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Wirklich, Professors Zwillinge gaben sich alle erdenkliche Mühe, ihrer kleinen Omama das Einleben in der fremden Stadt und den Aufenthalt im neuen Heim angenehm zu gestalten. Ihr erster Weg, wenn sie mittags aus der Schule kamen, war in das gemütliche Parterrezimmer mit den altmodischen Möbeln und dem lieben alten Gesicht, das schon nach den Enkeln ausschaute. Wenn Herbert bloß nicht immer vergessen hätte, sich draußen vor der Haustür die mit feuchtem Erdreich beschmutzten Schuhe gründlich zu säubern. Eine düstere Schlammspur kündete seinen Weg auf dem blitzblank gebohnerten Fußboden in Großmamas Stübchen. Frau Annchen, die »ihre Kinderchen«, trotzdem sie ihrer Obhut längst entwachsen waren, noch immer gern verzog, mußte doch ab und zu den Mosjö am Ohr zupfen, daß er mehr Rücksicht auf ihre alten Knochen, denen das Nachwischen nicht mehr so leicht wurde, nähme. Da war die Suse ganz anders. Sie putzte sich so sauber ab wie ihr Kätzchen. Nur vergaß sie, wenn sie wie ein Wirbelwind in das Zimmer der Großmama flog, die Tür hinter sich zu schließen. Sie mußte immer erst daran erinnert werden, daß es draußen nicht so warm sei, wie die alte Dame, die meistens handarbeitend oder lesend in ihrem Lehnstuhl saß, es brauchte. Auch vergaßen die Zwillinge manchmal, daß die alten Möbel der Großmama auch nicht mehr so widerstandsfähig waren wie sie selbst. Knacks – ächzte das alte grüne Plüschsofa, wenn Herbert mit seiner ganzen ungezügelten Jugendkraft sich in seine Polster warf. Bautz – flog Omamas gehüteter Nähkasten bei Suses stürmischer Umarmung von dem runden Mahagonitischchen am Fenster. Zu einem wilden Durcheinander wälzten sich Garn und Seidenrollen, Knöpfe, Bänder, Nadeln und Schere da unten auf der Erde, während das Zentimetermaß sich wie eine schwarze Schlange durch diese wüste Unordnung hindurchwand. Natürlich waren dann auch durch die offen gelassene Tür sofort Bubi und Piccola zur Stelle, wie von einer geheimen Kraft angezogen. Sie durften nicht fehlen, wo es drüber und drunter ging, und taten, als ob dies Durcheinander extra zu ihrem Privatvergnügen veranstaltet sei. Nun, zum Vergnügen der Großmama war es ganz sicher nicht. Starr saß die alte Dame und blickte über ihre Brille hinweg entsetzt auf ihre auseinandergerissene, so peinlich gehütete Ordnung. Himmel, Piccola jagte sämtliche Wollknäule von einer Ecke des Zimmers in die andere und verhedderte die Fäden zu nie entwirrbarer Möglichkeit. Und Bubi, der schwarze Köter, blaffte feindselig die Zentimetermaßschlange an, während Herbert ihn noch hetzte: »Faß sie – faß die Schlange, Bubi!« Suse aber hielt sich die Seiten vor Lachen. Ein wilder Tumult herrschte in dem eben noch so friedlichen Stübchen.
Als Suse jedoch die entsetzten Blicke ihrer kleinen Omama gewahrte, hielt sie jäh in ihrer Lustigkeit inne. Wie häßlich von ihr, daß sie lachte, wenn die Großmama sich erregte.
»Herbert, sei ruhig – still, Bubi, kusch' dich – Omamachen, mach' keine traurigen Augen, ich räume dir alles wieder schön ein«, versprach sie zärtlich.
»Laß nur, Kind, laß nur, lege nur alles hier auf das Tischchen, sortieren muß ich es mir selber.« Sehr viel Vertrauen schien die Großmama nicht in Suses Ordnungssinn zu setzen. »Schafft mir nur die Tiere hinaus, mir brummt der Kopf von dem Getöse.« Das war eine Aufgabe für Herbert, der er sich mit allem Eifer unterzog – allerdings nicht auf dem nächsten und geradesten Wege durch die offene Tür, sondern auf Umwegen unter Sofa, Bett, Waschtoilette und Schränken. Schließlich aber waren sie alle miteinander glücklich draußen, Kinder und Tiere, und aufatmend konnte sich die alte Dame an das Auseinanderheddern ihrer Sachen machen. Und während sie Faden auf Faden entwirrte, glätteten sich auch ihre erregten Gefühle. Lieber Gott, das war die Jugend, die überschäumende; ein Glück, daß sie so unbeschwert und von Herzen froh war. Und noch ehe der letzte Knopf in dem Nähkasten wieder sorgsam geborgen war, blickten die alten Augen schon wieder erwartungsvoll freudig den Enkelkindern entgegen, die trotz manchen Sturmes hellen Sonnenschein in ihr Stübchen und in ihr Alter trugen.
Mit all ihren Schulfreuden und Kümmernissen fanden sich die Zwillinge im Großmutterstübchen ein. Dort wurde alles abgeladen, was man auf dem Herzen hatte. Und das war gar nicht wenig. Da hatte die Suse englische Sorgen. Doktor Klemm, der englische Lehrer, habe gemeint, ihre Aussprache klinge, als ob sie nicht englisch sprechen, sondern englisch stottern lernen wolle. Dabei gab sie sich doch solche Mühe. Und Helga sei heute eifersüchtig gewesen, weil sie sich mehr mit Inge unterhalten hätte als mit ihr. Aber die beiden seien doch Zwillinge; da wäre das doch ganz gleich, ob sie mit der einen oder mit der andern rede. Was die Omama wohl meinte, ob man zwei beste Freundinnen haben könnte.
Die Großmama machte ein bedenkliches Gesicht. So ganz einfach erschien ihr die Sache nicht. »Herzchen, das Wort ›beste‹ sagt schon, daß sich dieses eine über alles andere erhebt.«
»Ja, aber wenn sie doch Zwillinge sind, die Helga und die Inge, dann müssen sie mir doch beide gleich lieb sein.« Ganz aufgeregt schien die Suse, als hinge von dem Urteil der Großmama ihr Lebensglück ab.
Was hätte die Omama wohl nicht getan, um ihren Liebling zu beruhigen? Natürlich, bei Zwillingen lag die Sache anders. Nur gehörte sehr viel Herzenstakt dazu, um keine hinter der andern zurückzusetzen. Denn Zurücksetzung tat weh, daran sollte Suse immer denken.
Oh, das wollte Suse ganz sicher, sie hatte ja solch liebevolles junges Herz. Getröstet wie stets sprang sie aus dem stillen Parterrestübchen.
Mit Herbert lagen die Dinge schon schwieriger. Er hatte so manches auf dem Herzen, bei dem sich die alte Dame doch nicht so gut einfühlen konnte wie in den Interessenkreis der Enkelin. Was wußte sie in ihrem Lehnstuhl von Boxkämpfen? Diese aber spielten eine große Rolle im Gymnasium. Herberts Muskelkraft war zu seinem Kummer nicht so gut entwickelt wie seine geistigen Fähigkeiten. Er unterlag meist bei diesen Boxkämpfen, brachte blaue Flecke, ausgerissene Ärmel und das ärgerliche Gefühl mit heim, besiegt worden zu sein. Was die Großmama dazu meinte, ob es eine große Schande wäre, wenn man nicht gut boxen könne.
Die Großmama meinte natürlich, daß es eine Schande sei, überhaupt zu raufen und zu boxen. Die Jungen sollten doch lieber Frieden miteinander halten. Es gäbe ja genug hübsche Bewegungsspiele, bei denen sie sich austoben könnten. »Boxen ist roh«, schloß die alte Dame.
Herbert sah nachdenklich vor sich hin. »Omama, nimm es bitte nicht übel, aber ich glaube, das verstehst du nicht richtig, weil du eine Dame bist und noch dazu eine alte. Boxen ist nicht nur raufen. Es ist ein Sport – verlasse dich darauf, Omama. Es gibt in allen Ländern Boxmeister, die große Wettkämpfe auskämpfen. Du kannst es jeden Tag in der Zeitung unter Sportnachrichten lesen. Erst gestern stand drin, daß ein Boxmeister seinem Gegner einen wundervollen Kinnhaken versetzt habe.«
»Aber Jungchen, was ist das für ein brutales Wort, Kinnhaken! Und wie kann ein Kinnhaken nur wundervoll sein!« Nein, wirklich, die kleine Omama hatte gar keine Ahnung vom Boxen.
Auch bei der Mutter fand Herbert wenig Verständnis dafür. Die zerfetzten Jacken ihres Sohnes, die sie wieder flicken mußte, konnten unmöglich Mutters Sympathien für diesen Sport wecken.
Nicht mal sein Zwilling vermochte sein Interesse zu teilen. Herbert benutzte Suse als Probierkarnickel und übte sich an ihr in Stellungen, Griffen und Kinnhaken. Aber Suse war ein »Marzipanpüppchen«, wie Herbert sie verächtlich titulierte. Schon bei der ersten Runde, bevor er noch zu einem anständigen Kinnhaken ausholen konnte, brüllte sie bereits. Und wenn er dann triumphierend rief: » Knock out, – du bist knock out, Suse – das bedeutet geschlagen« –, dann belehrte sie ihn, daß das K am Anfang des Wortes knock im Englischen nicht ausgesprochen werden dürfe, sie hätte es ganz bestimmt bei ihrer Miß gelernt.
»Ist ja Wurscht, ob knock oder nock, jedenfalls biste besiegt.« Was – Suse wollte etwas besser wissen als er? Und noch dazu beim Boxkampf? Das ging dem Jungen gegen die Ehre.
Auch Frau Annchen und Minna unterstützten Herberts neueste Kunst nicht. Die dicke Frau Annchen kam schon außer Atem, wenn er kaum zum Angriff übergegangen war. »Nee, Herbertchen, nee, mein Goldchen, da kann man ja 'n Herzschlag von kriegen«, jappste sie. »Früher warste so niedlich und so brav – es ist wirklich schade, daß du so ein großer Lulatsch geworden bist!«
Minna aber machte kurzen Prozeß, wenn er sie zu einem Boxkämpfe herausforderte. Sie war stärker als er und beobachtete keine Vorschrift der Boxkunst. Es genügte ihr, ihn auf die Knie hinunterzuzwingen und dann mit erschrecktem: »Meine Gardoffelsubbe brennt mir an!« wieder an den Herd zu entweichen.
Nur gut, daß Herbert seinen Vater hatte. Zwar war Professor Winter gewöhnt, mehr die Zusammenstöße der Gestirne zu beobachten als die Boxerstöße, für die sein Sohn sich begeisterte. Immerhin verhielt er sich nicht so ablehnend dagegen wie die weiblichen Bewohner des Sternenhauses.
»Das Boxen erfordert Mut, Kraft und Geschicklichkeit. Es ist ein Sport, der, wenn er nicht ausartet, durchaus seine Berechtigung hat«, so beruhigte er die erregten Gemüter beim Mittagessen.
»Aber Paul, die Jugend wird ja geradezu dadurch zu Raufbolden erzogen«, wandte seine alte Mutter kopfschüttelnd ein.
»Und die teuern Sachen werden dabei in Grund und Boden ruiniert«, unterstützte sie seine Frau.
»Das olle Boxen tut überhaupt eklig weh!« Suse war die Dritte im Bunde.
»Vater, wir Männer können das nur richtig beurteilen, nicht wahr?« Herbert machte Front gegen die Weiblichkeit.
Der Professor lachte. »Ich habe dem Boxen allerdings als Sport seine Berechtigung nicht abgesprochen, Herbert. Aber jeder andere Sport, der den Körper stählt und widerstandsfähig macht, ist mir mindestens so lieb für dich. Auch für Suse wünsche ich die gesunde Abhärtung durch Sport – – –«
»Ach, das Marzipanpüppchen! Die heult ja, wenn man sie nur anpustet«, unterbrach Herbert den Vater wegwerfend.
»Bitte sehr, ich treibe auch Sport. Ich laufe Schlittschuh, und Schneeschuhlaufen habe ich auch in der Waldschule gelernt.« Suse war mit Recht beleidigt.
»Und hast geheult, wenn du hingeplumpst bist«, zog sie Herbert auf.
»Damals war ich noch klein, aber jetzt – – –«
»Herbert, du sollst das Suschen nicht immer ärgern.« Die gute Großmama sah, daß ihr Liebling mit den Tränen kämpfte.
»Wie wär's denn, wenn ihr schwimmen lernen würdet?« gab der Vater dem Gespräch eine harmlosere Wendung. »Wir haben hier in Jena ein wunderschönes Volksbad mit Schwimmhalle, die wir der hochherzigen Carl-Zeiß-Stiftung verdanken. Hättet ihr Lust dazu?«
»Aber mächtig!« rief Herbert mit blitzenden Augen. »In Capri habe ich mich schon immer vor meinem Bubi geschämt, weil der Köter so fein schwimmen konnte und ich nicht.«
»Und du, Suschen?«
»In Capri war das Baden sehr schön«, gab Suse zu. »Da war das Meer so blau und warm und so weich wie Seide. Und Vati und Mutti, ihr beide wart auch dabei. Hat man hier in der Schwimmhalle Grund?« erkundigte sie sich vorsichtig.
»Das Marzipanpüppchen weicht im Wasser auf«, lachte Herbert sie aus. »Wenn man Grund im Wasser hat, kann man nicht schwimmen. Wirst nicht gleich ersaufen.«
»Ich finde, Herbert, du bist gar nicht mehr so lieb mit deinem Zwillingsschwesterchen wie früher.« Großmütter tadeln nicht gern, darum empfand Herbert den Tadel doppelt. Er wurde rot und schielte unbehaglich zu Suse hin. Natürlich, sie plinste schon wieder.
»Diese Überlegungen haben ja noch Zeit bis zum Sommer«, meinte die Mutter. »Vorläufig kommt ja noch nicht mal der Wintersport zu seinem Recht.«
»Das Hallenschwimmbad ist auch im Winter geöffnet, Fränzchen. Es ist geheizt und hat temperiertes Wasser, so daß man von der Witterung unabhängig ist. Ich sehe keinen Grund ein, warum unsere Zwillinge nicht bald mit dem Schwimmkursus beginnen sollen«, schlug der Vater vor.
»Hurra!« überschrie ihn Herbert.
»Im Winter schwimmen? Lieber Sohn, heißt das nicht Gott versuchen?« stellte die alte Frau Winter dem Professor vor. Sie war nach Großmütterart sehr ängstlich, wenn es sich um das Wohl der Enkelkinder handelte.
Auch die Mutti schien mit des Vaters Vorschlag nicht so recht einverstanden. »Ich weiß wirklich nicht, Paul, ob das richtig ist. Es ist der erste Winter, den unsere Kinder wieder im Norden verleben. Und wenn Jena auch besonders geschützt liegt, sie müssen sich nach ihrem Aufenthalt im Süden doch erst wieder an kalte Winde und an die Eisluft des nordischen Winters gewöhnen. Suschen ist besonders anfällig und leicht zu Erkältungen geneigt«, gab sie zu bedenken.
Dieser Einwand war einleuchtend.
»Also dann warten wir bis zum Frühling«, entschied der Vater, trotzdem Herbert nicht recht einverstanden schien.
»Da lernen wir überhaupt von der Schule aus schwimmen. Wir haben jetzt schon im Turnen Trockenschwimmkurse und Trockenruderkurse«, wandte Herbert ein.
»Wir auch, Herbert. Ach, wie habe ich mich gefürchtet, als man mich neulich in der Turnhalle an die Angel legte«, rief Suse.
»Natürlich wieder ein Angstmeier.« Herbert konnte es sich nicht verkneifen, die Suse aufzuziehen. »Wir haben in unserm Gymnasium auch Sportvereine, Vater; Turnverein, Ruderklub und Verein für Jugendwanderungen«, berichtete er stolz.
»Haben wir Mädels auch, bitte sehr. Meine Freundinnen Helga und Inge gehören zum Jugendring. Sie machen wunderschöne Wanderungen durch den Thüringer Wald.« Suse wollte nicht zurückstehen.
»Da sollt ihr auch überall dabei sein, Kinder. Unser deutsches Land braucht ein an Körper und Geist gesundes und kraftvolles Geschlecht«, sagte der Professor.
Der Nachmittag war heute arbeitsfrei. Weder Herbert noch Suse hatten Schulaufgaben zu machen. Auch der Vater hatte keine Vorlesungen. Darum war dieser Mittwochnachmittag zu ganz Besonderem auserkoren. Man wollte der kleinen Omama die denkwürdigen Schillerstätten Jenas zeigen. Die alte Frau Winter war eine begeisterte Verehrerin des großen Dichters. Sie kannte die meisten Schillerschen Gedichte noch heute auswendig. Trotzdem sie schon so alt war, hatte sie dieselben noch nicht vergessen.
In der Vorliebe für Schiller verstanden sich die Großmama und ihr junger Enkel besser als beim Boxkampf. Auch Herbert liebte die Schillerschen Balladen, wenn er sie auch öfters nur dazu benutzte, um seine Suse und seinen Bubi damit gruselig zu machen. Wenn er mit tiefer Grabesstimme den »Kampf mit dem Drachen« oder den »Gang zum Eisenhammer« deklamierte, hielt sich Suse die Ohren zu und lief zur Türe hinaus. Bubi hätte das auch gern getan. Aber Herbert hielt sein vierbeiniges Publikum wohlweislich zwischen seine Knie geklemmt in Gefangenschaft, daß es ihm nicht entwischen konnte. So ließ der arme Köter Ohren und Stummelschwänzchen hängen und miefte ängstlich die Begleitung zu der Schillerschen Dichtkunst. Nein, Suse und Bubi waren für die Schönheit des Schillerschen Geistes beide noch nicht reif genug.
Herbert war stolz darauf, daß er jetzt in der berühmten Schillerstadt Jena seine Heimat hatte, wo so viele Stätten an die Zeit erinnerten, in welcher der berühmte Dichter hier in den bergigen Gassen umherwanderte.
»Omama, du wirst dich wundern, wie einfach Schillers Gartenhäuschen ist. Wenn ich Schiller gewesen wäre, hätte ich mir ein feines Schloß gebaut«, sagte Herbert, als man in das Schillergäßchen einbog. Von jeder Seite hatte sich einer der Zwillinge in Großmamas Arm gehängt. So führten sie die alte Dame im Triumph durch Jena.
»Schiller hat die größte Zeit seines Lebens mit Not zu kämpfen gehabt, Jungchen, im Gegensatz zu Goethe, der stets im Wohlstand lebte«, erzählte die Großmama.
»Na, dann finde ich das gar nicht hübsch von Goethe, daß er seinem Freund nicht geholfen hat«, empörte sich Herbert. Er war mal wieder rasch mit seinem Urteil fertig.
»Goethe hat mehr für seinen Freund getan, Herbert«, mischte sich der Vater, der ihnen mit der Mutter folgte, in das Gespräch. »Er hat ihm hier einen Wirkungskreis geschaffen, der ihn befriedigte und vor Not schützte. Durch Goethe ist Schiller von dem Herzog Karl August als Professor der Geschichte an die hiesige Universität berufen worden.«
Sie standen vor Schillers Gartenhaus.
»Eine durch den Genius geweihte Stätte«, sagte die Großmutter, als sie den Garten betraten.
Ein wenig enttäuscht sahen sich die Kinder um. Es schien ihnen ein Garten wie jeder andere. Herbststürme hatten Büsche und Blumenrabatten, ohne die Heiligkeit der Erinnerung zu ehren, zerzaust und unansehnlich gemacht. Da hatten Herbert und Suse in Italien viel schönere Gärten gesehen. Alte Ulmen ließen welke Blätter auf einen runden Steintisch herniederrieseln.
»Hier hat Schiller oft im Gespräch mit Goethe gesessen, hier hat er meist die Sommermonate zugebracht«, berichtete der Vater.
»Das steht ja hier zu lesen.« Herbert, der seine Augen überall hatte, wies auf eine Gedenktafel, die an dem Stamm der alten Ulme befestigt war.
Mit lauter Stimme entzifferte er: »Hier hat Schiller gewohnt. An diesem alten Steintisch haben wir oft gesessen und manches gute und große Wort miteinander gewechselt. Goethe.«
Schweigen folgte. Jeder, selbst die Kinder empfanden einen Schauer der Ehrfurcht.
»Hier in dem Gartenhäuschen hat Schiller seinen Wallenstein vollendet«, unterbrach die Mutter schließlich die Stille.
»Lesen wir in der Tertia«, rief Herbert erfreut.
»Für mich hat dieses Haus noch besonderes Interesse«, sagte der Vater. »Hier war früher die alte Sternwarte – ihr wißt doch, die neue befindet sich am Landgrafen neben dem Institut für Erdbebenforschungen, an dem ich arbeite. Und hier in Schillers Wohnhaus hatte im vorigen Jahrhundert der Direktor der Sternwarte seine Wohnung.«
»Schade, daß wir nicht im vorigen Jahrhundert leben.« Suse hätte gar zu gern im Schillerhaus gewohnt.
»Unser Sternenhaus ist schöner«, stellte Herbert sachlich fest.
Man wandte sich zum Gehen. Still legte Suse ein paar Wiesenblümchen, die letzten des Jahres, die sie unterwegs gepflückt hatte, auf den Steintisch, an dem Deutschlands größter Dichter einst gesessen. Nur eine Amsel, die in der Ulme wohnte, sah es.
Nein, noch eine hatte Suses ehrfürchtig scheue Gabe bemerkt. Die Großmama, die sich zurückgewandt hatte, wo ihr Liebling bliebe. Was für ein zartempfindendes Seelchen hatte doch das Kind.
Draußen erwartete Bubi, den man dort gelassen hatte, weil man mit Recht fürchtete, daß er die geweihte Dichterstätte nicht genug respektieren würde, Professors mit Freudengebell.
»Jetzt zeigen wir der Omama noch das Ernst-Haeckel-Haus und zum Schluß das Paradies«, machte der Vater Programm. »Es ist die schönste Parkanlage des Saaletales.«
»Das Paradies?« lächelte die Großmama. »Hoffentlich gibt es dort keine Schlange.«
Dieses harmlose Wort genügte, daß Suse bange Augen machte. Aber sie kam nicht dazu, ihre Besorgnis auszusprechen. Herbert puffte sie mit dem Ellenbogen. »Sieh mal, Suse, da kommt Schillers Urenkelin.«
Wirklich, da kam Tinchen Schiller ihnen entgegen. Das war ihr rötliches Haar und ihre sommersprossige Nase. Sie zog einen kleinen Handwagen, hoch mit Reisigholz bepackt, das sie wohl im Walde gesammelt hatte. Der Wagen schien schwer. Das Kind war angestrengt und erhitzt.
»Tag, Tinchen«, rief ihr Suse freudig entgegen, »kennst du mich noch?«
Tinchen blieb stehen, strich sich das rötliche Haar aus der heißen Stirn und dachte nach. »Nu freilich«, sagte sie schließlich. »Du bist doch das Mädel aus dem Sternenhaus.«
»Stimmt«, rief Herbert statt seines Zwillings. »Wohnst du da drüben im Schillerhaus?«
»Nu nä – aber dichte bei.« Sie wies auf ein armseliges Häuschen am Ende der Gasse.
»Du, Herbert, wenn Tinchen hier im Schillergäßchen wohnt, muß sie doch sicher mit Schiller verwandt sein«, flüsterte Suse ihrem Zwilling zu.
»Alle Leute, die hier wohnen, sind doch keine Verwandte von Schiller, du Mondkalb«, ließ sich Herbert wenig liebevoll vernehmen.
Suse wurde rot und kämpfte mit den Tränen. Was Tinchen Schiller wohl zu dem »Mondkalb« sagen mochte?
Die sagte gar nichts. Das Mondkalb schien keinen besonderen Eindruck auf sie zu machen. Um so mehr Eindruck aber machte es auf sie, als die alte Dame, die neben den Kindern aus dem Sternenhaus ging, ihren Lederbeutel öffnete und ihr ein Stück Schokolade, die sie immer für die Enkel bei sich hatte, zwischen die Finger schob. »Da, Kind, weil du so fleißig Holz gesammelt hast.«
Tinchen vergaß vor freudiger Überraschung zu danken und griff wieder nach ihrem Wägelchen. »Nu muß ich aber heime«, sagte sie.
»Warte, wir helfen dir«, rief Herbert ritterlich. »Komm, Suse, faß an.« Und ehe Tinchen wußte, wie ihr geschah, hatten sich die Zwillinge vor die Holzequipage gespannt und zogen sie mit vereinten Kräften die Schillergasse entlang. Tinchen schob den Wagen von hinten nach. Suse aber dachte: Wenn mich mein Herbert auch Mondkalb genannt hat, er ist doch ein guter Junge!