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In der guten Stube des Taschelbauers brannte in dem alten grünglasierten Kachelofen ein lustiges Feuer. In dem tiefen Großvaterstuhle neben seinem rasch aufgeschlagenen Feldbett saß Franz Stephan; auf einem Tisch neben ihm stand eine Reihe von leeren Flaschen, in deren Hälsen Kerzen steckten. Das Gemach war ziemlich hell; der Herzog schien sich aber dennoch nicht behaglich zu fühlen – trotz der Wärme des Raumes hatte er sich fest in seinen Pelzmantel gehüllt. Sein schönes Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck. Er dachte angestrengt nach.
Vor zwei Stunden waren die Abgesandten Segurs in sein Hauptquartier gekommen. Er hatte sie sogleich vor sich führen lassen. Geleitet vom alten Feldmarschall, traten die drei Herren vor den Gemahl der Königin. Und Khevenhiller stellte vor: »Königliche Hoheit – hier der Prinz de Tingry, Oberst im Generalstab – hier General Minucci und der Vicomte de Kersaint …« Die Abgesandten grüßten militärisch und verneigten sich nach höfischer Sitte. Sehr liebenswürdig blickte sie der Herzog an; unwillkürlich bediente er sich seiner Muttersprache, als er nun Tingry anredete:
»Sie sind Lothringer, Prinz?« Und als Tingry bejahte: »Ihr Name ist mir wohlbekannt vom Hofe meines Vaters her – – war nicht einer Ihrer Verwandten Kammerjunker in Nancy?«
»Es war mein Oheim –« sagte der Prinz. Und lebhaft meinte der Herzog: »Wir sind also Landsleute … Hoffentlich begegnen wir uns einmal bei einer erfreulicheren Gelegenheit …« Und jetzt wurde er sehr ernst: »Nun bitte ich Sie, meine Herren, mir die Übergabsbedingungen Ihres Generals mitzuteilen.«
Tingry sprach, Minucci und Kersaint bestätigten, als er geendet hatte, daß dies der Wortlaut von Segurs Vorschlag sei. »Freier Abzug …« murmelte der Herzog vor sich hin; dann schwieg er eine Weile. Endlich sagte er: »Ich bitte nun die Herren, mich für eine Weile zu verlassen, damit ich mich mit meinem Feldmarschall und den andern Generälen beraten kann.« Er neigte noch einmal höflich das Haupt, ihren ehrerbietigen Gruß erwidernd – und damit waren die Drei fürs erste entlassen.
Im Erdgeschoß des Bauernhofs wurden sie in die große Stube geführt, wo sonst harmlose Menschen nach schwerer Feldarbeit beisammen saßen und ihre Mahlzeiten einnahmen. Auf den langen Holzbänken um den Tisch saßen die Generäle und Obersten des Stabes; der Feldmarschall selber war nicht mehr anwesend, er hatte sich bereits wieder zum Herzog begeben.
Man wechselte hin und wieder ein paar Worte; eine gedrückte Stimmung lagerte über allen. Die Österreicher hätten gern rasch die Stadt im Sturm genommen, ohne langes Unterhandeln; sollte es denn vielleicht jetzt gar auf einen Waffenstillstand hinauslaufen? – Und die drei Franzosen bedachten, zu welch entsetzlichem Abschluß die Fortsetzung des Kampfes um diese Stadt führen würde, wenn der Herzog ihres Generals Bedingungen nicht annahm.
Droben saß der Herzog nun fast zwei Stunden mit Khevenhiller zusammen. Wortlos gab der hohe Herr dem alten Marschall jenen Brief, den ihm Tingry im Namen Segurs überreicht hatte. Nicht nur mündlich hatte er sich seiner Botschaft entledigt – auch Schriftliches war bereits da; wollte der Herzog, so konnte er unterzeichnen – und die Stadt würde ihm übergeben werden …
Khevenhiller hatte gelesen. Er sah seinen Gebieter an, bekam aber fürs erste keine Antwort. Khevenhiller wartete geduldig, bis endlich der Herzog aufsah und mit leichtem Beben der Ungeduld in der Stimme, sagte: »Nun – mein lieber Graf – Ihren Rat?«
Khevenhiller wußte, was sein Gebieter nun hören wollte … Als er am Nachmittag erfahren hatte, daß die Kroaten die Linzer Vorstädte in Brand gesteckt hatten, war der alte Feldherr nicht ganz zufrieden gewesen. Wenn Wind aufstand! Dann erobert man einen Aschenhaufen – und die Königin würde ihnen wenig Dank dafür wissen … Anderseits war des Herzogs Befehl und dessen prompte Ausführung durch Trenck bereits sehr wirkungsvoll gewesen; aber die Stadt war doch nicht so leicht zu nehmen, wie die Österreicher anfangs geglaubt hatten, das hatte Khevenhiller an diesem ersten Belagerungstage wohl gemerkt. Und die Besatzung war stärker, als man zuerst angenommen hatte. Morgen weiterstürmen? – Gewiß – es würde zum Erfolg führen, aber ziemliche Opfer kosten. Man konnte es billiger haben …
Khevenhiller sah den Herzog forschend an; und er begriff den jungen Fürsten. Der wollte jetzt beraten sein in dem Sinn, das Angebot Segurs anzunehmen. Dann konnte er vor seine Generäle treten, und sich großmütig, mild und zugleich vorsichtig zeigen, nachdem er am Tage vorher schneidig drauf los gegangen war … Es war ganz nach Khevenhillers Sinn, daß die Stadt nicht in Grund und Boden gestürmt wurde – aber nicht nach seinem Sinn war es, diese ziemlich beträchtliche und verhältnismäßig ungeschwächte Armee ruhig nach Bayern abrücken zu lassen. Damit Karl Albrecht, wenn er nun endlich Kaiser war, vielleicht wieder irgendwo Krieg anfing?! –
»Bevor ich Ihnen meinen Rat gebe, Königliche Hoheit –« sagte jetzt der alte Marschall, »möchte ich ergebenst um Ihre ganz persönliche Anschauung und Willensmeinung gebeten haben, mein gnädigster Herr!«
»Meine Willensmeinung? – Ich kann keine andere haben, als die meiner Gemahlin, der Königin.« Franz Stephan sagte es sehr lebhaft. »Ich weiß, daß sie die ihr nach Recht zu eigen gehörende Stadt wieder haben will – aber nicht als Trümmerhaufen und Brandstätte … Wir mußten unsere Macht zeigen – darum habe ich angeordnet, daß die Vorstädte in Brand gesteckt werden – aber unser Ziel, die Belagerten übergabsbereit zu machen, ist nun erreicht – und so meine ich, wir könnten Segurs Bedingungen annehmen!« Und fragend zu dem vor ihm stehenden Khevenhiller aufschauend: »Sind Sie nicht auch meiner Ansicht?«
»Sie treffen wie immer das Richtige, Königliche Hoheit –« sagte der Marschall. »Natürlich müssen gewisse Sicherheiten gefordert werden … Wenn wir die Besatzung abziehen lassen, so müssen wir uns sichern, daß dadurch die Kriegsfähigkeit des Kurfürsten keine Verstärkung erfährt. Ich werde sofort diesbezügliche Vorschläge ausarbeiten lassen und Euer Hoheit dann vorlegen … Dies wäre mein ergebenster Rat.«
»Ach ja, tun Sie das, mein lieber Marschall!« Franz Stephan sagte es mit sichtlicher Erleichterung. Er hatte sich als tapferen Herrn gezeigt, und jetzt konnte er rasch und glücklich den Krieg in diesem Lande beenden und die Stadt seiner Gemahlin zu Füßen legen. Ein Lächeln überflog seine schönen Züge, wenn er an seine blonde Königin dachte: wie würde sie ihn wieder mit Lob und Liebe überschütten … Und jetzt konnte er ja dann rasch zu ihr eilen – nach Wien! –
»Ich werde den Unterhändlern unsere Gegenbedingungen schriftlich mitgeben,« sagte Khevenhiller. »Segur muß sich diese Nacht noch entscheiden … Der Morgen muß uns in Linz einziehen sehen – als friedliche Sieger oder als unbarmherzige Eroberer.«
»Wenn Sie mit dem Schriftstück fertig sind,« sagte der Herzog, der sichtlich erleichtert war, daß auch der Feldmarschall seine Ansicht teilte, »dann führen Sie die drei Franzosen gleich wieder zu mir. Daß wir zu einem guten Ende kommen – –«
Khevenhiller ging und der Herzog wartete. Eine halbe Stunde verging – Mitternacht war nahe; da kamen die Unterhändler im Geleite des Grafen und zweier Offiziere, und ein Blick auf ihre Gesichter zeigte Franz Stephan, daß wenigstens diese drei Herren gewillt waren, auf die von ihm gestellten Bedingungen einzugehen.
»Wir nehmen an –« sagte hoheitsvoll der Herzog, mit jener unnachahmlichen Würde und Anmut, die ihm eigen war und die so vielen Eindruck auf alle machte, die mit ihm zu tun hatten. »Natürlich stellen auch wir unsere Gegenforderungen … Sie sind in diesem Schriftstück niedergelegt, das ich Sie beauftrage, dem General Segur zu übergeben.«
Khevenhiller übergab dem Herzog ein Schriftstück, dieser las es durch, nickte und verschloß es dann. Der Feldmarschall ging zum Tisch und versiegelte eigenhändig das Dokument.
»Mein allergnädigster Gebieter läßt Ihnen drei Stunden Frist zur Überlegung –« sagte er jetzt sehr ernst, indem er Tingry den Brief übergab. »Es ist das aber die allerletzte Frist. Unser gnädigster Herr wird kein weiteres Verhandeln und Hinzögern mehr dulden … Zwei unserer Offiziere –« er wies auf die beiden Herren, die mit ihm gekommen waren, »werden Sie jetzt in die Stadt zurückbegleiten, um uns nach drei Stunden Ihres Generals Antwort zu überbringen … Wir erwarten, daß sie eine bejahende sein wird – wir sind aufs äußerste entgegengekommen, weil wir es können, stark im Bewußtsein unseres guten Rechts! Linz wird morgen unser sein – so oder so!«
Kersaint hatte die beiden Herren, die ihnen mitgegeben wurden, sogleich wieder erkannt: der eine war jener Graf Gerani, der am Neujahrstag von Ebelsberg gekommen war, um die Übergabe der Stadt zu verlangen – und der andere war Lambert Roxheim. Wie seltsam! dachte der Vicomte, während er, nachdem sie sich vom Herzog und dem Feldmarschall empfohlen hatten, neben Roxheim hinter den drei anderen einherritt. Da treffe ich nun zum zweitenmal mit jenem Mann zusammen, dem Romana gehören soll – mit dem Sieger, dem Glücklichen – ich, der Geschlagene, Hoffnungslose … Mit einem flüchtigen Blick streifte er Roxheims Gesicht. Der ritt stumm dahin, den Kragen seines Husarenmantels hoch aufgeschlagen. An was er wohl denken mag? grübelte Kersaint. An Romana vielleicht? Und jählings stieg ein alles überflutender schmerzvoller Haß in ihm hoch … Um die geliebte Frau kämpfen dürfen – wie herrlich mußte das sein! Ihm war das verwehrt …
Es war viel kälter geworden; die Wolkenschicht, die den graudunklen Nachthimmel bedeckte, schien nicht mehr so dicht zu sein. Hie und da blitzte ein schwacher Sternenschimmer durch. Morgen um diese Zeit sind Romana und ich schon auf ewig von einander getrennt – dachte Kersaint. Hätte mich doch heute eine Kugel getroffen, als ich auf dem Turm auslugte. –
Sie waren rasch geritten; schon waren sie in der Vorstadt. Jetzt mußten sie die Pferde vorsichtig führen; überall lagen glimmende Balken quer über die Straße, in vielen Häuschen brannte es noch unter dem Schutt. Es war ein trostloser Anblick.
Nun waren sie am Ziel. Die Brücke, die über den Graben beim Landhaustor führte, wurde, nachdem Tingry das Losungswort gegeben hatte, herabgelassen; Pferdehufe dröhnten in der hohen gewölbten Einfahrt des Landhauses. Im Hof war alles hell von Fackeln, Wachen standen da – Offiziere kamen ihnen entgegen. Seltsam huschten die Schatten des Säulenganges vor ihnen hin, wie sie nun in den ersten Stock hinaufschritten, wo Segur seine Unterhändler in fieberhafter Spannung erwartete.
Der General las … Zuerst leise, dann laut. Dann sah er sich im Kreise um. »Sie haben also gehört, meine Herren, was man von uns verlangt. Ich wiederhole: sofortige Räumung des Schlosses und des Landhauses und Besetzung durch die Truppen des Herzogs. Abzug unserer gesamten Besatzung am Morgen ans linke Donauufer und Abmarsch nach Bayern, Rückgabe der niederösterreichischen Geiseln, die sofort freizulassen sind … Und als Wichtigstes: wir müssen uns feierlich und auf Ehrenwort verpflichten, während eines Jahres nicht mehr gegen die Königin zu streiten …« Er machte eine Pause – dann wandte er sich an seine Offiziere. »Sollen wir annehmen?«
Zuerst tiefes Schweigen – dann sprach Minucci: »Es sind billige Bedingungen – freier Abzug in Ehren, was wollen wir mehr? – Das Übrige, das wegen dem nicht mehr Kämpfen gegen die Königin, das muß unser Kurfürst ausmachen, wie er mag und kann …«
»Und Sie, Tingry?« wandte sich Segur fragend an den Oberst. Er schätzte den Prinzen als einen besonnenen Mann. Der zuckte die Achseln. »Wir müssen wohl annehmen – wenn es morgen nicht ein Blutbad geben soll – und ein nutzloses obendrein …«
»Gut!« Segur sprach es mit harter Stimme. Und zu Kersaint gewendet, der ihm zunächst stand: »Führen Sie, Herr Vicomte, die österreichischen Offiziere herein.«
Er war zu einem Tisch getreten, auf dem ein Schreibzeug stand. Sonst hatte es wohl der Erledigung friedsamer Aktenstücke gedient. Jetzt diente diese Feder der Besiegelung eines wichtigen Ereignisses, das tief in die Geschicke des Landes und jedes Einzelnen eingriff …
Segur unterschrieb – und reichte dann das von Khevenhiller vorbereitete Schriftstück dem inzwischen eingetretenen Grafen Gerani hin. »Wir haben die Bedingungen Ihres Herzogs angenommen!« sagte er gemessen und gefaßt. »Bitte, reiten Sie rasch zu ihm zurück –« er lächelte grimmig – »wir haben nicht drei Stunden zum Überlegen gebraucht …«
Man wechselte noch einige kurze und höfliche Redensarten, dann empfahlen sich Graf Gerani und Roxheim, um sich so rasch als möglich ihres Auftrages zu entledigen. Segur sah ihnen nach, wie sie über die Landhausbrücke trabten und dann in der dunklen Mündung der Herrengasse seinen Blicken entschwanden. Immer noch schwelte roter Schein über der Vorstadt. Die Uhr auf dem Turm des Landhauses holte zum Schlage aus – es war die zweite Morgenstunde.
Segur wandte sich ins Gemach zurück. »Diesen Tag, diesen 24. Jänner – den wird sich unser Kurfürst nicht gerade rot anstreichen im Kalender seiner Erinnerungen –« murmelte er vor sich hin. Und plötzlich kam ihm ein Einfall, der ihm wieder ein grimmiges Lächeln entlockte. Es wäre doch ein verteufelt sonderbares Zusammentreffen, wenn gerade heute Karl Albrecht in Frankfurt die Krone Deutschlands als Kaiser empfangen würde … Einen Krieg verloren, ein herrliches Land verspielt – war diese Krone dafür Ersatz?! –
Aber es blieb keine Zeit zu weiteren Gedanken. Rasch wandte er sich seinem Stabe zu. »Ich glaube, in einer Stunde längstens haben wir die Österreicher da … Gehen Sie jetzt in Ihre Quartiere, meine Herren und packen Sie Ihre Sachen zusammen. Um sechs Uhr früh muß unser ganzes Heer gestellt sein, um über die Brücke abzuziehen. Es geht heim – ins Bayerland … Die Episode Oberösterreich ist aus!« –
Der Saal leerte sich rasch. General Minucci eilte ins Schloß, um dort alles zum Abzug vorzubereiten. Viele der Offiziere trugen zufriedene Gesichter zur Schau – besonders die Bayern, die daheim Frauen und Kinder hatten. Nach Hause kommen dürfen, das war doch schöner, als irgendwo als Gefangener zurückgehalten zu werden … Und jene Soldaten, die unverwundet waren, fanden, daß dieser Krieg für sie eigentlich doch recht günstig ausgegangen sei …
Dann hörte man auf einmal das Herannahen einer größeren Reiterschar, taktmäßiges Marschieren und laute Rufe. Segur hatte Recht behalten: kaum eine Stunde war seit dem Abschluß der Verhandlungen verflossen – und schon waren die Österreicher da. Eine Wache von Kürassieren umstellte das Landhaus, Grenadiere besetzten das Schloß, die Grünen Husaren postierten sich an allen Stadttoren. Linz war in den Händen der Königin …
Aber der Herzog hatte ein Übriges getan: er hatte mit seinen Truppen auch jene Gefangenen mitgesendet, die nach dem mißlungenen Ausfall bei Ebelsberg in seine Hände gefallen waren. Der kleine gascognische Graf Comingo war darunter – und herzlich froh, daß er aus diesem unwirtlichen Winterland wieder heimkehren durfte in sein sonniges, schönes Frankreich. –
*
Mit glühenden Wangen, im Sturmschritt eilte Kersaint dem Hause Tann zu. Ein Gedanke, zuerst unfaßbar kühn scheinend, dann aber allmählich immer leichter zu verwirklichen, hatte von ihm Besitz ergriffen, als er die Bedingungen der Übergabe gehört hatte. Wie ein Wunder kam es ihm vor, daß sich nun für ihn und Romana die Erfüllung all ihrer Wünsche bot: Liebe, Freiheit – unermeßliches Glück – wenn sie beide nur ein wenig Mut hatten …
Er war bereit … Fieberhaft arbeitete sein Gehirn, um alle Einzelheiten seines Planes zu überlegen. Es mußte glücken! Aber würde sie, würde Romana, den nämlichen Mut aufbringen, wie er in ihm brannte, wie er ihm mit einem Schlag alle Frische und Lebenskraft zurückgab, die er in den letzten Wochen fast ganz verloren hatte?
Die Flamme seines Lebenswillens, seines Liebesverlangens loderte hoch empor. Jetzt mußte es sich zeigen, ob die Geliebte stark war, alles zu wagen, um das gemeinsame Glück zu erobern, festzuhalten … Ob ihre Liebe stark genug war, alles hinter sich zu lassen: Vater und Heimat – und mit ihm zu fliehen …
Mochte Roxheim einreiten in die Stadt, als Sieger in Stolz und Ehre – das Kostbarste in diesen Mauern würde er nicht in Besitz nehmen können: seine Braut! »Ich, der Besiegte, werde im letzten Augenblick den köstlichsten Siegespreis an mich nehmen – Romana, die Süßeste, Holdseligste …«
Alte bretonische Märchen fielen ihm ein, wie er sie in den Tagen seiner Kindheit von Schiffern und Landleuten erzählen gehört hatte: vom Sir Tristan und der Dame Yseult, die in heißer Minne eins geworden – und gemeinsam flohen vom Hofe des Königs, dem die Dame vermählt gewesen. Und wie sie dann in seliger Einsamkeit in einem Walde gelebt hatten – – Freilich, die alte Mär endete trübe und traurig – –
Kersaint hing diesem Gedanken nicht nach. Anders ist es jetzt, als in den alten Zeiten … Hat nicht der Himmel Wunder getan für ihn? Heute, auf dem Turm, umpfiffen von Geschoßen – dann bei dem Ritt durch die Vorstadt – ihm war nichts geschehen! Ein Zeichen wars, daß das Glück an seiner Seite stand. Nicht verwundet, nicht tot – und morgen ein freier Mann … Hinaus in die Welt, die geliebte Frau zur Seite – – Heim nach Frankreich, auf sein Schloß … O Romana – Romana – –
Aber je näher er dem Hause in der Altstadt kam, desto langsamer wurden seine Schritte. In seinen Überschwang mischte sich ruhigeres Überlegen. Daß er sofort, so rasch als möglich, Romana seinen Plan mitteilte: das war jetzt das Wichtigste. Und auf einmal war ihm weniger bange davor, daß sie nicht einwilligen könne mit ihm zu fliehen, als davor, ob er sie überhaupt würde sehen und sprechen können. Jetzt – mitten in der Nacht … Wie, wenn sie am Krankenlager des Vaters weilte? Dann war sie ihm unerreichbar – und die kostbaren, unwiederbringlichen Stunden verrannen ungenützt …
Das war die Probe auf sein gutes Glück: ob er sie jetzt, wenn er das Haus betrat, würde erreichen können. Es schien nahezu aussichtslos. Aber Kersaint war entschlossen, alles zu wagen. Irgend eine Ausflucht, ein Einfall würde sich finden – irgend ein gnädiger Zufall mußte zu Hilfe kommen … Genau so, wie damals, als er heimkehrend, unerwartet vor der stand, die ihn schon tot gewähnt hatte und die dann in seligster Überraschung in seine Arme gesunken war …
Jetzt zog er die Klingel am Hause Tann. Heiser und müd erklang ihre Stimme. Kersaint blickte himmelwärts – da stand ein heller Stern, blaß und fern, hoch über dem Hause. Die Wolken um ihn hatten sich zerteilt – der Stern ruhte in dem Dunkel, wie auf einer Insel im Wolkenmeere …
»Es soll uns ein Zeichen sein – dir und mir –« flüsterte Kersaint. »Stern der Hoffnung – Stern der Liebe – –«
Da wurde es lebendig im Hause. Tritte schlurften – knarrend tat sich das Tor auf: der alte Johann stand auf der Schwelle und ließ den Vicomte eintreten. Dann schloß er sorgsam wieder das Tor ab.
»Das war heute ein schrecklicher Tag!« hörte ihn Kersaint sagen. Aber er nahm sich nicht Zeit, sich auf ein Gespräch mit dem Alten einzulassen. Rasch wandte er sich der Treppe zu. Sein Herz schlug schwer und flatternd. Jetzt war der Augenblick der Entscheidung da …