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»Was ist nur heute mit unserm Suschen?« fragte die Großmama mittags bei Tisch, »hast du geweint, Herzchen?« Trotzdem ihre alten Augen nicht mehr so scharf sahen, mit ihrem liebevollen Großmutterherzen fühlte sie es, daß da etwas nicht in Ordnung war.
Auch die Mutter hatte schon verschiedentlich das heute auffallend blasse Gesicht des Töchterchens gemustert. War das Kind nicht wohl?
Bei der Frage der Großmama färbten sich Suses bleiche Wangen dunkelrot. »Ach wo, ich habe nicht geweint, bloß – bloß – – –«, die Tränen stürzten ihr plötzlich im Gegensatz zu ihrer Versicherung aus den Augen.
Erschreckt forschte die Mutter nach der Ursache.
»Ich weiß, was die Suse hat – ich weiß«, trompetete Herbert. »Sicher ist sie heute morgen zu spät gekommen oder sie hat einen Tadel gekriegt«, – aber da Suse lebhaft den Kopf schüttelte, riet er weiter: »Na, dann haste dich mit deinen Unzertrennlichen verkracht.«
Allen am Tisch Sitzenden wurde es klar, daß er ins Schwarze getroffen hatte. Denn Suse fuhr wie von einer Tarantel gestochen auf.
»Das geht dich gar nichts an, wenn du auch mein Zwilling bist. Und ich bleibe überhaupt nicht bei Tisch, wenn mich der Herbert so ärgert.« Sie wollte spornstreichs davon.
Aber »hiergeblieben!« rief der Vater, der sein sanftes Suschen gar nicht wiederkannte. »Setze dich auf deinen Platz und iß, Suse. Herbert, du bist jetzt ruhig.«
Es herrschte plötzlich tiefe Stille an dem sonst so lebhaften Familientisch. Selbst Bubi, der mit wohlerzogenem Schwanzwedeln darauf wartete, daß auch er sein Näpfchen gefüllt bekam, empfand die drückende Stimmung und verkroch sich unter des Hausherrn Stuhl.
Nach Tisch kommandierte der Professor seine Familie zum Schneeschippen ab. Bis auf Großmama, die ihr Nickerchen machte, und Frau Annchen, die statt der Minna den Aufwasch übernahm, zogen sie alle mit Schaufeln ausgerüstet hinaus. Ein jeder Hausbesitzer hatte die Straße vor seinem Grundstück für den Verkehr freizuschaufeln. Auch durch den Garten mußte man sich erst den Weg bahnen, denn die Flocken jagten noch immer im tollen Wirbel. Das war eine lustige Arbeit, selbst Mutti griff tapfer mit zu. Minna schaffte mit ihren jungen, kräftigen Armen für zwei. Herbert hatte natürlich dabei nichts als Dummheiten im Kopf. Er bombardierte Minna und Suse abwechselnd mit kalten Schneebällen und begann aus dem zur Seite geschaufelten Schnee einen prächtigen Schneemann zu bauen.
»Junge, hast du denn gar keinen Ernst bei der Arbeit?« sagte der Vater, heimlich schmunzelnd. Er freute sich ja doch, wie die Wangen seines Sprößlings glühten und wie seine Augen in der reinen Winterluft blitzten. Auch Suses blasses Gesicht hatte Farbe bekommen. Sie warf mit ihrer Kinderschaufel, gegen ihre Gewohnheit schweigsam, das weißglitzernde Schneepulver zur Seite. Selbst Herberts Schneemann vermochte sie nicht heiter zu stimmen. Die Mutter beobachtete sie heimlich. Was war nur mit dem fröhlichen Mädel?
»Suschen, wenn du müde bist, höre auf, überanstrengen sollst du dich nicht«, meinte die Mutter besorgt. Steckte etwa irgendeine Kinderkrankheit in dem Töchterchen?
Aber der Professor schien damit nicht einverstanden. »Hier wird nicht gefaulenzt. Ein jeder muß seine Pflicht tun. Die körperliche Bewegung des Schneeschaufelns in freier Winterluft ist ebenso gesund wie jeder Sport. Strenge dich nur ruhig ein bißchen an, Suse, das kräftigt die Muskeln.«
»Nu nadierlich, davon begommst du Graft in die Gnochen, Suschen«, stimmte auch Minna, feuerrot von der Anstrengung, bei.
»Tut unserm Marzipanpüppchen auch not«, ließ sich Herbert vernehmen, den Kopf seines Schneemannes zusammenbackend.
Wie ein spitzer Pfeil bohrte sich das Wort »Marzipanpüppchen« in Suses Herz. Der Schmerz über das Zerwürfnis mit den Freundinnen trieb ihr wieder heißes Naß in die Braunaugen.
»Tauwetter – der Schnee schmilzt!« lachte ihr Zwilling sie aus.
»Hör' mal, mein Herzchen, du mußt nicht so empfindlich sein«, mischte sich der Vater hinein. »Herbert meint es nicht böse, wenn er dich auch mal ein bißchen aufzieht. Das ist Jungenart. Man muß nicht jeden Scherz krumm nehmen.«
Suses Tränen flossen schneller, mischten sich mit Schneeflocken, die sich ihr allenthalben übermütig an Wimpern und Nase hingen. Nun verstand der Vater sie nicht einmal – er war noch ärgerlich über ihre Empfindlichkeit. Oh, einen Scherz nahm sie durchaus nicht krumm. Aber Helga hatte sie doch im Ernst und voller Verachtung mit diesem Ehrentitel belegt – Suse begann zu schluchzen.
Frau Professor Winter schlang den Arm um ihr Mädel. »Komm, Suschen, wir haben genug gearbeitet. Wir beide streiken jetzt.« Sie zog das Töchterchen liebevoll mit sich ins Haus.
Dort griff die Mutter vor allem nach dem Fieberthermometer.
»Erst muß ich wissen, ob du gesund bist, Herzchen.«
»Aber, Muttichen, ich bin doch nicht krank, bloß – bloß – es hat einen ganz andern Grund – – –.« Suse stockte.
»Den du deiner Mutter, deiner besten Freundin, nicht anvertrauen kannst?«
Ach, sie hatte ja noch eine beste Freundin, ihre Mutti – wenn sie auch mit den Schulfreundinnen »schuß« war. Weich und lind, wie heilender Balsam legte sich ihr diese Gewißheit auf das verwundete junge Herz. Und dann schlang Suse die Arme um den Hals ihrer allerbesten Freundin, vergrub ihren Kopf an Muttis Schulter und redete sich all ihr Leid vom Herzen. So – ein tiefer Atemzug hob Suses Brust, als sie geendet hatte. Es war ihr schon leichter, noch bevor die Mutter sich dazu geäußert.
Sanft streichelte die Mutter das goldbraune, kurzgelockte Haar des Töchterchens. Wenn das Kind bloß nicht so mimosenhaft zart und empfindsam wäre! Das war eine schlechte Mitgabe für das Leben, das einen oft recht rauh und schonungslos anpackt.
»Suschen, du tust deinen Freundinnen unrecht«, begann die Mutter. »Sie haben ganz gewiß nicht unfreundschaftlich gegen dich gehandelt. Daß dir der Schneeball ans Auge flog, war ein unglücklicher Zufall, für den die Martinschen Zwillinge nichts konnten. Du erzählst selbst, wie besorgt sie nachher um dich waren, wie sie sich um dich gemüht haben. Du bist diejenige gewesen, die ihre freundschaftlichen Beweise zurückgewiesen hat. Und unter diesem Bewußtsein leidest du – ich kenne doch mein Suschen.«
»Und das Marzipanpüppchen, Mutti? Das war doch nicht nett von Helga, mich so zu nennen. Das war häßlich von ihr.« Es ist ein merkwürdiges Ding um das Gewissen. Selbst wenn man einsieht, daß man etwas nicht richtig gemacht hat, schiebt man dem andern nur zu gern auch noch einen Teil der Schuld zu.
»Du hattest die Helga dadurch gereizt, daß du ihr die Freundschaft aufsagtest. Da ist sie schließlich ärgerlich geworden. Aber darüber brauchtest du nicht so unglücklich zu sein, Herzchen. Im Grunde eures Herzens habt ihr euch ja trotzdem lieb, und jede von euch wünscht wieder Versöhnung. Gib Inge und Helga morgen in der Schule die Hand – dann ist alles wieder gut.«
Wohl dem, der in seiner Mutter seine allerbeste Freundin hat. Wie sie versteht kein anderer zu trösten. Suse wußte gar nicht mehr, warum sie sich so aufgeregt hatte. Mutti hatte gesagt, es würde alles wieder gut werden. Wie gern glaubte sie ihr. Gleich morgen früh wollte sie den Freundinnen die Hand zum Guten Morgen und zur Versöhnung reichen. Damit zeigte sie auch am besten, daß sie das Goethesche Wort beherzigte, daß sie edel war.
Die Welt, die noch vor kurzem für Suse so grau ausgesehen, lag wieder hell und klar vor ihr. Wie lustig es draußen schneite. Und wie drollig Herberts Schneemann in das Flockengestöber glotzte. Suse machte ihm eine Papiermütze mit Puschel. Bubi aber umkläffte ihn feindselig.
Ja, Suse schnallte sogar die Schneeschuhe, die Minna inzwischen herausgesucht hatte, an die Füße und versuchte in Gemeinschaft mit ihrem Zwilling an dem sanften Hang des Gartens wieder ihre Künste aus der Waldschule. O weh, damit sah es nicht besonders aus. Sie waren alle beide ganz aus der Übung gekommen in der langen Zwischenzeit. Selbst Herbert, der damals ganz nett gelaufen, lag ständig auf der Nase. Suse vermochte die langen hölzernen Dinger nun schon gar nicht zu regieren. Sie gingen mit ihr los, ob sie wollte oder nicht. Sekunden der Angst, vorgestreckte Arme, Aufkreischen und – da lag sie. Nicht einmal allein herauskrabbeln konnte sie sich aus dem Schnee mit den langen Holzschnäbeln an den Füßen. Der Bruder mußte ihr die zu einem Knäuel verwickelten Beine und Schneeschuhe erst entwirren, bis sie wieder auf ihren Füßen stand. Angenehm war es Suse ja nicht, immer aufs neue die Bekanntschaft mit dem kalten Schnee zu machen. Sie war nun mal kein Sportsmädel. Aber sie hielt aus.
»Wie gut unserm Suschen der Sport in frischer Winterluft tut«, äußerte sich der Professor erfreut beim Abendbrot. »Rote Wangen, blanke Augen – ein ganz anderes Mädel!«
Die Mutter lächelte und schwieg. Sie wußte, was ihrem Kinde noch besser getan hatte als der Sport.
So einfach, wie Suse sich das vorgestellt hatte, war es nun doch nicht, sich mit den Freundinnen wieder auszusöhnen. Als sie am andern Morgen zur Schule kam, holten die Martinschen Zwillinge gerade die Landkarte zur Geographiestunde. Vor dem Unterricht fand sich keine Gelegenheit mehr zu einer Aussöhnung.
Und während man in Südamerika herumreiste, konnte man doch unmöglich seiner Nachbarin ohne Grund die Hand reichen, besonders wenn man »schuß in alle Ewigkeit« war. Noch dazu, wenn die Zwillinge taten, als ob man niemals miteinander befreundet gewesen sei. Die Schwestern, die sonst Suse zwischen sich genommen hatten, saßen heute eng nebeneinander, sahen in einen Atlas ein und kümmerten sich nicht um die verfeindete Freundin. Sie kamen ihr nicht wie sonst zu Hilfe, als Suse nicht wußte, wie die Hauptstadt von Brasilien hieß. Im Gegenteil, Helga riß sich beim Melden fast den Arm aus der Schulter, und als sie mit lauter Stimme durch die Klasse »Rio de Janeiro« rief, merkte man ihr an, wie stolz sie darauf war, die einstige Freundin in den Schatten zu stellen. War das etwa edel von ihr?
»In der Zwischenpause werde ich Inge die Hand geben. Inge ist doch meine eigentliche Freundin. Helga ist ja nur als Zwilling mit übernommen. Mutti hat gesagt, dann wird alles wieder gut«, tröstete sich Suse, während der Zeigestock nach Buenos Aires reiste und der Lehrer ein mahnendes »Suse Winter, schlafe nicht, paß auf!« hören ließ.
Aber als es zur Zwischenpause läutete, ergriff Helga sofort den Arm der Schwester und zog sie mit hinaus. Suse, sonst die Dritte im Bunde, stand allein mit einem schmerzenden Gefühl der Verlassenheit im Herzen. Sie mochte sich nicht anderen Kameradinnen anschließen. Die hatten ja alle ihre Freundinnen. Auch am allgemeinen Spiel unten im Freien mochte sie sich nicht beteiligen. Da flogen die Schneebälle, da ging es so lustig zu. Nein, danach war ihr nicht zumute. Mit solchen guten Absichten war sie heute in die Schule gekommen. Nun waren sie alle vereitelt. Sie stand allein und würgte an ihrem Frühstücksbrot und an den im Hals aufsteigenden Tränen.
Den ganzen Vormittag über fand Suse keine Gelegenheit zur Versöhnung mit den Freundinnen. Die zeigten ihr ja deutlich, daß sie sich selbst genug waren, daß man sie nicht brauchte. Die litten nicht unter dem feindseligen Verhältnis. Oder doch? Einmal waren Suses Braunaugen Inges veilchenblauen begegnet, nur eine Sekunde. Aber was sie darin gelesen, trieb ihr alles Blut zum Herzen. Am liebsten hätte sie, ohne noch zu überlegen, den Arm um die Freundin geschlungen. Aber zwischen ihnen saß Helga und sah steif geradeaus. Da erlosch der warme Strahl in Inges Augen, in Suses Herzen. Sie war zu schüchtern, um das Versäumte später nachzuholen. »Anmeiern« durfte man sich nicht, das hatte sie von ihrem Zwillingsbruder gelernt.
Auch heute mittag wanderte Suse wieder allein nach Schluß der Schule heimwärts. Herberts bunte Gymnasiastenmütze, die sonst immer an einer bestimmten Ecke auftauchte, blieb leider heute unsichtbar. Die Quarta des Carolo-Alexandrinum hatte Schulausflug. Dabei schneite es unentwegt in endlosem Flockentanz. All die alten Häuser und Gassen Jenas sahen in dem schlohweißen Hermelinpelz wie verzaubert aus. Kein Wagen ratterte. Nur Schlittenglöckchen, zart und leise. Dazwischen fröhliches Kinderjauchzen, lustiger Studentensang. Die kamen sicher recht fidel vom Frühschoppen, die Herren Studenten. Soviel hatte Suse jetzt schon als Professorenkind in Jena gelernt.
Warum konnte nur sie nicht froh sein?
Vor einem kleinen, schiefen und baufälligen Häuschen schaufelte ein altes Mütterchen den Schnee vom Fußsteig. Es schien ihr schon recht sauer zu werden, der armen Alten. Alle paar Minuten mußte sie aussetzen und neue Kräfte sammeln.
Suse hemmte den Schritt. Sie kannte das Mütterchen. An dem kleinen Parterrefenster, an dem es mit seinem Strickzeug zu sitzen pflegte, blühten die Blumen, bunt und üppig. Dadurch war die blumenliebende Suse auf das Fenster und auf die alte Frau dahinter aufmerksam geworden. Jedesmal schaute sie auf ihrem Schulweg, morgens und mittags, nach den blühenden Primeln, Hyazinthen und Tulpen und nach dem alten, freundlichen Gesicht aus. Es erinnerte sie an ihre kleine Omama. Allmählich hatte sich eine stumme Bekanntschaft zwischen ihnen herausgebildet. Sie nickten einander morgens und mittags freundlich zu, die alte Frau und das junge Schulmädel. Zum ersten Male sah Suse ihre alte Freundin heute in der Nähe. Wie verhutzelt und schwächlich die Arme war. Suse grüßte freundlich.
»Die Arbeit ist viel zu schwer für Sie«, sagte sie, dem Mütterchen zuschauend.
»Wird mir auch schon recht sauer.« Die alte Frau atmete mühsam.
»Haben Sie denn keinen, der es für Sie tun kann?« erkundigte sich Suse mitleidig. Wenn man ihrer kleinen Omama zugemutet hätte, Schnee zu schaufeln! Die arme Alte schien noch schwächlicher und hinfälliger.
»Nu nä – nu nä«, sagte sie hüstelnd. »Sonst machte ja mein Sohn, bevor er zur Arbeit geht. Aber er ist krank, der Karl – da muß man's schon selbst schaffen, wenn's einem auch nicht leicht wird.« Sie begann wieder mit Aufbietung aller Kräfte die Schaufel in die weißen Schneemassen zu stoßen.
»Geben Sie her – ich mach's für Sie!« Suses weiches Herz war voll von Mitleid. Keinen Augenblick überlegte sie. Hier galt es einer armen, alten Frau zu helfen. Sie hatte junge Arme, sie würde es schon eher schaffen. Den Schulranzen abgeschnallt und angepackt.
Oh, das ging so leicht trotz der großen, schweren Schaufel. Das Bewußtsein, jemand zu helfen, gab der zarten Suse die Kraft dazu. »Gehen Sie ruhig ins Haus. Sie können sich sonst erkälten und auch krank werden«, riet sie der alten Frau vorsorglich. »Ich bringe die Schaufel nachher schon hinein.«
»Der Himmel lohn' es dir, Kind, unser Herrgott lohn' es dir!« sagte das alte Mütterchen gerührt, »daß du so hilfreich gegen das Alter bist.« Sie ging schwerfällig ins Haus zurück und blickte von ihrem kleinen Blumenfenster aus dankbar auf ihre junge Helferin da draußen.
Hilfreich? »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.« Jetzt wußte Suse, was das Wort bedeutete. Eine große Freudigkeit erfüllte ihr Herz, das noch vor kurzem so traurig gewesen. Der Himmel sollte ihr diese Guttat lohnen – war das denn noch nötig? War das Glücksgefühl, einem Schwächeren helfen zu können, nicht schon Lohn genug?
Im Schweiße ihres Angesichts schaufelte Suse den Bürgersteig vom Schnee frei. Ihre Arme begannen alsbald aller freudigen Genugtuung zum Trotz zu erlahmen. Die Schaufel war groß und schwer. Gestern mit ihrer kleinen Schaufel droben vor dem Sternenhaus war es dagegen Kinderspiel gewesen. Schnell einen Blick zu dem Blumenfester hin, wo ihr das alte Gesicht aufmunternd zunickte. Nun ging es wieder für ein Weilchen. Wenn doch Herbert sie hätte ablösen können. Aber der war ja auf dem Klassenausflug.
Wie ein Krebs so rot war die Suse von der Anstrengung. Kaum konnte sie noch weiter. Krampfhaft die Augen in das lichte Weiß gebohrt, warf sie Schaufel um Schaufel zur Seite. Sie vermochte sie nur noch halbvoll zu laden. Es wollte gar nicht schaffen.
Sie sah nicht, daß in der Straße zwei grüne Wintermäntel, zwei graue Krimmermützen auftauchten, daß die eine Besitzerin derselben auf der gegenüberliegenden Seite stehenblieb, während die andere ihre Begleiterin weiterziehen wollte. Sie fühlte nicht den verwunderten Blick aus Veilchenaugen. Suse empfand überhaupt nichts mehr, nur daß sich durch die Überanstrengung alles vor ihren Blicken zu drehen begann.
»Nicht hinfallen – nur nicht hinfallen«, konnte sie noch denken. Und dann fühlte sie sich plötzlich gestützt, und eine bekannte Stimme rief: »Um's Himmels willen, was fehlt dir denn, Suse?«
Da riß Suse mit Gewalt die Augen, die ihr nicht so recht gehorchen wollten, wieder auf. Sie blickte in tiefblaue, die sich voller Mitleid und Sorge auf sie richteten.
Ja, war denn nur alles ein Traum gewesen, war sie nicht mit Helga und Inge »schuß in alle Ewigkeit«?
Nein, Inge hielt sie fest im Arm und streichelte ihr die Wangen. »Ist dir besser, Suse?« fragte sie besorgt.
Oh, die Suse fühlte sich plötzlich wieder frisch und munter wie der Fisch im Wasser. Das machte nur die Freude, daß Inge wieder gut mit ihr war.
Aber auch Helga sah sie wieder freundlich an. »Was machst du für Sachen, Suse? Ich glaube, du wolltest gerade ohnmächtig werden. Warum schippst du denn hier Schnee vor einem fremden Hause?« forschte sie.
»Die arme, alte Frau dort« – Suse wies zu dem Blumenfenster – »konnte es nicht allein schaffen. Sie quälte sich so arg. Da half ich ihr«, sagte sie schlicht, als sei das ganz selbstverständlich.
Helga drückte ihr die Hand. »Du bist ein guter Kerl«, sagte sie anerkennend.
»Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«, flüsterte ihr Inge liebevoll zu. »Du hast es wahr gemacht!«
Wie wohl tat Suse die Anerkennung der Freundinnen.
Helga hatte bereits die Schaufel ergriffen. »Wir helfen dir. Für dich allein ist es zu anstrengend.« Sie war ein kräftiges Mädel, größer und stärker als Suse. Ihre sportgewöhnten Arme konnten anders zugreifen als die der zarten Suse. Dann kam Inge an die Reihe zur Ablösung. Und bald war der Bürgersteig freigeschaufelt.
Als Suse die Schaufel ins Haus trug, kam ihr das alte Mütterchen schon entgegen. Einen allerliebsten kleinen Myrtenstock hatte sie von ihrem Blumenfenster genommen.
»Den sollst du haben, Kind, zum Dank für deine Nächstenliebe. Und wenn du mal später Braut bist, soll dich diese Myrte schmücken und dir die Segenswünsche einer alten Frau bringen«, sagte sie dankbar.
Wenn sie mal Braut war – das kam Suse doch zu komisch vor. Lachend zeigte sie das Myrtenstöckchen den Freundinnen, die sie wieder, als hätten sie sich nie entzweit, rechts und links unterärmelten. Kein Wort wurde mehr über das Zerwürfnis gesprochen. Jede von den dreien war froh, daß es wieder ausgeglichen war. In dem gemeinsamen Werk der Menschenliebe hatten sich die Freundinnen wiedergefunden.