – die schlimmen Tage seien ja jetzt vorüber, es gehe dem Frühling entgegen, und hoffentlich werde der Ratsherr bald wieder gänzlich hergestellt sein.

Nun saß Romana neben seinem Lehnstuhl und hielt seine alte, welke Hand in ihren schmalen Fingern. Der Vater kam immer wieder auf Roxheim zurück: Er wundere sich, daß dieser noch nicht zu Besuch gekommen sei. Freilich – es mag sein, daß dringende Geschäfte ihn bis jetzt abgehalten haben. Er freue sich schon gar sehr, den Verlobten der Tochter wieder in seinem Hause begrüßen zu können.

Mit unsagbaren Empfindungen hörte Romana diese Reden des Vaters an. Jetzt mußte Roxheim wohl ihren Brief in Händen halten. Würde er kommen? – Oder würde er nicht mehr kommen, irgend etwas schreiben, Anklage beim Vater wider sie erheben? – Angstvoll schlug ihr Herz bei diesem Gedanken …

Nella stand beim Fenster, sah auf die Gasse hinab. Auf einmal wandte sie sich und verließ rasch das Gemach. Man hörte die Torklingel läuten. »Kommt Besuch?« fragte Herr von Tann.

Nein – nichts regte sich im Flur. Alles blieb still. Aber dann ging die Türe leise auf – Nella stand auf der Schwelle und winkte Romana. »Komm!« flüsterte sie fast unhörbar. Romana erhob sich.

»Nella will mich etwas fragen, Vater,« sagte sie. Tann nickte. »Ist gut, Kind! – Aber komm bald wieder zu mir. Ich – ich habe dich jetzt lange genug entbehren müssen.« –

Draußen vor dem Zimmer stand Nella. »Roxheim ist da,« sagte sie. Weiter kein Wort. Romanas Herz setzte für einen Augenblick lang aus. –

Sie wandte sich dem Besuchszimmer zu. »Bleib in der Nähe – bis ich dich rufe,« sagte sie. »Ich – ich werde dich brauchen …«

Mit einem sonderbaren Gefühl, halb Erwartung, halb Angst, blieb Petronella zurück.


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