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19. Kapitel. Wandervögel

So schnell Herbert auch sonst eine Strafe oder eine unangenehme Erinnerung abzuschütteln pflegte, diesmal wirkte das Erlebnis in der Saale nachhaltiger. Er tat sich jetzt nicht mehr unter den Schulkameraden hervor, nachdem er durch seine Prahlerei beinahe Schiffbruch erlitten hatte. Auch sein Leichtsinn und seine Tollkühnheit waren fürs erste gebändigt. Körperlich hatte ihm das Abenteuer nichts geschadet.

Um so mehr litt Suse noch nachträglich unter der furchtbaren Aufregung. Sie konnte sich gar nicht davon erholen. Sie sah nicht mehr so blühend aus, hatte keinen rechten Appetit und war nicht so freudig in der Schule und daheim wie vorher. Selbst die Tätigkeit bei ihren lieben Blumen stimmte sie nicht froher.

»Was ist das bloß jetzt mit unserm Suschen?« meinte die Mutter, kopfschüttelnd dem unlustig ihre rote Grütze löffelnden Töchterchen zuschauend. Sie machte sich Sorgen um das gänzlich veränderte Mädel. Ob man nicht mal den Arzt kommen ließ?

»Das Gymnasium ist zu anstrengend für unser Kind. Wozu muß es auch Latein und derartig unnützes Zeug in seinen kleinen Kopf hineintrichtern!« Das war die Meinung der Großmama.

Aber davon wollte Suse nichts hören.

»Omama, ich bin die Beste in Latein. Es strengt mich gar nicht an, weil ich schon viel aus dem Italienischen und von Herbert her kenne. Und es ist überhaupt fein in der Tertia.« Suses Gesicht färbte sich mit Röte. Ganz lebhaft war sie plötzlich.

Als die Kinder gesegnete Mahlzeit gewünscht hatten und mit Bubi in den Garten hinausgelaufen waren, nahm der Vater das Gespräch wieder auf. »Ihr müßt nicht soviel mit der Suse hermachen, Fränzchen«, wandte er sich zu seiner Frau. »Es ist ja ganz natürlich, daß Suses zartes Nervensystem die Aufregung, in die der Schlingel sie durch seinen Leichtsinn gestürzt hat, nicht so schnell verwindet. Ablenkung, körperliches Sichausarbeiten ist das beste Mittel dagegen. Wandern in frischer Luft und in unserer schönen Natur wird sie wieder froh machen und den Appetit anregen. Laß sie nur morgen mit auf die Jugendwanderung mit ihren Freundinnen und Herberts Kameraden. Als Wandervogel wird sie bald wieder fröhlich zwitschern.«

»Glaubst du das wirklich, Paul!« Seine Frau schien zweifelhaft. »Ich wollte Suschen eigentlich lieber zu Hause behalten, weil sie nicht so munter ist. Die Wandervögel machen anstrengende Märsche. Das Schlafen im Massenquartier ist auch nicht so ruhig wie im eigenen Bett – ich glaube, das Kind ist daheim besser aufgehoben.« Es kam nicht oft vor, daß die Eltern verschiedener Meinung waren.

»Die Sommerferien stehen ja vor der Tür. Fahrt dann lieber mit Suschen nach Kösen«, schlug die Großmama vor. »Das soll doch so ein gutes Kinderbad hier in der Nähe sein.«

»Bessere Luft als bei uns in Jena ist dort sicher auch nicht. Das wäre ja noch besser, wenn unsere Tochter ein Bad aufsuchen müßte. Ich kann nur immer wieder raten: Abhärten, nicht verweichlichen. Nur dadurch wird Suse kräftig werden.« Der Professor ging in sein Studierzimmer.

»Paul hat wohl recht, Mutter, wir sind zu ängstlich mit Suschen. Wenn sie Lust hat, mag sie morgen mit den Wandervögeln davonziehen. Hoffentlich tut es ihr gut.«

Ob Suse Lust hatte? Das wußte sie eigentlich selbst nicht. Aber Herbert hielt es für ganz selbstverständlich, daß sie mitkam. Da konnte sie unmöglich anderer Meinung sein als ihr Zwilling. Und was hätten wohl Helga und Inge dazu gesagt, wenn sie sich von der gemeinsamen Jugendwanderung, auf die man sich schon lange gefreut hatte, ausschloß? Nein, sie hatte ja eigentlich auch gar keinen Grund, zurückzubleiben. Unlustgefühle muß man überwinden, pflegte der Vater zu sagen.

Als sie nun am Sonnabendmittag in Gemeinschaft mit Herbert ihre Rucksäcke packte und die gute Mutter allerlei Überraschungen dazulegte, selbstgebackenen Kuchen, Schokolade und eine Blechbüchse mit herrlichen Kirschen, erwachte auch bei Suse die Vorfreude. Sie vergaß, daß ihr eigentlich in der Schule gar nicht gut zumute gewesen war, eigentlich recht übel. Sicher hatte sie sich ein bißchen den Magen verdorben. Das würde unterwegs schon vergehen.

Herberts Rucksack war schwer geladen. Stolz trug er darauf den Kochtopf. Denn er wollte durchaus seine Makkaroni selbst im Freien abkochen. Obgleich die Großmama in tausend Ängsten schwebte, daß es dabei einen Waldbrand geben könne.

»Also, wo geht nun die Wanderfahrt hin, ihr Wandervögel?« erkundigte sich der Professor, seinen Sprößlingen noch das notwendige Kleingeld für den Ausflug einhändigend.

»Zuerst über den Jenzig nach der Kunitzburg«, rief Herbert unternehmungslustig. »In Kunitz wird Nachtquartier gemacht. Wohin es Sonntag weitergeht, weiß ich noch nicht. Ein Obersekundaner, unser Leithammel, der die Umgegend genau kennt, hat die Tour zusammengestellt.« Der Tertianer schien ungeheure Hochachtung vor dem Obersekundaner zu haben.

»Nun, da bin ich ja begierig, wer den größten Eierkuchen in Kunitz erwischt. Der Eierkuchen dort ist weltberühmt«, sagte der Vater lächelnd. »Er ist so groß wie ein Wagenrad.«

»Au fein!« Herbert klopfte sich bereits den Magen, während Suse ein unbehagliches Gefühl hatte, wenn sie an den Eierkuchen dachte.

Die Mutter zog ihren Jungen noch beiseite. »Sei lieb und rücksichtsvoll mit Suse, Herbert. Sorge für sie, daß sie sich nicht zu sehr anstrengt«, schärfte sie ihm ein.

»Ich bringe das Marzipanpüppchen gesund wieder«, lachte der Sohn.

Und dann zogen Professors Zwillinge mit Windjacke und Rucksack auf die Wanderschaft. Bubi schien der Unternehmungslustigste von den dreien.

Aus den Fenstern des Sternenhauses winkten die Eltern, die Großmama, Frau Annchen und Minna ihnen noch nach, bis sie den Berg hinunter waren.

»Fandest du nicht, daß unser Kind heute besonders blaß war, Fränzchen?« fragte die zurückbleibende Großmama ihre Schwiegertochter.

»Das neue grüne Dirndlkleid macht Suse vielleicht etwas blasser«, lautete die Antwort. Frau Professor Winter hatte selbst schon die Wahrnehmung gemacht, daß Suse heute besonders schlecht aussah. Hätte sie doch nicht ihre Einwilligung zu der Jugendwanderung geben sollen?

Inzwischen hatten Professors Zwillinge den Treffpunkt St. Michael auf der Saalebrücke erreicht. Eine stattliche Schar Wandervögel, Jungen und Mädel, hatte sich bereits dort eingefunden. Mit lautem Hallo wurden die Winterschen Geschwister begrüßt. Sie waren allgemein beliebt. Suse ihres netten, bescheidenen Wesens wegen und Herbert, weil er ein Spaßmacher war und außerdem ein guter Kamerad.

Helga und Inge nahmen Suse in die Mitte, stimmten ihre Zupfgeigen, und mit »Blimm – blimm« zogen die Wandervögel davon – vorbei an dem historischen Gasthof zur Tanne, in dem 1815 die deutsche Burschenschaft gegründet wurde und dessen Erker Goethe »die liebe Zinne« benannt hatte, eingedenk der schönen Sonnentage, die er dort verlebte. Am erlenumbuschten Saaleufer entlang erklang es aus jungen Kehlen:

»An der Saale hellem Strande
Stehen Burgen, stolz und kühn,
Ihre Dächer sind zerfallen,
Und der Wind streicht durch die Hallen,
Wolken ziehen drüber hin.«

Aber eine Stimme, die sich sonst wie eine Lerche so hell über die andern hinausschwang, blieb heute stumm. Suse sang nicht mit im munteren Chor. Still zog sie zwischen den im Winde lustig flatternden bunten Lautenbändern der Freundinnen dahin.

Das Schillerkirchlein grüßte am Wege, in dem Schiller im Jahre 1790 mit seiner Charlotte getraut wurde.

»Pass' auf, Suse, jetzt kommen wir gleich zum ›Erlkönig‹«, machte Helga die Freundin aufmerksam. »Kennst du das Denkmal schon?«

Suse schüttelte den Kopf. Das Wort »Erlkönig« legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Sie hatten das Goethesche Gedicht kürzlich in der Tertia durchgenommen und gelernt. Die Fieberphantasien, die Angst des todkranken Kindes, die darin zum Ausdruck kommt, hatten auf das empfängliche Mädchen tiefen Eindruck gemacht.

Suse packte plötzlich Inges Arm. Aus Erlengebüsch ragte vor einer Felswand eine riesengroße Statue in die Luft – der Erlkönig. Entsetztere Augen konnte selbst das sterbende Kind in dem Goetheschen Gedicht nicht beim Erscheinen des Erlkönigs gemacht haben, als Suse.

»Ist dir was, Suschen?« erkundigte sich Inge. »Du bist so bleich und hast so kalte Hände.«

»Nein, mir ist ganz warm«, versicherte Suse. »Nur – nur der Erlkönig ist so schaurig.« Sie zog die Freundinnen mit fort.

»Du bist und bleibst doch ein Angsthäschen«, lachte Helga sie aus. »Jetzt hat die Suse schon Furcht vor dem steinernen Erlkönig.«

Wirklich, der Erlkönig verfolgte heute die Suse. Sie konnte sich nicht davon frei machen.

»Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?« –
»Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Krone und Schweif?«
»Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.«

Das Gedicht wollte ihr nicht aus dem Sinn, während die Buben und Mädel nach den Klängen »Das Wandern ist des Müllers Lust« rüstig marschierten.

Suse wurde das Gehen heute recht sauer. Die Sonne brannte trotz des Nachmittags noch recht heiß. Die Wandergefährten schienen den steilen Aufstieg zum Jenzig gar nicht zu empfinden. Lachend, schwatzend, miteinander scherzend, stiegen sie leichtfüßig den Berg hinauf. Suse blieb zurück. Sie fühlte beim Steigen ein schmerzhaftes Stechen in der rechten Seite.

Inge blieb stehen und erwartete die Nachzüglerin. »Ei, Suse, schon müde?« fragte sie. »Komm nur, komm, wir werden oben eine herrliche Aussicht haben.«

Suse nahm sich zusammen. Herbert sollte nicht merken, daß sie zurückblieb. Sonst nannte er sie wieder »Marzipanpüppchen«, schämte sich am Ende vor den Kameraden seines wanderuntüchtigen Zwillings. Es war ja auch so herrlich hier oben. Der Buchenwald wölbte sich wie ein lichtgrüner Dom über ihren Häuptern. Die Vöglein in den Zweigen jubilierten mit den Wandervögeln um die Wette. Warum war nur sie nicht froh mit den Fröhlichen? Warum stimmte sie nicht ein in die lustigen Schnadahüpfel zur Laute:

»Da drunten an der Saale, wo die Weiden sich biegen.
Da hau'n sich zwei Kahlköpfe, daß die Haare so fliegen.
Holladii, holladio, holladihopsassa, holladio.

Und weiß ist die Unschuld, und weiß ist der Schnee,
Und weiß sind die Puppen in der Siegesallee.
Holladii, holladio, holladihopsassa, holladio.

Ich steh' auf der Brücke und spuck' in den Kahn,
Da freut sich die Spucke, daß sie Kahn fahren kann.
Holladii, holladio, holladihopsassa, holladio.

Warum tragen die Damen ein Hündchen auf dem Schoß?
Na, das ist ja ganz klar – ein Elefant wär' zu groß!
Holladii, holladio, holladihopsassa, holladio.«

So und noch in vielen andern Schnadahüpfeln klang es ausgelassen durch den grünen Wald.

»Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düsteren Ort?«

Warum mußte Suse bloß bei den übermütigen Schnadahüpfeln an das graulige Gedicht denken? Eiskalt überlief es sie, und dabei brannte ihr die Stirn wie Feuer.

»Na, endlich angelangt? Ich wollte dir eben ein Flugzeug entgegenschicken«, so empfing ihr Zwilling sie oben auf der Bergeshöhe lachend. »Kommst du nicht heute, kommst du morgen«, neckte er. »Halte dich dran, Suse, sonst kriegst du keine Kirschen mehr.« Er hatte bereits seinen Rucksack geöffnet und schmauste neben dem schönmachenden Bubi tapfer drauflos.

Auch die übrigen Wandervögel hatten sich im Grünen niedergelassen und füllten sich die Schnäbel.

Ach ja, Kirschen. Die würden nach dem heißen Aufstieg erquicken. Suse war die Kehle ganz ausgetrocknet. Aber selbst die herrlichen Kirschen wollten nicht so recht rutschen. Herbert hatte ihr Ohrringe, leuchtende Kirschenzwillinge, an jedes Ohr gehängt. Aber Suse mochte sie nicht essen. Kaum hatte sie einen Blick für Bubi, der mit erwartungsvollen Augen das Schinkenbrot, das Suse in der Hand hielt, verfolgte. All die andern Jungen und Mädel hatten Bubi an ihrem Mahl teilnehmen lassen. Suse dachte nicht daran. Dabei schien sie das leckere Brot gar nicht selber verzehren zu wollen. Sie wickelte es wieder ein und es verschwand in dem Rucksack, den Bubi gar nicht leiden konnte, weil er die herrlichsten Dinge in sich schloß und doch meist in unerreichbarer Höhe über ihm auf dem Rücken seiner jungen Freunde hin und her tanzte.

Was wurde denn nun? Bubi setzte sich in Positur und spitzte die Ohren. Ah, Volkstänze führten die Jungen und Mädel auf – wirklich allerliebst. Einige spielten Laute, die andern sangen und drehten sich im munteren Kreise.

Professors Zwillinge, die zum ersten Male die Jugendwanderung mitmachten, schauten zu. Auch aus dem Gasthaus hatte sich Publikum auf dem grünen Wiesenplan eingefunden, das seine Freude an dem ausgelassenen jungen Volk hatte.

»Du, Suse, diese Reigen müssen wir auch lernen« – Herbert stand nun mal nicht gern hinter den andern zurück –, »Inge und Helga können sie uns beibringen.«

Suse nickte stumm. Sie hatte nicht mal Freude an den hübschen Tänzen und Liedern.

»Du« –, Herbert stieß seinen Zwilling, nachdem er die Suse ein Weilchen betrachtet hatte, an, »du, was habe ich dir eigentlich getan?«

»Du hast mir doch gar nichts getan, Herbert, bloß – –«

»Na, warum knurrst du denn dann mit mir?«

»Ich knurre doch gar nicht, bloß – – –«

»Doch, du bist verknurrt.« Damit ließ Herbert seinen verknurrten Zwilling sitzen und mischte sich unter die fröhlichen Kameraden.

Suse blickte hinab ins liebliche Saaletal. Wie ein silbernes Band wand sich die Saale durch das saftige Grün der Wiesen und Waldberge. Wie Kinderspielzeug bauten sich die Häuser von Jena dort unten am Bergeshang auf. Welches mochte das Sternenhaus sein? Das rote Ziegeldach mußte man unter den vielen Schieferdächern doch herauserkennen. Dort – dort drüben das braune Häuschen, das mußte es sein. Suse glaubte, die Sternbilder im blauen Gesims, die das Haus schmückten, zu erkennen. Ach, wäre sie doch jetzt dort unten bei ihrer Mutti. Dann wäre ihr sicher nicht so schlecht zumute. Ganz verlassen kam sich Suse unter all den fröhlichen Gefährten vor. Trotzdem Bubi neben ihr saß und sie aus klugen Hundeaugen prüfend musterte.

Der Obersekundaner blies als Leithammel zum Aufbruch. Man wollte noch vor Dunkelheit über das Hufeisen die Kunitzburg erreichen. Die Wandervögel schnallten ihre Rucksäcke auf und flatterten davon. Herrlich marschierte es sich in den leuchtenden Sommerabend hinein. In loderndes Feuer getaucht war Berg und Tal.

»Goldne Abendsonne,
Wie bist du so schön,
Nie kann ohne Wonne
Deinen Glanz ich sehn«,

erklang es aus wanderfrohen Kehlen. Da stimmte auch Suse mit ein in das helle Gezwitscher der Wandervögel. Plötzlich mitten im Ton brach sie jäh ab. Ein heftiger Schmerz im Leibe machte sie verstummen. Sie blieb stehen und preßte die Hände gegen die schmerzende Seite. Sie hatte doch gar nicht zuviel Kirschen gegessen.

Die andern hatten ihr Zurückbleiben nicht bemerkt. Die Martinschen Zwillinge mußten mit ihren Zupfgeigen als Wanderkapelle Schritt halten. Und Herbert war stets allen voran. Nur Bubi, der sonst nicht von der Seite seines jungen Herrn wich, war bei Suse geblieben, als wüßte das treue Tier, daß es jetzt ihr einziger Schutz sei. Aufmunternd wedelte er mit dem Schwänzchen, sprang voran, kam wieder zurück, als wollte er ihr Mut zum Weitergehen machen.

Suse klopfte zärtlich sein glattes schwarzes Fell. »Du bist besser zu mir als ich zu dir, Bubi«, sagte sie beschämt. »Ich jage dich immer aus meiner Stube raus.«

Der heftige Schmerz hatte nachgelassen. In Gemeinschaft mit Bubi folgte Suse etwas langsamer den voranziehenden Kameraden. Aber rechte Freude hatte sie nicht an dem herrlichen Höhenweg, der immer neue bezaubernde Ausblicke erschloß. Und sie war doch sonst so begeistert von der schönen Natur. Nicht einmal nach den bunten Blumen am Wege mochte sie sich bücken und sie zum Strauß zusammenwinden, wie sie es sonst so gern tat. Im Buchenwald war es schon recht dämmerig, nur in den obersten Wipfeln lag noch Sonnengold. Die Vögel flogen zu Nest. Aber die Wandervögel jubilierten noch. Ihr Sang wies Suse die Richtung:

»Du mein Jena, dein gedenk' ich.
Nimmermehr vergesst ich dein!
In der Ferne will ich lauschen,
Traute Saale, deinem Rauschen,
Möcht an deinen Ufern sein!«

Hell schallte es durch den Buchenwald zu der nachfolgenden Suse zurück.

Wartete denn keiner auf sie? Nicht die Freundinnen, nicht mal ihr Zwilling? War das Tier wirklich treuer als die Menschen?

Als ob Bubi ihre Gedanken erraten hatte, setzte er sich plötzlich in Trab und galoppierte hinter den in ziemlicher Entfernung Voranmarschierenden her.

Was – verließ sie auch ihr letzter Schutz und Freund? War sie ganz allein in dem unheimlichen Wald? Rauschte es nicht in den Bäumen, knackte es nicht in den Ästen?

»Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind,
In dürren Blättern säuselt der Wind.«

O Gott, schon wieder das Erlkönig-Gedicht! Suse fürchtete sich entsetzlich. Mit bangen Augen starrte sie in die grüne Wildnis, als könne ihr dort jeden Augenblick der Erlkönig erscheinen. Nur weiter, nur nicht stehenbleiben, so schwer ihr Kopf und Beine auch waren, daß sie die Vorangehenden nicht aus den Augen verlor.

Inzwischen hatte Bubi seinen jungen Herrn erreicht. Herbert marschierte an der Spitze des Zuges tapfer drauflos und sang aus voller Kehle. Er fand die Jugendwanderung famos.

Bubi sprang an dem Tertianer empor. Der klopfte pflichtgemäß sein Fell und ließ sich im Singen nicht weiter stören. Bubi stellte sich dem Wandernden in den Weg – der Junge sah den Vierfüßler mißbilligend an. Was hatte denn das Hundevieh? Es war ja heute aus Rand und Band.

Auch Bubi blickte Herbert mißbilligend an. Hatte der Junge denn das Versprechen, das er der Mutter beim Abschied gegeben, ganz vergessen? Dachte er denn gar nicht daran, sich um seine Suse zu kümmern?

Nein, Herbert glaubte die Schwester bei den Freundinnen, und diese wiederum dachten, sie ginge mit dem Bruder. Man eilte, um mit einbrechender Nacht ins Quartier zu kommen.

Da machte Bubi kurzen Prozeß. Er schnappte nach Herberts Windjacke und hielt ihn mit den Zähnen zurück. Dabei begann er laut zu miefen.

»Nanu, Hundetöle, was hast du denn?« Irgend etwas stimmte da nicht, so viel wurde Herbert, der sich auf die Sprache seines vierfüßigen Freundes verstand, nun doch klar.

Der Hund ließ ihn los, stieß ein kurzes aufforderndes Bellen aus, lief ein paar Schritte zurück, sah sich um, als wartete er, daß der Junge ihm folge.

Was, zurückgehen sollte er? Wo der Eierkuchen in Kunitz winkte?

Aber vielleicht war irgend etwas mit Suse nicht in Ordnung. Bubi gebärdete sich doch so merkwürdig. Und auch Suse war merkwürdig gewesen auf dem Jenzig, gar nicht richtig vergnügt. Plötzlich fiel dem Jungen sein Versprechen schwer auf das Herz. Wie hatte er es gehalten? Vorangetrabt war er mit den Gefährten, ohne sich nach der Schwester umzusehen. Und die Mutter hatte ihn doch noch ganz besonders gebeten, rücksichtsvoll mit Suse zu sein.

Er überflog die Reihen der Vorbeimarschierenden. Nirgends Suses braunes, weichgelocktes Haar, nirgends leuchtete ihr grünes Dirndlkleid. Da waren Helga und Inge. Sie schüttelten bei Herberts Frage nach Suse erschreckt den Kopf, daß die hellblonden Zöpfe flogen. War Suse denn nicht bei ihm gewesen?

Bubi lief immer weiter den Weg, den man eben gekommen, zurück und sah sich um, ob Herbert auch nachkäme. Kein Zweifel, Suse war nicht bei dem Trupp, sie war zurückgeblieben.

»Geht nur ruhig weiter und verwahrt uns Eierkuchen«, sagte Herbert, leichtsinnig wie er nun mal war, zu den Schwestern, die mit ihm umkehren wollten. »Das Marzipanpüppchen hat nicht Schritt gehalten. Es hat sich sicherlich irgendwo ausgeruht.«

Aber die Freundinnen mochten davon nichts hören. Sie hatten selbst das bedrückende Gefühl, sich nicht genügend um Suse gekümmert zu haben. Daran waren nur die Zupfgeigen schuld. Sie kehrten alle beide mit Herbert um, Bubi voran mit frohlockendem Gebell.

Was – noch weiter ging es? Ordentlich unheimlich war es schon im Walde. Konnte Suse wirklich so weit zurückgeblieben sein?

Da schrie es plötzlich gellend vor ihnen im Waldesdunkel auf. Auch die drei stießen einen Schrei aus, wenn sie auch schon Tertianer waren. Bubi aber stand blaffend zwischen ihnen, und sein Bellen hörte sich an, als ob er die dummen Menschen auslache.

Herbert, als Mann, nahm allen Mut zusammen. »Suse?« rief er fragend in das Dunkel hinein.

»Herbert?« kam die Stimme seines Zwillings angstvoll von irgendwoher. Und da kauerte die Suse an einem Buchenstamm und hielt sich beide Augen zu.

Die Freundinnen lachten befreit auf. »Na, da haben wir dich ja glücklich erwischt, Suse. Warum jagst du uns denn bloß solchen Schreck ein?«

»Ich glaubte, ihr seid – ich dachte, es wäre – – –«, stammelte Suse.

»Sicher der Schwarze Mann«, zog sie Herbert auf. »Das Wickelkind fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann.«

»Nein, aber vor dem Erlkönig.« Suse traute sich gar nicht das Wort laut auszusprechen. Scheu blickte sie in das Dickicht.

»Vor wem?« Die drei machten nicht gerade schlaue Gesichter.

»Ach, nichts«, sagte Suse und wischte sich, wie aus einem Traum erwachend, über die brennende Stirn.

»Willst du hier übernachten?« erkundigte sich Herbert. »Komm, der Eierkuchen wird kalt.«

Suse erhob sich. Aber mit einem unterdrückten Wehlaut sank sie wieder zurück. »Mein Bauch tut mir so weh«, jammerte sie.

»Himmelmohrenelement, sei nicht so zimperlich, Suse. Um ein bißchen Leibweh hast du dich so. Hättest nicht soviel Kirschen essen sollen.« Herbert wollte nun endlich nach Kunitz zu dem berühmten Eierkuchen. Am Ende futterten die andern ihnen alles auf.

Inge und Helga stützten die Freundin. Ein paar Schritte ging es. Dann aber stöhnte Suse wieder auf.

»Wir machen einen Teufelsknoten aus unsern Händen, Herbert, und tragen Suse«, schlug Inge vor.

»Laß mich,« sagte Helga, »ich bin stärker als du, Inge.«

Aber Suse wollte sich nicht tragen lassen. Es würde schon gehen. Sie biß die Zähne zusammen, damit ihnen kein Schmerzenslaut entschlüpfen sollte. So ging es langsam voran.

»Das Marzipanpüppchen muß doch immer Spielverderber sein«, sagte Herbert, dem es nicht schnell genug ging, ungehalten. »Da hättest du wirklich lieber zu Hause bleiben sollen.«

»Ach, wäre ich nur zu Hause geblieben, wäre ich nur bei meiner Mutti!« rief Suse, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten.

»Pfui, Herbert, wie häßlich von dir«, rief Inge aufgebracht. »Du siehst doch, daß die arme Suse Schmerzen hat.«

»Wird wohl nicht so schlimm sein«, murrte der Junge, im Innern doch etwas beschämt. »Vater sagt auch immer, Suse soll nicht so wehleidig sein. Ich verderbe mir auch manchmal den Magen. Deshalb stirbt man nicht gleich.«

Zur Besichtigung der Kunitzburg war es heute abend zu spät geworden. Aus dem Dorf leuchteten bereits Lichter auf, als die kleine Karawane in Kunitz anlangte. Suse stützte sich schwer auf die Freundinnen. Herbert war vorangelaufen, um die Eierkuchen zu bestellen.

Nun bin ich nur begierig, dachte er, ob die Suse trotz ihres verdorbenen Magens Eierkuchen essen wird.

Ach, der armen Suse war nicht nach Eierkuchen zumute. Gottsjämmerlich war ihr, daß sie nur den Wunsch hatte, sich hinzulegen. In einem großen Raum waren für die Mädel Matratzen und Decken auf der Erde ausgebreitet, während die Jungen es sich auf dem Heuboden bequem machen sollten.

Suse wälzte sich im Halbschlaf auf ihrem Matratzenlager, während die andern schmausten. Oh, läge sie doch jetzt daheim in ihrem Bette. Da würde ihr Mutti kalte Kompressen auf die heiße Stirn machen und sie liebevoll trösten. Ihren Zwilling kümmerte es nicht, daß sie so elend war, der dachte nur an seinen Eierkuchen.

Nein, Herbert wollte der berühmte Eierkuchen gar nicht munden, trotzdem er den allergrößten erwischt hatte. Er würgte an jedem Bissen, und daran war nur der Obersekundaner schuld. Der hatte auf des Tertianers Mitteilung, daß seine Schwester sich nicht wohl fühle, geäußert: »Na, hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«

Schlimmes? Daran hatte Herbert in seinem Leichtsinn überhaupt noch nicht gedacht, daß es auch etwas Schlimmes sein könne. Ach was, Suse hatte ja bald mal was. Sicher war sie morgen früh wieder quietschfidel.

Doch noch ehe der Eierkuchen zu Ende gegessen war, schlich sich Herbert von Tische. Er hatte jetzt keine Ruhe mehr. Er mußte nach seiner Schwester sehen. Gar nicht nett war er zu ihr gewesen, um ihr die Wehleidigkeit abzugewöhnen. Aber wenn es nun doch etwas Schlimmes war?

Suse wälzte sich im Halbschlaf auf der Matratze.

»Suse, hast du noch Schmerzen?« fragte es da liebevoll neben ihr.

Das fiebernde Mädchen öffnete mit Anstrengung die Augen. Die Augenlider waren ihr schwer.

Herbert war bei ihr. Herbert war lieb zu ihr. Er strich ihr über die Stirn wie Mutti.

»Ein bißchen heiß bist du ja, aber das kann auch von der Sonne sein. Wo tut's dir denn weh, Suse?« forschte der Junge.

»Der Schmerz ist etwas besser, bloß übel ist mir noch.«

»Siehst du, nur verdorbener Magen«, frohlockte Herbert erleichtert. »Morgen ist alles wieder gut.« Und er strich der Schwester noch mal über das Haar, zärtlicher, als es sonst seine Tertianerwürde zuließ.

Durch die Luken des Heubodens glitzerten und funkelten die Sterne herein. Herbert kannte viele von ihnen vom Vater und vom Planetarium her. Er erklärte sie den Kameraden und war stolz darauf, daß er besser am Himmel Bescheid wußte als sie.

»Dort seht ihr die Zwillinge, die beiden Sterne stehen immer dicht zusammen«, erklärte er. Dabei durchfuhr es ihn: Er hatte heute nicht so treu zu seinem Zwilling gehalten.

Die Jungen gähnten, und Herbert beendete ebenfalls gähnend seinen Vortrag. Fast schon im Einschlafen dachte er noch: »Wenn morgen bloß meine Suse wieder gesund ist!« Und dann schnarchte er mit den andern um die Wette.

Suse aber fuhr immer wieder aus unruhigem Fiebertraum empor. Einmal schrie sie laut auf – der Erlkönig hatte sie gepackt. Es war aber nur Inge, welche die sich neben ihr unruhig wälzende Suse beruhigend an den Arm faßte: »Hast du Schmerzen, Suschen?«

Als die Wandervögel in aller Herrgottsfrühe aus dem Nest flogen, um sich am Brunnen zu waschen, vermochte Suse nicht aufzustehen. Es war ihr immer noch entsetzlich übel zumute. Auch der Leib schmerzte arg.

Die Freundinnen riefen voller Sorge den Bruder herbei.

»Morgen, Suse. Wie geht es dir? Willst du nicht aufstehen? In einer halben Stunde wollen wir nach Tautenburg aufbrechen, vorher noch die Kunitzburg besichtigen. Du wirst doch mitgehen können?« erkundigte sich Herbert.

Suse sah ihren Zwilling an, als ob er chinesisch spräche. Kein Wort schien sie von dem, was er zu ihr sagte, verstanden zu haben. Trotzdem sie ihn anblickte, schien sie ihn nicht zu erkennen.

Jäher Schreck durchzuckte den Jungen – um Gottes willen, was war mit seiner Suse? Suse war krank, sehr krank, das konnte sich Herbert bei all seinem Leichtsinn nicht verhehlen. Was nun? Zum erstenmal in seinem Leben stand der Tertianer ratlos da.

»Wir müssen sehen, daß wir einen Wagen bekommen, damit Suse nach Hause kommt«, sagte Helga, die praktischere von den Schwestern. »Ihr müßt so schnell wie möglich einen Arzt haben, weil sie so dolle Schmerzen im Leib hat.«

»Hoffentlich ist es keine Blinddarmentzündung«, sagte einer der Tertianer zu Herbert. »Meine Schwester mußte dabei operiert werden.«

Herberts Herz setzte vor Schreck beinahe aus. Blinddarm – operiert – die beiden Worte kreisten im Hirn des Jungen. Er konnte nichts anderes denken. Und dabei hatte er eben noch ein leises Bedauern gespürt, daß er die Jugendwanderung nicht weiter mitmachen konnte. Denn allein durfte er die kranke Schwester doch nicht heimfahren lassen.

Der sonst so tatkräftige Junge war vor Angst und Sorge wie gelähmt. Wie oft hatte er sich über Suse lustig gemacht, wenn sie sich geängstigt oder gesorgt hatte. Jetzt vermochte er keine Entschlüsse zu treffen.

Der Obersekundaner bat den Wirt, einen Leiterwagen anspannen zu lassen. Darauf wurde weiches Heu gebreitet und die kranke Suse sanft hineingebettet. Herbert deckte sie mit seiner Jacke zu. Bubi schmiegte sich an ihre Seite, um sie zu wärmen, als wisse er, daß sie trotz der Sommerwärme von Fieberschauern geschüttelt wurde.

Ohne ein Wort der gegenseitigen Verständigung nahmen die Martinschen Zwillinge mit auf dem Leiterwagen Platz. Beiden erschien es undenkbar, daß sie die Wanderfahrt weiter mitmachen sollten, während sich die Freundin in Schmerzen wälzte.

Mit erschreckten Augen und ernsten Gesichtern standen die übrigen Wandervögel da, schauten sie dem davonratternden Leiterwagen nach. Inge und Helga, die getreuen, hielten auf jeder Seite eine Hand Suses. Herbert hätte seinem Zwilling gern die Schmerzen abgenommen. Er empfand Suses Stöhnen qualvoller, als wenn er selbst Schmerzen erduldet hätte. Wie würden die Eltern, wie würde die Großmama erschrecken, wenn er ihnen die Suse so heimbrachte.

Die Landstraße war holperig, der Wagen rüttelte arg. Suse stöhnte bei jedem Stoß. So fuhren sie in den goldenen Sonntagmorgen hinein.


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