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Wo war nur die vierte Klasse? Suse hatte keine Ahnung, wo sie sein mochte. Schüchternheit hielt sie davon ab, sich bei einer der Schülerinnen danach zu erkundigen. Sie wartete, daß man sie ansprach.
Das geschah natürlich nicht. Jeder hatte mit sich selbst zu tun, jeder eilte, in seine Klasse zu kommen, denn die Schulglocke, welche die Säumigen rief, erklang bereits.
Da entschloß sich Suse kurz. Herzklopfend ging sie in die erste beste Klasse. Vielleicht hatte sie Glück. Vielleicht war es die vierte Klasse.
Es schien nicht so. Die Schülerinnen waren kleiner als sie. Neugierig wie ein Wundertier starrten einige sechzig Kinderaugen sie an.
Am liebsten wäre Suse gleich wieder hinausgelaufen. Aber es war schon zu spät. Eine Lehrerin hatte die Klasse bereits betreten. Sie legte ein Pack Hefte auf das Katheder und begann sie zurückzugeben und zum Teil durchzusprechen. Suse merkte allmählich, daß es sich um ein vor den Oktoberferien geschriebenes Diktat handelte, in dem die Kinder die Mehrzahl von Einzahlworten bilden sollten. Da kamen drollige Dinge zutage: Der Spitz – die Spitzen – nein, waren die Kinder noch dumm.
»Trudchen, wie heißt die Mehrzahl von Arm?« fragte die Lehrerin. Trudchen antwortete prompt, wie sie es auch in ihrem Heft geschrieben hatte: »Die Arme.«
»Aber Trude, sagst du denn: die Arme? Wie heißt es?« fuhr die Lehrerin fort. »Na, sag' du ihr's, Lenchen.«
»Die Armen«, antwortete Lenchen.
»Aber Kind, die Armen ist die Mehrzahl von – von – na, wer kann mir das sagen? Keiner?« Die Lehrerin hielt in der Klasse Umschau. »Ei, weiß es da hinten jemand?« Ein Finger war emporgezuckt, aber sofort wieder verschwunden, als hätte er gegen den Willen seiner Besitzerin die Luft durchbohrt.
»Ja, wer ist denn das?« Die Lehrerin hatte die sich hinter ein kleines Mädchen verkriechende Suse entdeckt. »Ein fremder Vogel ist uns ja da zugeflogen. Wer bist denn du?«
Suse stand auf – jetzt half ihr das Versteckspiel nicht mehr.
»Das ist eine Neue«, riefen mehrere in der Klasse.
»Eine Neue – ja, davon weiß ich ja gar nichts. Und solch ein Riesenmädel?« verwunderte sich die Lehrerin. »Wie heißt du denn?«
Suse nannte ihren Namen.
»Suse Winter, wie alt bist du?«
»Am ersten November werde ich zwölf.«
»Haach«, machten die Kinder alle. Mußte die aber faul sein, wenn sie noch in der siebenten Klasse war.
Der Lehrerin kam die Sache nicht geheuer vor. »Bist du denn in die siebente Klasse aufgenommen worden, Suse Winter?«
»Nein, in die vierte«, kam es kleinlaut aus der Ecke.
»Ja, warum bist du denn nicht in deiner Klasse?«
»Ich weiß ja nicht, wo die vierte Klasse ist.« Ach, schämte sich die Suse vor all den mitleidlosen Kinderaugen, die deutlich sagten: »Ist das große Mädel aber dumm!«
»Du hast doch einen Mund zum Fragen, Kind. Wie kann man nur so schüchtern sein? Lotte, gehe mal mit und zeige der neuen Schülerin, wo die vierte Klasse ist.«
Suse knickste erleichtert, und dann stand sie mit Lotte draußen auf dem stillen Gange. Es ging eine Treppe hinauf, und dann wies die um einen Kopf Kleinere auf eine Klassentür, welche die Zahl IV trug. Daß sie auch vorhin nicht darauf gekommen war, nach dem Türschilde zu sehen. Stumm standen die beiden Kinder vor der Klassentür. Stimmen erklangen dahinter. Aber Suse vermochte nicht zu unterscheiden, was gesprochen wurde. Ihr Herz machte wieder laut poch – poch.
»Du mußt anklopfen«, sagte die um fast drei Jahre Jüngere, als Suse keine Anstalten dazu machte.
»Ich traue mich nicht. Ich kann doch den Unterricht nicht stören.«
»Na, dann werde ich anklopfen.« Dreist pochte Lotte an die Tür und – lief davon.
Allein stand Suse da. Sollte sie hinterherlaufen? Am liebsten. Aber da näherten sich schon Schritte. Die Tür wurde geöffnet. Eine Schülerin meldete: »Ein Mädel ist da!«
»Na, was bringst du uns, Kind?« fragte es vom Katheder herunter. Dort saß ein Herr mit blanken Brillengläsern.
Oh, wie brannten die der Suse in das dumme, ängstliche Herz.
Allen Mut zusammenraffend, sagte sie: »Ich bin Suse Winter.«
»Sehr angenehm«, scherzte der Lehrer. Die Schülerinnen belachten den Witz. Suse begann mit den Tränen zu kämpfen.
»Was verschafft uns denn das Vergnügen?« fuhr der Lehrer lächelnd über die sichtbare Verlegenheit des hübschen Kindes fort.
»Ich gehöre doch hierher. Ich bin doch – ich soll doch – das ist doch die vierte Klasse«, stotterte Suse. Nun hielten die Mädchen sie sicher alle für »doof«. Wenn Herbert wüßte, wie sich sein Zwilling blamierte.
»Das ist die vierte Klasse – unbedingt. Aber kommst du nur her, um uns diese Tatsache mitzuteilen?« zog der Lehrer sie auf.
Wieder lachte die Klasse. Suse wußte nicht, wohin sie ihre Augen richten sollte. Überall spöttische Mienen. Aber da – da waren zwei Augen, die voll Mitleid auf ihr ruhten. Zwei veilchenblaue Augen. Und jetzt meldete sich das zu den mitleidigen Augen gehörende Mädchen.
»Suse Winter ist die Neue in unserer Klasse«, erklärte sie.
»Kann uns das die Neue nicht selbst sagen? Da scheinen wir ja ein Fräulein Schüchterchen bekommen zu haben. Warum kommst du denn gleich den ersten Tag zu spät, Kind? Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit sind die Grundlagen für einen geordneten Geist.« Die Brillengläser blitzten unzufrieden.
»Ich war ja schon vor dem Läuten hier«, entschuldigte sich Suse weinerlich. »Bloß – bloß – ich hatte mich in eine falsche Klasse verlaufen.«
Wieder grinsten die Mädel. Trotzdem Suse mit ihren Augen ein Loch in die getünchte Klassenwand bohrte, wurde sie es gewahr.
»Setze dich irgendwo hin, wo Platz ist«, gebot der Lehrer. »Wir wollen im Unterricht fortfahren.«
Ohne nach links oder rechts zu sehen, steuerte Suse, wie von einem Magnet angezogen, auf die veilchenblauen Augen zu. Sie wußte nicht, ob da noch Platz war. Aber was schadete das? Es war der einzige Ort in der fremden Klasse, der ihr Vertrauen einflößte. Sie wurde nicht enttäuscht. Das Mädchen mit den Veilchenaugen rückte bereitwillig, und Suse fühlte sich neben ihr geborgen wie ein Schiffbrüchiger, der plötzlich wieder Land unter seinem Fuß fühlt. Freundlich schob die Nachbarin der Neuen das Buch zu, daß sie mit einsehen konnte.
Es waren fremde Worte, auf die Suses Blick fiel. Das war weder deutsch noch französisch oder gar italienisch.
»Inge Martin, wo waren wir stehengeblieben?«
Suses Nachbarin mit den Veilchenaugen schnellte empor und begann aus dem Buche zu lesen in einer Sprache, die Suse gänzlich unbekannt war. Es schien darauf anzukommen, möglichst gut zu lispeln. Ab und zu verbesserte der Lehrer ein nicht richtig ausgesprochenes Wort. »Übersetze.«
Inge übersetzte das Gelesene ins Deutsche. Sie schien fleißig präpariert zu haben. Es handelte sich um einen kleinen Knaben, der seinen Großvater besucht.
»Die Folgende«, unterbrach der Lehrer.
Suse ahnte nicht, daß sie die Folgende war. Erst als ihre Nachbarin ihr das Buch zuschob, mit dem Zeigefinger auf eine Stelle tippte und dazu flüsterte: »Du bist dran«, erhob sich Suse. Sie begann zu lesen, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Jedes Wort sprach sie genau so aus, wie es geschrieben stand. Das war durchaus nicht so einfach, sondern eine ganz schwierige Sache.
Bei den ersten Worten verbesserte der Lehrer, während die Klasse vergnüglich schmunzelte, dann aber fuhr er dazwischen: »Ja, was liest du denn da, Mädel! Das ist doch kein Englisch. Das ist Blödsinn.«
Der so angedonnerten Suse blieb vor Schreck das Wort, das sie gerade lesen wollte, im Halse stecken. »J–a–«, weiter kam sie nicht.
»Jah – das kann jeder Esel sagen.«
Jetzt war kein Halten mehr in der Klasse. Sie lachten – lachten – während es der armen Suse heiß in die Augen schoß.
»Ruhe«, gebot der Lehrer. »Nun sag' mal, Kind, was liest du denn da für einen Unsinn zusammen? Willst du uns etwa zum besten halten? Das ist ja gerade, als ob du noch niemals ein Wort Englisch gehört hättest.«
»Ich kann doch auch nicht Englisch«, kam die weinerliche Antwort.
»Ja, warum sagst du denn das nicht gleich? Dann hast du doch noch gar nicht die Reife für die vierte Klasse.« Der Lehrer stieg von seinem Kathederthron herunter und begann in der Klasse auf und ab zu laufen. Was sollte er mit einer Schülerin, die noch kein Wort Englisch konnte, anfangen?
Ach, der Suse lag ganz und gar nichts an der vierten Klasse. Wenn die Mädel sie auslachten und auf sie herabblickten und der Lehrer sie anfuhr – nein, da hatte es ihr in der siebenten Klasse ja besser gefallen.
Der Lehrer hielt im Wandern inne. »Ich werde mit dem Direktor sprechen«, sagte er.
Mit dem Direktor sprechen – das bedeutete sowohl in der Berliner Waldschule als auch in der Schule zu Neapel eine Strafe. Nur wegen fauler Schülerinnen sprachen die Lehrer mit dem Direktor. Suse begann pflichtgemäß zu weinen.
Der Lehrer, der wohl selbst die Empfindung hatte, daß er das verängstigte Kind wohlwollender behandeln sollte, blieb bei ihr stehen und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.
»Na, ist ja nicht so schlimm. Deshalb brauchst du nicht zu weinen, Kind. Wenn du noch kein Englisch gehabt hast, kannst du ja nicht dafür«, begütigte er.
Suse begann zu schluchzen. Denn wenn man sie bedauerte, tat sie sich immer selbst am meisten leid. Nein, sie wollte nicht hier in der alten vierten Klasse bleiben. Sicher lachten die andern jetzt wieder alle über sie. Hinter dem Taschentuch begann Suse zur Seite zu den Nebensitzenden hinzuschielen. Da begegnete sie wieder Inges mitleidigen Augen. Und jetzt fühlte sie eine warme Hand ihre kalten Finger unter dem Tisch drücken.
»Weine nicht, Suse«, flüsterte ihre Nachbarin. Dieser Zuspruch half besser als der des Lehrers. Suse trocknete ihre Tränen. Inge Martin, die so nett zu ihr war, sollte sie nicht für »doof« halten.
Die englische Stunde nahm ihren Fortgang. Einsam wie auf einer Insel saß Suse inmitten der sie umflutenden Stimmen. Man fragte sie nicht mehr. Sie verstand nicht, was gesprochen wurde. Da war sie sich ja in der Schule in Neapel weniger verlassen vorgekommen. Dort hatte sie doch schon die italienische Sprache einigermaßen beherrscht.
Als die Schulglocke das Ende der englischen Stunde meldete, stieß Suse einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Wie war es nur möglich, daß einem eine Stunde zur Ewigkeit werden konnte!
Sie dachte nicht daran, wie die andern Kinder ihre Frühstücksbrote herauszunehmen und es sich schmecken zu lassen. Sie war zu betrübt. Ach, wenn Herbert wüßte, wie dumm sich sein Zwilling benommen hatte, daß man sie »Fräulein Schüchterchen« genannt hatte.
Es war kurze Pause. Die Schülerinnen blieben in der Klasse. Inge Martin rückte näher zu Suse.
»Du, Suse, warum hast du denn Herrn Doktor Klemm nicht gesagt, daß du aus Italien kommst. Dann hätte er doch gleich gewußt, daß du nicht englisch verstehst.«
»Na ja, unserm englischen Lehrer. Er meint es nicht böse, wenn er auch mal losfährt und wenn er dich auch Fräulein Schüchterchen genannt hat. Das mußt du dir nicht zu Herzen nehmen.«
»Woher weißt du denn, daß ich aus Italien komme? Du kennst mich doch gar nicht«, verwunderte sich Suse, das Mädchen mit den blonden Zöpfen, die ihr nach vorn über die Schulter herabhingen, und mit den Veilchenaugen genau betrachtend. Nein, sie hatte die Inge bestimmt noch nie gesehen.
»Doch, ich kenne dich«, lachte Inge. »Mein Vater ist auch Professor an der Universität. Und der hat uns erzählt, daß die Tochter von Professor Winter, der vorher in Italien gewesen ist, in unsere Klasse kommt.«
»Und nun mußt du uns viel von Italien erzählen. Ist's da schön?« fragte ein Mädchen von der andern Seite.
Suse wandte sich der Sprecherin zu. Nanu? Saß denn die Inge Martin noch einmal da? Eben war sie doch noch links von ihr gewesen. Suse drehte, den Kopf nach links, sie drehte ihn nach rechts – auf jeder Seite saß eine Inge Martin. Das war ja beinahe wie in einem Märchen. Aber sie war doch schon zu groß, um noch an Zauberei zu glauben. Dieselben Blondzöpfe, dieselben Veilchenaugen, ja sogar dieselben Grübchen in den roten Wangen. Suse sah bestürzt von der einen zur andern und machte nichts weniger als ein schlaues Gesicht.
»Wir sind nämlich Zwillinge, die Inge und ich«, lachte die zweite Inge, Suses Erstaunen richtig deutend. »Ich heiße Helga.«
»Was, Zwillinge seid ihr?« rief Suse erfreut. »Wir sind ja auch Zwillinge.«
»Ja, wo ist denn deine Zwillingsschwester?« verwunderte sich Inge. »Geht sie nicht in unsere Schule?«
»Mein Zwilling ist doch ein Junge. Herbert heißt er, aber er ist viel klüger als ich, wenn er auch mein Zwilling ist.« Nein, den Herbert sollten die fremden Mädchen nicht etwa auch noch für »doof« halten.
»Wir müssen Freundinnen werden«, sagte Helga. »Weil du doch auch ein Zwilling bist.«
»Und weil dein Vater auch Professor ist wie unserer«, fügte Inge hinzu.
Suse gab den Zwillingen die Hand, eine links, eine rechts. Nun fühlte sie sich nicht mehr verlassen, wenn auch ihr Zwilling fehlte.
»Unser Vater ist auch Professor an der Universität«, mehrere Kinder drängten sich hinzu. Sie schienen sich mit der neuen Suse ebenfalls gern anfreunden zu wollen.
»Ja, aber ihr seid doch keine Zwillinge«, lehnte Inge ab.
Was – nun riß man sich noch gar um sie? Suse, die sich noch vor kurzem so verlassen und ausgestoßen vorgekommen war, bildete plötzlich den Mittelpunkt.
»Erzähle mal von Italien. Ist da immer Sommer? Gibt's da gar keinen Schnee? Bist du in einem Palmenwald spazieren gegangen? Wachsen da die Makkaroni?« Von allen Seiten bestürmte man Suse mit Fragen.
»Makkaroni? Die wachsen doch nicht aus der Erde! Das sind doch keine Pflanzen«, lachte Suse. Jetzt kam sie sich klüger vor als die Schulkameradinnen. Das tat ihrem in der englischen Stunde so arg niedergedrückten Selbstbewußtsein wohl.
Ehe Suse noch erklären konnte, daß Makkaroni in großen Fabriken in Italien angefertigt werden, war die Zwischenpause zu Ende. Es läutete zur französischen Stunde.
In die zweite Stunde ging Suse schon bei weitem mutiger. Die neue Freundschaft mit den Martinschen Zwillingen gab ihr Sicherheit. Auch hatte sie in Italien guten französischen Unterricht gehabt und mit der Mademoiselle ihrer Freundin Rita französisch gesprochen. In französisch würde sie bestehen. Da war ihr nicht bange.
Eine Lehrerin, Fräulein Studienrat Drei, gab den Unterricht. Sie trat ein, sagte »bon jour« und erkundigte sich in französischer Sprache bei der Klasse, wie die Oktoberferien verlaufen wären.
Da saßen sie alle mit offenen Mündern da. Keine hatte so recht verstanden, was gefragt worden war.
»Weiß keine mir etwas von den Ferien zu erzählen?« fragte Fräulein Drei noch einmal in französischer Sprache.
Suse gab sich einen Ruck, alle Schüchternheit zurückdrängend. Sie wagte sich zu melden.
» Ah, voilà, une nouvelle – comment vous appelez-vous? Ah, eine Neue – wie heißt du?«
Suse nannte ihren Namen.
»Was kannst du mir von den Ferien erzählen?«
Suse begann zu berichten, daß sie schon seit dem ersten Juli Ferien gehabt hätte. Daß sie bei den Großeltern in Freiburg gewesen sei und erst seit einigen Tagen hier in Jena wäre. Trotzdem sie immer noch schüchtern und leise sprach, vermochte sie sich mühelos in französischer Sprache auszudrücken. Die vierte Klasse, die sie in der ersten Stunde ausgelacht hatte, hörte mit großen Augen zu, wie gut die Neue französisch sprach.
Fräulein Studienrat strahlte. »Da haben wir ja einen wertvollen Klassenzuwachs bekommen«, sagte sie anerkennend. »Warst du mal in Frankreich, daß du so gut französisch sprichst?«
»Nein, ich war ein Jahr in Italien. Ich habe in Neapel mit der Mademoiselle meiner Freundin französisch gesprochen.«
»In Italien warst du – in meinem schönen Italien?« Fräulein Studienrat geriet jetzt erst recht in Begeisterung. Sie begann mit Suse italienisch zu sprechen, sie nach diesem und jenem zu fragen. Suse antwortete italienisch, als ob es deutsch wäre. Die andern aber sperrten Mund und Nase auf, als sie die Unterhaltung in der fremden Sprache hörten, von der sie nicht eine Silbe verstanden. Potztausend, das hatte keine dem Fräulein Schüchterchen zugetraut. Mit Geringschätzung hatte man in der englischen Stunde auf sie herabgeblickt. Und nun konnte die viel mehr als sie.
Als die große Zwischenpause herankam, drängte man sich danach, im Schulhof mit der Neuen zu gehen. Denn selbst bei Kindern zeigt es sich schon, wie wandelbar die Gunst der Menge ist. Suse aber nahm den Arm Inges, die lieb und mitleidig zu ihr gewesen war, als die andern sie wegen ihrer Schüchternheit und wegen ihrer Unkenntnis im Englischen verlacht hatten. Helga ärmelte sie an der andern Seite unter, denn die gehörte ja als Zwilling dazu.
»Die nächste Stunde ist deutsch bei unserm Vater, er ist Ordinarius der vierten Klasse«, erzählte Inge.
»Was – euer Vater unterrichtet an unserer Schule? Und Ordinarius ist er noch obendrein?« Suse fragte es so entsetzt, als ob sie die Freundschaft mit den Martinschen Zwillingen wieder rückgängig machen wollte.
Die lachten.
»Vater frißt dich doch nicht – du brauchst wirklich keine Angst vor ihm zu haben«, beruhigten sie das furchtsame Häschen. »Es ist ja auch deutsche Stunde. Das verstehst du doch – wenn es noch Englisch wäre.«
Ja, in Deutsch würde sie schon bestehen. Nichtsdestoweniger betrachtete Suse ihre neuen Schulfreundinnen jetzt mit etwas unbehaglichen Blicken. Wie schade, daß ihr Vater gerade der Ordinarius der vierten Klasse war! Wenn man da nicht fleißig war, verbot er am Ende seinen Töchtern den Umgang mit ihr.
Professor Martin war ein großer, blonder Herr. Nein, wie ähnlich seine Töchter ihm sahen. Dieselben tiefblauen Augen, wenn sie auch beim Vater ernster blickten als die strahlenden Mädchenaugen. Nur die Blondzöpfe fehlen ihm und die Grübchen, dachte die ihn musternde Suse. Da hörte sie ihren Namen durch die Klasse schallen. Professor Martin rief sie nach vorn.
Freundlich gab der Ordinarius der Neuen die Hand.
»Nun, ich hoffe, Suse Winter, du wirst dich in unserer Schule wohlfühlen und gute Kameradschaft halten«, sagte er freundlich.
Suse nickte erglühend. »Ihre Zwillinge sind schon meine Freundinnen.«
»Na, das ging ja schnell«, lachte er. »Da setze dich nur wieder auf deinen Platz, Suse Winter. Und wenn du irgendein Anliegen hast, dann komme nur voll Vertrauen zu mir. Ich will der Freund meiner Klasse sein und nicht der schwarze Mann, vor dem sie Angst hat.«
War das ein netter Lehrer, der Herr Professor Martin. Suse fühlte unbegrenztes Vertrauen zu dem Vater ihrer neuen Freundinnen. Sie stand da, überlegte und druckste. Aber die Schüchternheit behielt doch den Sieg. Sie wagte es nicht zu sagen, was sie ihm gern anvertraut hätte.
»Nun, Suse, du hast doch noch etwas auf dem Herzen«, ermutigte sie der Lehrer.
Suse nickte. Und dann stieß sie ganz schnell hervor, damit ihr nur ja nicht wieder der Mut sank: »Ach, kann ich nicht von der englischen Stunde dispensiert werden?«
Wieder hörte Suse die Klasse hinter sich lachen. Auch in dem Gesicht des Lehrers zuckte es belustigt. Aber als er in die treuherzigen braunen Kinderaugen sah, die da bittend zu ihm aufsahen, überwand er die heitere Anwandlung und zwang sich zum Ernst, um das Vertrauen der neuen Schülerin nicht zu verlieren.
»Nein, mein Kind, das geht nicht. Vom englischen Unterricht kann keine Schülerin ausgeschlossen werden. Warum willst du denn nicht englisch lernen, Suse?«
»Weil ich kein Wort verstehe und weil die andern mich dann auslachen. Und weil – und weil der englische Lehrer so streng ist.« Nun hatte sie sich alles vom Herzen heruntergeredet.
»Die andern werden nicht über dich lachen, Suse, wenn sie hören, daß du bisher noch keinen englischen Unterricht gehabt hast. Gib dir nur Mühe, dann holst du sie sicher bald ein. Dein Vater hat schon mit mir gesprochen, daß du Privatunterricht bekommen sollst. Und Herr Doktor Klemm wird dir gewiß nicht mehr streng erscheinen, wenn er mit deinen Leistungen zufrieden ist. Was meinst du dazu?«
»Ja, das geht.« Suse nickte erfreut und nahm wieder ihren Platz ein. Es war doch gut, wenn man zu seinem Lehrer Vertrauen haben konnte.
Der deutsche Unterricht begann. Da merkte Suse allerdings, daß ihr noch mehr fehlte als Englisch. Man nahm Schiller durch.
»Nennt mir Schillersche Gedichte, die hier in Jena entstanden sind«, verlangte Professor Martin.
»Der Taucher« – »Das Lied von der Glocke« – »Der Gang zum Eisenhammer« – »Der Kampf mit dem Drachen« – »Die Bürgschaft«, meldeten sich von allen Seiten die Schülerinnen.
Suse, die noch vor kurzem in der französischen Stunde so geglänzt hatte, saß jetzt wieder stumm und dumm da.
»Suse Winter, kennst du eins der Gedichte?« entriß sie der Lehrer ihrer Teilnahmlosigkeit.
Suse schüttelte den Kopf. »Mein Bruder Herbert hat mir schon manchmal welche vorlesen wollen. Aber dann bin ich immer davongelaufen«, berichtete sie.
»Davongelaufen bist du bei Schillerschen Gedichten?« verwunderte sich der Lehrer. »Haben sie dir nicht gefallen?«
»Nee, gar nicht. Die sind ja so graulich. Und der Herbert hat mir und Bubi, das ist unser Hund, immer Angst damit machen wollen, wenn es dunkel war.«
Jetzt konnte Professor Martin doch nicht ernst bleiben.
»Nun, ich hoffe, Suse, du wirst auch noch die Schönheiten der Schillerschen Gedichte kennenlernen, nicht bloß das Gruselige«, sagte er lachend. »Kennst du denn gar nichts von Schiller, was dir gefallen hat?«
Suse besann sich.
»Doch«, sie nickte. »Da war mal einer, der hieß Wilhelm, und der konnte fein schießen. Sogar einen Apfel konnte er vom Kopf seines Jungen fortschießen. Und der Junge hatte gar kein bißchen Angst, als der Vater auf ihn schoß.« Das schien Suse den größten Eindruck gemacht zu haben.
»Du meinst ›Wilhelm Tell‹. Hast du das Drama gelesen?« Suse schüttelte den kurzgeschorenen braunen Kopf. »Unsere Mutti hat es uns erzählt, als wir noch kleiner waren. Und Herbert, das ist mein Zwillingsbruder – wir sind nämlich auch Zwillinge –, der war auf seinem Schaukelpferd der böse Mann, der den Hut auf den Marktplatz aufstellen ließ, und ich mußte mich mit meinen Puppen vor sein Pferd werfen und um Gnade flehen.« Suse hatte alle Scheu vor Professor Martin verloren. Er wollte doch ihr Freund sein.
»Na ja, siehst du, du weißt immerhin schon etwas von ›Wilhelm Tell‹. In der nächsten Klasse werden wir das Schauspiel zusammen lesen. Vorläufig studieren wir mal den ›Taucher‹. Suse, beginne das Gedicht zu lesen.«
Von jeder Seite schob ihr ein Zwilling das deutsche Lesebuch zu. Suse begann:
»Der Taucher. Ball – ade von F. v. Schiller.«
»Ballade heißt es, Suse. Mit einem Ball hat der Taucher nichts zu tun, nicht mal mit einem Rettungsball«, unterbrach sie der Lehrer scherzend. Alles lachte. Auch Herr Professor Martin. Und Suse? Was tat Suse? Sie überwand ihre Empfindlichkeit und – lachte mit. Sie wußte ja jetzt, daß ihr alle wohlwollten.
»Wer kann der Suse Winter sagen, was eine Ballade ist? Na, Helga Martin, wirst du's auch richtig erklären?« Wie drollig, der Vater nannte seine Tochter auch mit dem Vatersnamen.
»Eine Ballade ist eine Erzählung in Versen«, sagte Helga.
»Nein, das ist nicht richtig ausgedrückt. Wollen mal sehen, ob der andere Zwilling es besser weiß.«
»Eine Ballade ist ein Gedicht mit erzählendem Inhalt«, erklärte Inge.
»Richtig. Na, Helga Martin, du bist nett, läßt dich von deiner jüngeren Schwester belehren«, lachte der Professor. Inge war eine halbe Stunde jünger als ihre Zwillingsschwester.
Ob Helga beleidigt war? Nein, sie lachte mit den andern mit. Sie nahm es nicht übel. So wollte es Suse künftig auch immer machen.
Suse begann jetzt verständnisvoll das Gedicht zu lesen. Aber als es da unten in der schaurigen Tiefe von Salamandern und Drachen zu wimmeln begann, legte sie kurz entschlossen das Buch hin. Ganz blaß war sie.
»Na, Suse Winter, bist du schon müde?«
»Nein, aber das ist mir zu graulich. Der arme Knabe, der da reinspringen mußte um den ollen Becher rauszuholen!« Tränen rieselten der mitfühlenden Suse über die Wangen.
Das war Professor Martin in seiner langjährigen Lehrertätigkeit noch nicht vorgekommen, daß eine Schülerin das Schicksal des Tauchers beweint hatte. Was für ein weichherziges kleines Ding! Aber es war notwendig, ihr diese feinfühlenden Nerven etwas widerstandsfähiger zu machen, sonst wurde später eine nervöse junge Dame aus ihr.
»Nimm dich mal ein bißchen zusammen, Suse Winter. Die andern Mädel weinen ja auch nicht, wenn ihnen der Taucher auch noch so leid tut. Lies ruhig weiter.«
Suse überwand sich, wischte sich Augen und Nase und fuhr fort zu lesen, wie es wallet, brauset, siedet und zischt. Bis eine andere sie ablöste. Aber die aufregende Begebenheit ging ihr noch lange nach. In der Zwischenpause, als die andern Kinder tollten und spielten, ging sie zwischen ihren neuen Freundinnen mit traurigen Augen einher. Das Frühstücksbrot wollte nicht rutschen.
»Du bist ja so still, Suse«, verwunderte sich Helga. »Ist dir was?«
Suse schüttelte den Kopf. »Ich muß bloß immer an den armen Taucher denken. Wäre er doch bloß nicht zum zweitenmal reingesprungen. Dann lebte er heute noch.«
»Aber Suse, der hat ja nie gelebt«, lachte Inge. »Das ist doch bloß eine dichterische Gestalt aus Schillers Phantasie.« Die neue Freundin war schon reifer als sie.
»Und wenn er selbst zu Schillers Zeiten gelebt hätte, wäre er jetzt auch schon tot«, stellte Helga sachlich fest.
Das stimmte. Das sah Suse ein. Also hatte sie keinen Grund mehr, den Taucher zu betrauern, und konnte sich ihr Butterbrot schmecken lassen.
In den beiden nächsten Stunden Gesang und Turnen wurde man sowieso wieder vergnügt. Suse hatte eine hübsche, frische Stimme und war musikalisch. Sie kam in die zweite Stimme neben Helga, während Inge erste Stimme sang. Man übte Wanderlieder für die Wandertage ein. Dabei wurde man frisch und heiter.
Auch im Turnen war Suse nicht ungeschickt. Wenn man einen Zwillingsbruder hat, mit dem man zu Hause turnt und boxt, dann erscheinen einem die Übungen nicht schwierig. Nur ganz oben auf der Leiter sich loszulassen und zu den schrägen Stangen hinüberzugreifen, das wagte Suse nicht. Da hatte sie Angst, zu fallen. Nachdem sie sich noch den Stundenplan abgeschrieben und die Bücher, die gebraucht wurden, notiert hatte, war der erste, inhaltsvolle Schultag zu Ende. Er hatte Fräulein Schüchterchen zwei Freundinnen auf einmal gebracht.
Wie mochte es ihrem Zwilling ergangen sein?