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Der Tag der Beschießung war im Hause Tann wirklich ein Tag des Schreckens gewesen, wie es der alte Johann Kersaint geklagt hatte. Der alte Ratsherr litt doppelt darunter, daß er krank war und nicht nach dem Rechten sehen konnte. Immer wieder sandte er Johann oder einen der anderen Diener auf Kundschaft aus, um zu erfahren, was in der Stadt vorging. Aber nur ungern gehorchten die Burschen; war es doch stellenweise gefährlich, sich auf der Straße aufzuhalten.
Als Eckhard von Tann erfuhr, daß es im Hause seines Freundes und Gevatters Payrhuber großen Jammer gebe, weil eine Bombe eingeschlagen habe und ziemlichen Schaden angerichtet habe, erregte er sich schon sehr. Dann kamen die Nachrichten über die Verwüstung, die im Karmeliterkloster herrschte – und als Schlimmstes: der Brand in den Vorstädten. Der alte Herr fand keine Ruhe im Bett – immer wieder ließ er sich herausbringen, und saß im Lehnstuhl, fiebernd und mit unruhig schlagendem Herzen. Dann stellte sich auch die Atemnot wieder ein und angstvoll mühten sich die Töchter um den leidenden Vater.
Und dabei pfiffen und heulten immer wieder Geschoße aus den Batterien auf dem Kapuzinerberg über die Altstadt hin.
Petronella bewies in diesen Stunden eine seltsame Kaltblütigkeit. Es war, als ob das furchtbare Geschehen sie von ihren eigenen schlimmen Gedanken ablenke und zur Ruhe brachte. Aber Romana vermochte es kaum mehr, ihre Angst und Seelenpein zu verbergen. Der kleine Pariser Nicolas, Kersaints Reitknecht, war am Nachmittag heimgekommen, hinkend mit verbundenem Bein. Ludmilla und Barbara hatten ihn barmherzig in Pflege genommen. Und er erzählte, wie sein Herr auf dem kugelumschwirrten Turm des Klosters Auslug gehalten habe, und wie dann die Bombe hineingeplatzt sei ins Refektorium. Gottlob, der Herr Vicomte war heil und gesund und auch Herr von Pranck hatte nur ein gänzlich verpflastertes Gesicht abbekommen …
Mit all diesen Neuigkeiten war die Zofe, die froh war, wenn sie etwas zu berichten hatte, zu ihren jungen Herrinnen geeilt. Romana stand gerade im Schatten eines großen Schrankes, dem sie ein wärmendes Tuch für den Vater entnahm – sonst hätte man gesehen, wie sie schneebleich wurde und sich mit den Händen halten mußte, um nicht zu taumeln. Maurice in solchen Gefahren – und nicht einmal ein letztes Abschiednehmen war ihnen gegönnt gewesen … Die Stadt in Flammen – unsere armen Herzen in Flammen – dachte sie in hilfloser Qual … O guter Gott – wie wird das enden?!
Petronella war das Erbleichen der Schwester nicht entgangen, aber Tann und die Zofe hatten nichts bemerkt. Aber als nun Romana wieder neben dem Lehnsessel des Vaters kniete, und das warme Tuch um seine Füße schlang, da sah es der alte Kaufherr, wie vergrämt und verängstigt sein Kind aussah, wie tiefe Schatten um die goldbraunen Augen lagen und die feinen Hände zitterten und bebten.
»Du bist in schwerer Sorge, meine Tochter –« sagte er freundlich, »aber du solltest dich zu fassen versuchen! Ich begreife es ja, daß du um deinen Verlobten Angst leidest. Aber ich meine, Kind, daß er mit seinen Husaren an einer weniger gefahrvollen Stelle der Belagerungstruppen steht – und im übrigen steht er in Gottes Hand, wie wir alle! Und mir sagt es eine innere Stimme: wir werden eher als wir es glauben, unsern wackern Roxheim wiedersehen – geschmückt mit dem Ehrenkranze des Siegers!«
Romana neigte das Haupt tiefer zu Boden und ordnete etwas an der Umhüllung des Kranken, um zu verbergen, wie ihr bei diesen Worten das Blut in die Wangen schoß. Ach – wenn der Vater ahnte, um wen sie Sorge und Kummer litt! Dann erhob sie sich und nahm ihr Gebetbüchlein zur Hand – beten wenigstens durfte sie für den Geliebten – das konnte ihr niemand wehren …
So gingen die langen, bangen Stunden dieses schicksalsschweren Tages hin. Als die Finsternis dem Feuer der Geschütze ein Ende bereitet hatte, ging ein Aufatmen der Erleichterung durch die gequälte Stadt. Es waren auch Gerüchte durchgesickert von dem Übergabeangebot des Generals – und heimlich hofften die Linzer, daß sie bald befreit sein würden von Feindesbesatzung, Belagerung und anderen Kriegsnöten. Auch der alte Tann beruhigte sich wieder und verlangte zu Bett gebracht zu werden. Und er befahl den Töchtern, sich zur Ruhe zu begeben – er fühle sich besser und außerdem werde Barbara bei ihm bleiben. »Ich will, daß ihr ruhig in eurem Zimmer die Nacht verbringt –« sagte er ihnen. »Es wird mir eine Erleichterung sein, wenn ich das weiß …« Und die beiden Mädchen küßten seine Hände und gehorchten.
Gerade, als sie das Zimmer verlassen hatten, trafen sie im Flur mit Pranck zusammen. Und der bayrische Freiherr wußte Wichtiges zu berichten.
»Ich glaube, meine Damen –« sagte er, »Sie werden uns bald los sein! Unser General verhandelt mit dem Herzog … Vielleicht stehen wir vor entscheidenden Ereignissen. Mein Freund Kersaint ist unter den Parlamentären, die der General zu den Königlichen geschickt hat …«
Prancks Gesicht war kreuz und quer mit Pflastern bedeckt, weil er bei dem Bombeneinschlag von herumspritzenden Mauersplittern arg zerkratzt worden war. Er sah sehr müde aus und empfahl sich bei den Damen, um sein Zimmer aufzusuchen. Er war fest davon überzeugt, daß es zur Übergabe der Stadt kommen werde – und begann bereits seine Sachen zu packen, wobei er eine Melodie vor sich hinsummte. Es war ein Lied, das mit den Worten begann: »Morgen marschieren wir …«
Romana und Petronella gingen in ihr Zimmer. Auszukleiden wagten sie sich nicht – wer konnte wissen, welch unvorhergesehene Ereignisse kommen würden? Nella kauerte sich auf ihr Lager hin – aber sie konnte keinen Schlummer finden. Jetzt, in der Dunkelheit und Stille, kamen wieder alle ihre wühlenden Gedanken über sie. Draußen auf der Gasse wurde es auf einmal lebendig: man hörte viele Stimmen, eilige Schritte – es ging gegen das Landhaus zu.
»Hörst du's, Roma?« fragte Nella leise. Aber die Schwester, die in einem tiefen Lehnsessel neben ihrem Bett, nahe beim Fenster saß, gab keine Antwort. Sie stellte sich schlafend, um mit ihren Gedanken allein sein zu können.
Romana lauschte und wartete. Wenn Kersaint, wie Pranck erzählt hatte, einer der Parlamentäre gewesen war, dann mußte er ja gesichert wieder in die Stadt zurückkehren können. Und dann würde er vielleicht wieder hieher zurückkommen – wenn auch nur für kurze Frist. Diesen Augenblick mußte sie abpassen: vielleicht war der Himmel gnädig und schenkte ihr und dem Geliebten ein letztes Lebewohl – einen letzten Blick, ein letztes liebes Wort. Und so wartete Romana, frierend und einsam im Dunkel ihres Gemachs. Sie hörte die Schwester kaum atmen. Nella lag in leichtem Halbschlummer, aber ebenfalls in angespannter Erwartung. Sie hätte nicht zu sagen gewußt, worauf – aber es war ihr, als versäume sie etwas, wenn sie sich dem Schlummer hingäbe …
Dann schlug die Landhausuhr die zweite Morgenstunde – und kurz darauf ward es wieder lebendig in den Gassen der Altstadt. Romana lauschte: kam da nicht ein Schritt zum Tor, erklang nicht die Klingel? Ja – Johann öffnete – das vernahm sie deutlich. Ihr Herz schlug so rasend schnell, daß sie kaum atmen konnte: wie, wenn es Maurice wäre, den eben jetzt der Alte eingelassen hatte?! –
Und plötzlich war wieder jenes Unhemmbare in ihr, das sie in jener Nacht in Kersaints Arme geworfen hatte … Leise und vorsichtig erhob sie sich, glitt zur Türe – einen Blick zurück auf Nella: die schlief – –
Mit größter Vorsicht öffnete Romana die Türe und lugte durch den schmalen Spalt in den von einem Öllämpchen matt erhellten Flur, aus dem ihr eisige Kälte entgegenströmte. Aber in brausender Glut strömte ihr das Blut zum Herzen: an der Mündung der Treppe eine hohe schlanke Gestalt – er – – Maurice …
Es riß sie zu ihm hin, wie damals … Mit weitausgebreiteten Armen umfing er sie. Und zwischen wilden Küssen stammelte er in ihr Gesicht hinein: »Ich muß allein mit dir reden – sogleich – es leidet keinen Aufschub … Gute Kunde bringe ich – o Romana, Bienaimée – – vielleicht, wenn du Mut hast – alles wird noch gut werden – –« Und sie loslassend: »Aber nicht hier – hier sind wir nicht sicher – – komm – komm!« Und rasch wandte er sich der Treppe ins Obergeschoß zu, ihr mit beschwörender Handbewegung winkend: folge mir!
Und Romana überlegte nicht mehr. Ihm nach! Nella schläft …
Aber Petronella schlief nicht …
*
Auch sie war gerade wieder erwacht und hatte das Öffnen der Haustüre vernommen, gerade wie Romana. Aber als sie unwillkürlich die Augen öffnete, sah sie die Schwester sich erheben, zur Türe gleiten, diese öffnen – und dann hinaustreten. Wie ein Blitz schlug es in Nellas Gedanken ein: jetzt trifft sie sich mit ihm!
Schon war auch sie bei der Türe – Romana hatte diese nicht geschlossen, und so konnte Nella gerade noch sehen, wie die Schwester rasch die Treppe empor eilte. Und vor ihr, undeutlich nur sichtbar, eine Männergestalt …
Petronella wußte jetzt genug. Nun war auch sie mit ein paar Schritten am Fuße der Treppe – lauschte um sich – oben fiel leise eine Tür ins Schloß. Jetzt nur rasch nach, auf ihren Lauscherposten! Wie gut, daß ihr der Zufall damals, als sie den Pelzmantel suchte, diesen hatte entdecken lassen!
Im Obergeschoß war es ganz still. Wie ein Wiesel schlich Petronella an die Türe neben dem Zimmer des Vicomte. Es gelang ihr geräuschlos zu öffnen – jetzt war sie neben dem Schrank – mit vor Frost bebenden Fingern tastete sie nach dem kleinen Schlüssel an ihrem Halse – – der Schrank öffnete sich und sie schlüpfte hinein. Da war der Spalt in der Rückwand: sie drückte ihr glühendes Gesicht an das kalte Holz – und nun – –
»Ich danke dir, du Einzige!« hörte sie jetzt Kersaint sagen, »daß du zu mir gekommen bist. Höre: wenn du Mut hast, so brauchen wir uns nie mehr zu trennen …«
Petronella strengte sich an, um zu sehen. Die Sprechenden standen ganz nahe, neben der Wand, hinter welcher sich der Schrank befand; so konnte die Lauschende jedes Wort hören, das erregte Atmen des Mannes, das leise Rauschen von Romanas Kleid – aber nicht das Geringste sehen.
»Die Stadt ist dem Herzog übergeben,« sagte jetzt der Vicomte, rasch, wie einer, der atemlos einem Ziele zueilt. »Wir haben freien Abzug bewilligt erhalten. Um sechs Uhr des Morgens müssen wir alle über die Brücke abziehen, über die Donau – nach Bayern, wohin wir wollen: wir sind frei – nur unter der einen Bedingung, ein Jahr lang nicht mehr gegen eure Königin zu kämpfen … Und nun Romana, hast du Mut – willst du mit mir gehen?«
»Mit dir – Maurice – –« Romana stammelte es fassungslos. Man hörte, wie sie ein paar Schritte machte – jetzt stand sie genau dem Spalt im Schrank gegenüber und Petronella konnte sehen, wie Kersaint ihre Hände hielt und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Und dazwischen sprach er:
»Es ist alles wohl überlegt von mir … Du mußt nur wollen, Romana! – Sag – willst du mit mir gehen – ist deine Liebe so groß, wie die meine? Das Geschick bietet uns eine Möglichkeit, uns zu vereinen – aber rasch, rasch müssen wir sein – kostbar ist jede Minute … Sprich, Romana: soll ich von dir scheiden oder bist du bereit, dich mir anzuvertrauen?«
»Ich gehe mit dir, Maurice – bis ans Ende der Welt –« leise jauchzend klang Romanas Stimme. »Aber wie kann das möglich werden?«
»O Romana – Romana –« wieder riß er sie in seine Arme. Aber dann rasch, stoßweise, sagte er es ihr: »Ich habe hier Kleider meines Nicole – sie werden dir passen, er ist ein zierlicher Bursch – mir ganz ergeben – nichts brauchst du von ihm zu fürchten … Wer wird darnach fragen, ob ich einen oder zwei Diener bei mir habe? – Du gehst mit mir – über die Brücke – in die Freiheit – nimm ein wenig Kleider mit, nur so viele, daß du dich bei erster Gelegenheit wieder in eine Dame verwandeln kannst. Bis Passau sind es nur sechs Posten – auch am andern Ufer der Donau wird sich für uns Fahrgelegenheit finden … Sind wir auf bayrischem Boden, so sind wir geborgen. Ich schwöre es dir, Romana: der erste Priester, bei dem wir Rast machen können, soll uns ehelich verbinden – – Und dann kehren wir heim ins schöne Frankreich – auf mein Schloß in der Bretagne … Tief wie das Meer, unendlich wie das Meer – so wird unsere Liebe, unser Glück sein …«
Romana hing an seinen Blicken und erbebte unter seinen Worten. Auch die Lauscherin überlief es. Was würde die Schwester nun sagen? Das – das war doch nicht möglich – das konnte doch nicht sein – –
Es war nur ein kurzer Augenblick des Zögerns und Zagens – aber jetzt vernahm Petronella wieder die Stimme der Schwester. Ganz klar und fest klang sie, durchzittert vom selben Rausch der Leidenschaft, wie die des Mannes, der ihre Hände hielt und bebend vor Erwartung in ihr schönes Antlitz starrte …
»Maurice – mein Maurice – wie kann ich von dir lassen? – Ich habe mich dir gegeben – ich nehme mich nicht zurück … Mag alles so sein, wie du sagst – – Mein armer Vater – o verzeih deinem Kind – aber ich kann nicht anders – mags Sünde sein – ich kann nicht mehr zurück … Sag, Maurice: was soll ich jetzt tun? Ich bin zu allem bereit …«
»Meine Romana …« Er hatte sie an sich gerissen – aber rasch faßte er sich. Ein paar Schritte von ihr weg, zur Kommode, deren Lade er herauszog. Petronella sah deutlich sein glückstrahlendes Gesicht – starr sah sie hin, in einem Wirrnis von Gefühlen, über die sie sich selbst keine Rechenschaft zu geben vermochte …
»Hier sind Nicoles Sonntagskleider –« sagte jetzt Kersaint. »Und hier mein Reisemantel. Da – eine Pelzmütze … – Und hier – ein Mantelsack, für das Nötigste, das du auf unserer Reise brauchen wirst. Ich suche jetzt meinen Burschen und sage ihm Bescheid – er ist treu wie Gold, mir unbedingt ergeben – auf ihn, den Erprobten, können wir uns blind verlassen … Aber –« von einem jähen Einfall bewegt, stockte seine Rede: »Und deine Schwester? – Wird sie dein Verschwinden bemerken? Und wenn – wird sie nicht Alarm schlagen? – Was dann?«
Romana dachte kurz nach. Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust. Es war alles so schwer, so unerwartet: Abschied vom Vater, von der Heimat, von der Schwester – – aber alles wollte sie tragen – für Maurice …
Auf einmal kam ein tollkühner Wagemut über sie, eine Bereitschaft zu jeder Gefahr … »Nella schläft gut und fest –« sagte sie dann. »Sie ist eine Langschläferin – wenn ich sie nicht wecke, wird sie nicht so bald sich erheben – besonders nach dem Kummer und den Erregungen des gestrigen Tages …« Sie hängte sich an Kersaints Arm und sah ihn zärtlich an. »Ach Maurice – wie hab ich gestern um dich gebangt und gelitten – – Geh jetzt – gib deinem Nicole die nötigen Befehle – und dann komm und hole mich: in einer Viertelstunde bin ich bereit!« –
Kersaint klinkte behutsam die Tür auf: Nella hörte ihn rasch, aber vorsichtig, die Treppe hinabgehen. Sie war wie gelähmt. Jetzt sollte sie eigentlich ihr Versteck verlassen, vor die Schwester hintreten, diesen Plan vereiteln. Das wäre ihre Pflicht gewesen … Warum tat sie es nicht – Nein – sie würde es nicht tun – nicht aus Liebe zur Schwester, nicht aus Mitempfinden mit deren Herzensnot, sondern aus einem unklaren Trieb heraus, der mächtig in ihr war …
Ein höhnisches Lächeln entstellte ihr bleiches, übernächtiges Gesicht, als sie nun, wie festgebannt, hinüberstarrte in das Gemach, in dem die Schwester sich umkleidete. Du bist sicher vor mir – dachte sie – ich werde dich nicht verraten – jetzt nicht … Vorderhand hast du nichts von mir zu fürchten … Aber ich will es versuchen, daß ich es so wende, daß deine Tat für mich zum Vorteil werden mag …
Jetzt war Romana fertig, in der dunklen Livree eines Reitknechtes stand sie da, schlank und schmal. Das kastanienbraune Gelock umwand sie mit einem Tuch, zog die Pelzmütze darüber. Ihre Kleider rasch in den Mantelsack gestopft, den Kersaint für sie zurechtgelegt hatte. Nun noch den weiten Mantel umgeworfen, den Kragen hochgeschlagen, und niemand hätte in diesem Burschen, der so vermummt und ein wenig unsicher dastand, die schöne Romana von Tann wiedererkannt …
Und da war auch Kersaint wieder. Er beugte sich zu ihr nieder und umfing sie zu einem langen Kusse … An seiner Hand wendete sie sich der Türe zu. Und da konnte sie es nicht hindern, daß sich ihre Augen plötzlich mit bitteren Tränen füllten – –
»Nicht weinen, Herz meines Herzens –« flüsterte Kersaint. »Die Liebe eines ganzen Lebens wird dir diese Stunde lohnen … Aber jetzt rasch, rasch!«
Die Tür schloß sich hinter ihnen. Im nämlichen Augenblick war Petronella aus dem Schrank – stand da, die geballten Fäuste ans Herz gepreßt … Die Ehrlose! Die Pflichtvergessene! Alles nimmt sie sich: die Liebe, die Lust und das freie Leben – – und ihr soll nichts bleiben als des Klosters trübes Leben, das Entsagen?! –
Sie wartete eine Weile. Bis sie wieder die Türe gehen hörte. Und die Stimme des alten Johann tönte deutlich durch das stille schlafende Haus an ihr angestrengt lauschendes Ohr herauf: »Gott befohlen, Herr Vicomte! Viel Glück auf den Weg!« Der gute Alte freute sich über die paar Goldstücke, die Kersaint ihm in die Hand gedrückt hatte.
Nella lief in Kersaints Stube, riß das Fenster auf. Es war zu dunkel, als daß sie mehr sehen konnte, als drei Schatten, die eben um die Ecke bogen, und im Ungewissen der scheidenden Nacht ihren Blicken entschwanden: ein größerer Schatten und knapp hinter ihm zwei kleinere. – –
Jetzt waren sie fort. Und was würde sie jetzt tun? –
Leise verschloß Nella Kersaints Stube. Ein rosenrotes Band, das aus den Locken der Schwester gefallen war, lag auf dem Treppenabsatz: Nella stieß es verächtlich von sich als sie die Stufen hinabstieg …
Jetzt war sie in ihrem gemeinsamen Zimmer. Von jetzt an würde alles anders sein …
Sie setzte sich an den Tisch, verschränkte die Hände vor der Stirne und dachte nach. Immer klarer stand es fest bei ihr: Roxheim mußte erfahren, daß Romana geflohen war … Dann würde er wohl mit seiner Braut nicht mehr viel Freude haben! Ich wäre ihm eine treuere Verlobte gewesen – dachte Nella … Wer wer hat je an mich gedacht?! –
Nein – die Stadt durfte Romana mit ihrem Geliebten nicht verlassen! Aber es sollte auch kein Skandal werden – kein öffentliches Ärgernis … Unbedingt mußte sie mit Roxheim sprechen. Unsinniger, unausführbarer Gedanke … Wie sollte sie das bewerkstelligen? Vielleicht weilte er schon hier in der Stadt – aber wie ihn finden? Selbst konnte sie nicht gehen – aber wem konnte sie eine solche Botschaft anvertrauen? –
Die Unruhe litt sie nicht länger in ihrem Zimmer. Sie stand auf, fühlte dabei, wie steifgefroren ihre Glieder waren von der Kälte, die sie auf ihrem Spionageposten im Schrank zuerst gar nicht empfunden hatte. Rasch warf sie einen schwarzen Samtmantel über, hüllte sich in die Kapuze. Dann sperrte sie sorgfältig das Zimmer zu. Vorderhand durfte niemand nach Romana suchen.
Sie würde zu Barbara und Ludmilla gehen und sagen, die Schwester habe heftige Kopfschmerzen und wolle nicht gestört sein … Aber das war nicht das Eigentliche, was zu geschehen hatte. Um Gott – da schlug die Uhr auf dem Landhausturm die fünfte Morgenstunde … Ratlos stand Nella da, die Hände verkrampft … Noch eine Stunde – und das Tor der Freiheit tat sich für die Liebenden auf … Und sie blieb zurück – und mußte dann vielleicht doppelt büßen – auch für der Schwesters Schuld – –
Und in diesem Augenblick öffnete sich die Türe von Prancks Zimmer, das auf das andere Ende des Flurs mündete, und der Freiherr stand auf der Schwelle. Er war reisefertig. Hinter ihm stand sein Diener, der allerlei Gepäck trug.
Pranck sah überrascht auf Petronella. Daß die junge Dame zu so früher Morgenstunde hier allein im Flur stand, offensichtlich zum Ausgehen gerüstet, überraschte ihn. Aber dann näherte er sich höflich; nun konnte er ihr gleich seine Abschiedsgrüße auftragen.
»Es hat sich viel ereignet seit dem gestrigen Abend –« sagte er. »Wir räumen die Stadt, haben freien Abzug erhalten. Gegen drei Uhr ist bereits österreichisches Militär eingerückt – ich sah Grüne Husaren einreiten, als ich vom General wegging. Auch der Bräutigam Ihrer Schwester war darunter – wenn ich nicht irre, hörte ich den Namen Roxheim – – Sie werden also heute einen Tag des frohen Wiedersehens haben … Nehmen Sie nochmals allen Dank für die viele Güte, die Sie uns Feinden –« er lächelte ein wenig, »erwiesen haben, empfehlen Sie mich Ihrer Schwester und besonders Ihrem Herrn Vater, den ich so aufrichtig schätzen gelernt habe … Möge er bald genesen! – Und nun gestatten Sie, daß ich –«
Er kam nicht weiter. Mit flammenden Blicken, die großen schwarzen Augen weit geöffnet, streckte Nella die Hände nach ihm aus. »Roxheim – sagten Sie?« stammelte sie. »Meiner Schwester Verlobter … Er ist hier – in der Nahe?« –
Was erregt sie so? dachte Pranck. »Der Freiherr dürfte, wenn ich nicht irre, sich bei jener Husarenabteilung befinden, die das Schloß und das Wassertor besetzt halten –« sagte er dann. Er verneigte sich: »Gestatten Sie, daß ich mich empfehle: um sechs Uhr ist allgemeiner Abmarsch.«
Er wollte mit einer leichten Verbeugung an ihr vorbei – aber Nella vertrat ihm den Weg. Eiskalte Entschlossenheit war plötzlich in ihr. Jetzt wußte sie, was sie tun mußte! Romana darf nicht fort – aber ebensowenig darf sie Roxheim heiraten – – Daß ihr Pranck in den Weg lief, das war ein Wink des Himmels – oder der Hölle …
»Herr von Pranck –« sagte sie leise, aber fest und sicher. »Wenn Sie wirklich etwas wie Wertschätzung für meinen Vater empfinden, so ist jetzt der Augenblick gekommen, wo Sie es beweisen können … Aber höchste Eile tut not. Wollen Sie einen Brief an Herrn von Roxheim übermitteln – aber es müßte sofort sein? Merken Sie wohl: sofort!« Und da er sie verwundert anstarrte: »Es hängt die Ehre unserer Familie daran … Ich kann von unseren Leuten niemand mit dieser Botschaft betrauen – und diese würden auch nicht bis zu dem Freiherrn gelangen … Sie allein können helfen. Ich flehe Sie an – –«
Jetzt wurde Pranck sehr ernst. Was war da vorgegangen? – Gehorsam folgte er Nella, die ihn zu seinem Zimmer zog und mit ihm eintrat. Ihr Blick fiel auf das Tintenfaß und einen Bogen Papier auf dem Tisch; gut, daß alles, was sie brauchte, so schnell zur Hand war, dachte sie. Sie beugte sich über den Tisch und schrieb im Stehen – in höchster Hast … Pranck sah ihr zu.
Während sie schrieb, sprach sie in flehendem Ton auf ihn ein. »Herr von Pranck – es handelt sich um etwas, das Roxheim sofort wissen muß … Wenn er es nicht erfährt, kommt schreckliches Unheil über uns alle – –« Sie wußte nicht mehr, was sie sagen sollte, da Pranck noch immer stumm dastand. So – nun faltete sie den Brief zusammen – er war beendet; sie überlas ihn noch einmal: »Lambert, meine Schwester verläßt mit einem Verführer jetzt in dieser Morgenstunde die Stadt. Sie ist verkleidet als Reitknecht und der sie dem Vaterhaus entreißen will, ist der Vicomte de Kersaint. Retten Sie – helfen Sie, damit mein armer alter Vater nicht an dieser Schmach den Tod finden muß. Er weiß noch von nichts. Der Zufall ließ mich erst heute von diesem Plan erfahren. In höchster Eile ruft Sie nochmals an – Ihre Petronella.«
Sie verschloß hastig den Brief – auch Siegelwachs war zur Hand – so hastig, daß der glühende rote Lack auf ihre Finger tropfte. Sie merkte den Schmerz nicht, so erregt war sie. Und nun stand sie mit dem Brief in der Hand vor Pranck. Dem war unbehaglich zu Mute.
»Rasch – ich bitte Sie!« drängte Petronella. Wie die Minuten dahinflogen – wer weiß, wo Roxheim jetzt war, wer weiß, ob Pranck ihn noch fand …
»Wenn ich Ihren Wunsch erfülle –« sagte nun Pranck, »so ist es wohl nicht unbescheiden, wenn ich wissen möchte, worin diese so wichtige Angelegenheit besteht. Ich bin Offizier – ich möchte nicht gerne meine Hand bei etwas im Spiele haben, das – –«
Sie unterbrach ihn und warf den Kopf zurück. »Was meinen Sie?« sagte sie ungeduldig. Blitzschnell überlegte sie: war er Mitwisser, so war alle Mühe vergebens: er würde dem Freund zuhalten. Aber wenn er nichts wußte – wie würde er sich dann stellen?
Gleichviel – es gab kein Zurück mehr. Sie mußte offen sein. »Können Sie von mir glauben, daß ich Sie um etwas bäte, das sich nicht mit Ihrer Ehre als Edelmann vertrüge?« sagte sie, bittend zu ihm aufschauend. »Gerade deshalb … Hören Sie und beklagen Sie mich: meine Schwester ist den Verführungskünsten des Vicomte erlegen – er will sie entführen. Als sein Diener verkleidet geht sie mit ihm – jetzt, in dieser Stunde … Und sie ist Roxheims Braut. Soll meinem armen Vater dieser Gram das Herz brechen?« Und sie legte die Hand auf seinen Arm. »Ich beschwöre Sie, bringen Sie diese Zeilen an den Freiherrn … Vielleicht können wir die Verirrte noch retten … Vielleicht läßt sich alles noch schweigend abmachen.«
Pranck war erschüttert. Daß zwischen Romana und Kersaint irgend ein Liebeshandel vor sich gegangen war, davon war Benno seit einiger Zeit überzeugt gewesen. Aber er hatte an ein heiteres Spiel gedacht, ein galantes Intermezzo mit einem schönen Mädchen, wie es der Krieg manchmal mit sich bringt. Daß aber jetzt etwas so Ernstes, so Folgenschweres ans Licht trat, das bestürzte ihn. In diesem ehrbaren Hause solch lockeres Abenteuer – nein, das durfte nicht sein: Petronella hatte Recht!
Einen Moment schwankte er. Was würde Kersaint sagen, wenn er ihm in den Weg trat? – Wars nicht Verrat? – Aber nein – er war ja nicht ins Vertrauen gezogen worden, er hatte kein Versprechen gegeben und brach darum auch keins, wenn er nun Nellas mehr als berechtigter Bitte nachgab.
Er nahm ihr den Brief aus der Hand. Gern hätte er gewußt, wie das alles gekommen war – aber dazu war keine Zeit mehr … Er mußte sich eilen, wenn er Roxheim rasch finden wollte. Es würde jetzt, im allgemeinen Aufbruch, kein schlechter Wirrwarr sein in der Stadt!
»Ich werde Ihr Bote sein, Fräulein von Tann –« sagte er sehr ernst. »Und ich brauche Ihnen wohl nicht ausdrücklich zu versichern, daß ich, nun Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben, trachten werde, diese so betrübliche Angelegenheit mit aller möglichen Schonung und Diskretion zu erledigen … Ihrem ehrenfesten Herrn Vater, den ich so achten gelernt habe, zuliebe … Hoffen wir das Beste! –« Und sich verneigend: »Nochmals Dank für alle erwiesene Gastfreundschaft – und leben Sie wohl!« –
»Ich danke Ihnen!« Mehr konnte sie nicht sagen, so erregt war sie, wenn sie auch mit aller Selbstbeherrschung sich im Zügel hielt. Dann stand sie mit schlaff herabhängenden Armen da und sah dem rasch die Treppe hinabeilenden Offizier nach. Jetzt wars entschieden …
Ganz langsam ging sie hinab ins Erdgeschoß. Dort war die alte Barbara schon in der Küche tätig. Ludmilla saß bei ihr; sie besprachen die große Neuigkeit: daß jetzt die Bayern und Franzosen fortziehen müssen – und die Stadt wieder frei ist. Und sie waren von Herzen froh! Nur ganz heimlich war Ludmilla ein wenig leid um das bißchen Geplauder mit Nicole, dem lustigen kleinen Pariser … Gar so schnell war das gegangen – nicht einmal mehr Abschied hatte er von ihr genommen … Sie nahm sich vor, wenn es ihre Geschäfte heute erlaubten, sich einen Gang zu Meister Rolin zu machen, um ihre Neugierde und Plauderlust in einem Gespräch mit dem Altgesellen Franz, der immer so voll von Neuigkeiten steckte, zu befriedigen. –
»Barbara –« sagte Petronella zur Alten, die sie erstaunt ansah. So früh war Nella noch nie in der Küche gewesen. »Wenn der Vater nach mir fragen sollte, klopf leise an – Romana schläft, sie hat arg Kopfweh gehabt in der Nacht, ich habe ihr gesagt, sie soll nicht aufstehen, erst später – –«
Und die Alte nickte verständnisvoll: »Geh auch du wieder hinauf – Nellakind – siehst ganz verfroren aus …«
»Ja,« sagte Petronella. »Auch ich lege mich wieder hin … Es ist ja noch so früh.« Sie wandte sich zum Gehen und hörte noch, wie Ludmilla zu Barbara sagte: »Jetzt werden wir aber dann doch bald Hochzeit haben im Hause, wenn der Herr gesund ist und der Krieg vorbei …«
Nella stand in ihrem Zimmer – eine ganz seltsame Einsamkeit, wie in einem Sterbezimmer, war um sie her. Wie lange es im Winter dauert, bis es Tag wird, dachte sie. Ob Pranck schon bei Roxheim gewesen ist? Und was wird jetzt geschehen?
»Hochzeit wird nicht gehalten werden …« Sie hatte es vor sich hingesagt und erschrak nun vor dem Klang ihrer eigenen Stimme. Auf einmal sieht sie wieder der Schwester schönes Gesicht vor sich – aufgelöst in trunkener Leidenschaft …
Und da sagt ihr eine leise, aber unerbittliche Stimme: »Du Heuchlerin! – Neid hat dich getrieben zu dem, was du tatest … Du selber wärest ebenso der Versuchung unterlegen – –«
Aber Petronella lacht trotzig auf – und bringt die Stimme zum Schweigen. –