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Frostgepanzert hatte das neue Jahr seinen Einzug in das Thüringer Land gehalten. Die Saale war zugefroren. Im zartesten Silberspitzenmuster umsäumte Baum und Buschwerk die Ufer. Auf dem spiegelblanken Eis tummelte sich die Jugend mit frostroten Wangen und Augen nicht weniger blank als das Eis. Bunte Studenten- und farbenfreudige Gymnasiastenmützen belebten die weiße Landschaft. Junges Lachen, Rufen und Kreischen unterbrach den Winterschlaf der alten Universitätsstadt.
Professors Zwillinge flogen mit den Kameraden um die Wette in jeder freien Stunde auf dem Eise dahin. Dort holte man sich neue Kraft für die Arbeit des Winters.
Ein fleißiger Winter wurde es im Sternenhaus. Vom Vater an, der bei einer wissenschaftlichen Arbeit für Erdbebenforschung tief in die Nacht hinein saß, bis zu seinen Zwillingen. Außer den Musikstunden, welche die Kinder wieder aufgenommen hatten und zu denen es regelmäßig üben hieß, mußten sie sich auch für die Schule voll einsetzen. Denn Professors Zwillinge wollten zu Ostern mit gutem Zeugnis in die Tertia versetzt werden.
Auch Suse. Sie stand jetzt am Scheidewege.
Ihre Eltern und sie mußten sich darüber schlüssig werden, ob sie ihre Ausbildung weiter in der dritten Klasse des Lyzeums oder in der Tertia des jetzt abzweigenden Realgymnasiums erhalten sollte. Immer vorausgesetzt, daß sie überhaupt versetzt wurde. Suse hatte nun mal nicht viel Selbstvertrauen, von dem ihr Zwilling leider nur zuviel besaß. Trotzdem setzte sie all ihren Fleiß und ihre Pflichttreue daran, um das Ziel zu erreichen. Sie mußte mit in die Tertia hinüber. Nicht aus Ehrgeiz, den kannte Suse nicht, nur aus Freundschaft. Die Martinschen Zwillinge, beide tüchtige Schülerinnen, gingen zu Ostern in die Tertia über. Herbert wurde Tertianer – wenigstens war er felsenfest davon durchdrungen, daß er versetzt werde –, da sollte sie als halber Zwilling allein zurückbleiben? Das schien ihr unmöglich, viel unmöglicher, als daß sie das schwierige Latein, das im Realgymnasium gelernt werden mußte, bewältigte. Sie hatte ja auch das englische Pensum, das sie noch dazu Nacharbeiten mußte, geschafft. Doktor Klemm, der zuerst recht wenig von der neuen Schülerin erbaut gewesen war, zählte sie jetzt zu seinen besten.
»Mit Latein werde ich schon fertig, Mutti, das ist gar nicht so schwer, sagt Herbert, weil ich doch schon Italienisch kann. Und außerdem will Herbert mir dabei helfen. Bitte, bitte, erlaubt doch, daß ich aufs Gymnasium komme.« So hatte Suse die Eltern bestürmt.
Der Professor hatte durchaus nichts dagegen, daß seine Kinder soviel wie nur irgend möglich lernten. »Wissen ist ein Besitz, den man nie verlieren kann«, pflegte er zu sagen. Und warum sollte ein Professorenkind nicht sein Abiturium machen, wo die Berufsmöglichkeiten mit Abiturientenexamen doch entschieden aussichtsvoller waren als ohne dasselbe. Seine Zwillinge sollten mal im Leben Tüchtiges leisten.
Die Mutter hatte Bedenken. Suse war körperlich zart. Ob sie den größeren Anforderungen des Gymnasiums überhaupt gewachsen war? Sie war ein leicht erregbares Kind. Würde sie sich später ins Abiturium hineinwagen? War es richtig, sie den Aufregungen des Examens auszusetzen? Um so mehr, als die Mutter den Lebensweg ihres Kindes, soviel dies möglich war, bereits vor sich sah. Suse mußte unbedingt Gärtnerin werden. Sie umfaßte alle Pflanzen, alles Keimende und Blühende mit Liebe, pflegte es mit solchem Verständnis und solcher Sorgfalt, daß sie sicherlich auf keinem andern Felde so auf dem richtigen Platze war. Ihre Geburtstagshyazinthen hatten sich zu herrlichen Exemplaren entwickelt. Das ganze Sternenhaus war von dem süßen Duft erfüllt. Sobald eine Blüte sich voll erschlossen hatte, wanderte sie zu irgend jemand, den Suse lieb hatte, um auch andern Freude zu machen. Die allerschönste bekam natürlich die Omama. Auf Mutters Nähtisch und auf des Vaters Schreibtisch zwischen all den Sternenkatalogen blühte und duftete es. Das Zimmer ihres Zwillings schmückte die Suse mit einem ihrer Pfleglinge, bis das Hyazinthenglas eines Tages bei einem Boxkampf mit einem Schulkameraden in Scherben ging. Auch Frau Annchen und Minna erfreute Suse mit ihren Blumenkindern. Ja sogar an das Fenster des alten Mütterchens, das ihr den Myrtenstock geschenkt hatte, dachte das dankbare Kind. Was für ein freudiges Gefühl empfand Suse, wenn das runzlige Gesicht ihrer alten Freundin neben der tiefrosa Blüte, die sie selbst gezogen, ihr auf dem Schulweg den täglichen Gruß zunickte.
Die kleine Myrte hatte sich unter Suses Pflege prächtig entwickelt. Sie war gewachsen und stand in frischem Grün. Jeden Morgen, ehe Suse in die Schule ging, versorgte sie ihre Blumen. Ob die Myrte in diesem Sommer wohl blühen würde?
»Damit gann sie sich Zeit lassen, bis du Braut bist, Suschen«, meinte Minna lachend.
Nun, da mußte Suse sich noch lange gedulden, bis die Myrte blühen würde. Vorläufig war es ihr viel wichtiger, daß sie Ostern in die Tertia kam.
Die größte Gegnerin von Suses Wunsch war diesmal die, welche sonst alle Wünsche ihrer Lieblinge bei den Eltern zu unterstützen pflegte – die Großmama. Suses kleine Omama wollte durchaus nichts davon wissen, daß das arme Kind auch noch das unnötige Latein in seinen Kopf hineintrichtern sollte. Wozu? Früher hatten die Mädchen ja auch kein Gymnasium besucht und waren tüchtige Hausfrauen und gute Mütter geworden. Nein, die Großmama konnte sich mit dem modernen Bildungsweg der Mädchen ganz und gar nicht befreunden.
Das Eis auf der Saale zerbarst. Linde Lüfte wehten vom Süden her. Goldene Sonnenstrahlen umspannen Türme, Tore und Giebel der alten Stadt. Und eines Tages war der Frühling da. Ganz heimlich über Nacht war er von den Bergen ins Saaletal hinabgeschritten. Mit seinem Wunderstab hatte er die Weiden und Erlen unten an den Ufern des silbernen Flusses berührt, daß sie seidenweiche Kätzchen angesetzt hatten. Die schlanken Pappeln zum Sternenhaus hinauf hatten sich mit weißen Perlenschnüren geschmückt. Herbert lief natürlich achtlos daran vorüber; aber Suse, die in jeder Pflanze ein lebendes Wesen sah, bemerkte es. Die sah winzige grüne Hälmchen aus braunen Erdschollen sprießen.
Horch – Vogelsang. »Ein Fink, Herbert, hörst du, der erste Fink singt«, rief Suse erfreut.
»Erstens schlägt ein Fink, und zweitens ist es überhaupt kein Fink, sondern eine Meise«, belehrte sie Herr Besserwisser. Aber diesmal hatte er recht. Denn auf die Vogelstimmen verstand sich der Herbert.
Suse aber war es ganz gleich, ob das nun eine Meise oder ein Fink war. Der gefiederte kleine Sänger jubelte dem Frühling entgegen wie sie selbst – das war ihr die Hauptsache.
Auf dem Marktplatz vor den Stammkneipen standen wieder Tische und Stühle. Singende Studenten saßen daran beim Schoppen Wein. Und die Jenaer Schuljugend stand daneben und knöpfte die Ohren auf und pfiff wohl auch selbst das alte Studentenlied mit: »Und in Jene lebt sich's bene, und in Jena lebt sich's gut.« Oh, wenn man selbst nur erst soweit wäre!
Tinchen Schiller aber lief mit einem Körbchen von Tisch zu Tisch und verkaufte die ersten Schneeglöckchensträußchen.
An allen Ecken, in allen Winkeln blühte es plötzlich. Blauveilchen schlugen die blauen Augen nach langem Winterschlaf wieder auf. Jeden Tag brachte Suse von ihrem Schulweg ein neues Frühlingswunder für die Omama oder für ihre Mutti mit heim. Aber auch sie selbst erlebte jeden Tag Überraschungen. Der Sternenhausgarten, der im Herbst, als sie ihren Einzug gehalten, ungepflegt und unansehnlich ausgeschaut, schämte sich vor dem Lenz und begann sich ebenfalls zu schmücken. Ein Mandelbäumchen trug zartrosiges Gewand. Die winzigen Kirschbäumchen hatten sich in weiße Blütenschleier wie Bräute gehüllt. Blauer und gelber Krokus und bunte Tulpen schauten plötzlich lustig in die Frühlingswelt zu Suses Entzücken. Nur die Mutter, welche bereits im Herbst die Zwiebeln gepflanzt hatte, wußte, woher sie gekommen. Das bereits umgegrabene Erdreich, bei dem auch die Zwillinge mit Hand angelegt hatten, wurde kunstgerecht mit Rasen besäet. Ein Gärtner hielt seinen Einzug, der Wege absteckte, Beete abzirkelte und bepflanzte, Obstspaliere und Rosenbäumchen setzte. Suse ging ihm nicht von der Seite. Verständnisvoll kam sie all seinen Anordnungen nach und hatte selbst die größte Freude an ihrer Tätigkeit.
»Das kleine Fräulein kann bei mir als Lehrling eintreten«, scherzte der Gärtner, als Suse ein Beet mit Tausendschönchen und eins mit Stiefmütterchen kunstgerecht bepflanzt hatte.
»Dazu kann später mal Rat werden«, meinte Frau Professor lächelnd.
Auch Herbert hatte sich natürlich mit seinem Bubi zur Gärtnerarbeit eingefunden. Aber sie waren alle beide nicht recht dazu zu gebrauchen, weder Bubi noch sein junger Herr. Mit dem größten Eifer begann Herbert nach Angaben des Gärtners einen Gartenplatz anzulegen. Aber er hatte nicht die Genauigkeit und Sorgfalt dabei wie sein Zwilling. Der Platz wurde krumm und schief. Herbert verlor alsbald die Lust und vertiefte sich in zoologische Betrachtungen eines Prachtexemplars von Mistkäfer. Auch Bubi war nicht recht am Ort bei der Gartenarbeit. Er scharrte erregt nach Maulwürfen und meistens an den Stellen, die gerade frisch eingesät waren. Da war Suses Piccola doch viel unschädlicher. Die saß auf einem Kirschbäumchen, beobachtete sachverständig das Fortschreiten der Arbeit und miaute lenzfroh in den blauen Frühlingstag hinein.
Aus dem Parterrezimmer schauten alte Augen in das junge Keimen und Werden, freuten sich an goldenem Sonnenschein, an frischem Grün und blieben schließlich an den Enkelkindern haften. Diese jungen Menschenknospen, deren Entwicklung die Großmama freudig beobachtete, das war ihr Frühling.
Die Bepflanzung der Balkons hatte Suse allein übernommen, nur Mutti, deren Schönheitssinn ausschlaggebend war, durfte ihr dabei behilflich sein. Da wurden Feuerbohnen und bunte Winden gepflanzt in leuchtenden Farben. Wenigstens waren sie auf den Tüten, welche die Erfurter Sämereien enthielten, so aufgemalt. Suse hoffte zuversichtlich, daß sie sich ihrem Vorbilde entsprechend entwickeln würden.
Herbert wünschte seinen Balkon allein zu bepflanzen. Er wollte dort allerlei Schlingpflanzen und Moos ziehen, die er später für sein Terrarium und Aquarium verwenden konnte. Dagegen aber erhob Suse mit ungewöhnlicher Energie Einspruch. Der Balkon vor ihren Zimmern war gemeinsam. Er mußte einheitlich bepflanzt werden. Ihr Schönheitssinn rebellierte gegen das »olle Gestrüpp«, das Herberts Balkon schmücken sollte. Die als Schiedsrichter angerufene Mutter mußte dem Töchterchen recht geben. So wurden auch vor Herberts Stube Feuerbohnen und bunte Winden gesät.
Merkwürdig – die Saat auf Herberts Balkon wollte nicht so recht aufgehen. Sie hatte doch dieselbe Sonne, denselben kräftigen Boden, die gleiche liebevolle Pflege von der jungen Gärtnerin. Denn Suse dachte gar nicht daran, Herbert das Gießen seiner Balkonkästen zu überlassen. Seitdem sie bemerkt hatte, daß es ihrem Zwilling viel mehr darauf ankam, Piccola, die ihren Stammplatz unter dem Balkon in der Sonne hatte, eine tüchtige Dusche mit der Gießkanne zu verabfolgen, als die Blumen zu gießen, übernahm sie selbst das Amt. Aber die Feuerbohnen, die in ihren Kästen bereits die ersten kleinen Blättchen aus dem Erdreich in die große Welt hineinstreckten, wollten und wollten bei Herbert nicht herauskommen. Woran lag das bloß?
Ein Zufall sollte das Rätsel lösen. Bubi und Piccola lagen sich wieder mal draußen auf dem Balkon in den Haaren, während Suse an ihrem Schulpult fleißig übersetzte. Auf das jämmerliche Mauzen kam Suse ihrem Kätzchen zu Hilfe. Da sah sie, daß ihr Zwilling sich an den Blumenkästen zu schaffen machte, ohne wie sonst Bubi auf Piccola zu hetzen.
»Herbert, was tust du denn da?« fragte Suse, die feindlichen Parteien trennend.
»Och, gar nichts.« Herbert schien ein bißchen verlegen, das kam bei ihm nicht oft vor.
»Du hast doch da was in der Hand, zeig' mal her.« Suse wurde setzt argwöhnisch. Wollte er etwa irgendeins seiner Viecher heimlich in ihre junge Saat setzen?
In dem Erdreich waren an verschiedenen Stellen Löcher gebohrt. Irgendwo guckte sogar eine Bohne heraus.
»Der verflixte Bubi hat hier in den Blumenkästen nach Maulwürfen gegraben – aber wehe ihm, wenn ich ihn mal dabei erwische«, rief die meist sanfte Suse aufgeregt, auf die Erdlöcher weisend.
Der kluge Hund schien zu verstehen, daß man ihn beschuldigte. Er rieb den Kopf an Herberts Bein und sah mit seinen feuchten Augen anklagend zu ihm empor.
Diesen Blick des treuen Vierfüßlers konnte der Junge nicht ertragen. »Bubi kann nichts dafür. Er hat nicht nach Maulwürfen gegraben, sondern ich – – –«
»Du hast nach Maulwürfen gegraben?« rief die Schwester verwundert.
Herbert tippte statt der Antwort gegen die Stirn. »Ich habe bloß nachgesehen, ob die Bohnen schon Keimblätter ansetzen. Eine ist schon aufgeplatzt.« Er öffnete seine Hand. Außer einem tintenbeschmierten Zeigefinger kam eine aufgeplatzte Bohne zum Vorschein.
Einen Augenblick stand Suse starr. Dann aber kam Leben in sie. Wie eine Mutter, der man den Säugling aus den Kissen gerissen, stürzte sie auf den Jungen los.
»Was – die Bohnen hast du ausgegraben? Die müssen doch in der dunklen schützenden Erde bleiben, bis sie so weit sind, daß sie von selbst herauswachsen. Darum sind sie bloß nicht aufgegangen.«
»Ich kann mit meinen Bohnen machen, was ich will. Ich habe täglich nachgesehen, ob sie noch nicht kommen. Du brauchst dich überhaupt nicht mehr darum zu kümmern«, sagte der Bruder patzig.
»Tu ich auch nicht, tue ich ganz bestimmt nicht mehr.« Ein Lamm war die Suse schließlich auch nicht. »Und wenn's auf deinem Balkon wie auf einem Misthaufen aussieht, ich kümmere mich nicht mehr darum.« Sprach's und drehte ihm den Rücken.
Drin am Schulpult aber tropften Tränen auf das französische Heft. Denn es ging der weichherzigen Suse jedesmal nahe, wenn sie sich mit ihrem Zwilling zankte. Trotzdem sie sich eigentlich schon daran hätte gewöhnen müssen.
Herbert begab sich zu seinen Tieren. Ihm ging solche kleine Meinungsverschiedenheit mit der Schwester weniger zu Herzen. Die Raupe, die er zum Entpuppen sorglich in ein Kästchen mit Blättern gebettet hatte, war ihm ungleich wichtiger. Was für ein Schmetterling mochte wohl daraus werden?
Draußen auf dem Balkon begann Bubi wieder Piccola anzuknurren und diese einen Buckel zu machen. Sie setzten die Feindseligkeiten ihrer jungen Besitzer fort. Die Frühlingssonne aber droben am Himmel lachte aus zarten Flatterwölkchen die Menschen und Tiere aus, die nicht mal an solch einem herrlichen Lenztage Frieden miteinander halten konnten.
Immer verschwenderischer schüttete der Frühling seine Blüten über das Saaletal aus. Drunten im Paradies, den herrlichen Parkanlagen am Saaleufer, wanderte man wie auf einem Blumenteppich von Anemonen, Vergißmeinnicht, Himmelsschlüsselchen und Tausendschönchen. Auch über die sanft ansteigenden Berge waren grünsamtene Teppiche, mit Veilchen, Primeln und Schlüsselblumen bestickt, ausgebreitet. Ganz Jena war ein Blumengarten.
Da hielt es einen nur schwer bei den Büchern daheim. Vom Balkon sah man die Buben drüben auf den Wiesen Drachen in die weiche Frühlingsluft steigen lassen, noch höher als der Fuchsturm. Und wenn man sich selbst als angehenden Tertianer auch schon zu groß dazu dünkte, die vier Wände des Zimmers wurden einem jetzt zu eng. Hurra – in drei Tagen gab es Osterferien!
Suse stimmte in das Hurra nicht ein, denn vor den Osterferien türmte sich noch ein Berg, der sich ihr auf die junge Seele wälzte: die Versetzung.
Zwar hatten ihr die Freundinnen Inge und Helga unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß sie bestimmt versetzt würde. Der Vater habe sich lobend über sie und ihr Zeugnis geäußert. Aber Suse, die kleinmütige, glaubte es nicht eher, als bis sie es schwarz auf weiß hatte.
Und nun hielt sie die Bestätigung in Händen; eine gute Osterzensur. Suse Winter wurde in die Tertia versetzt. Der Ordinarius der vierten Klasse, Professor Martin, sprach ihr seine Anerkennung aus, daß sie durch Eifer und Fleiß das Ziel erreicht habe, trotzdem sie es doch schwerer gehabt hätte als ihre Schulkameradinnen.
Hurra! Jetzt jubelte auch Suse. Ihre Braunaugen strahlten mit der goldenen Sonne um die Wette. Die ganze Welt hätte sie umarmen mögen vor Glück. Nun hatte sie mit ihrem Zwilling Schritt gehalten.
Ihrer alten Freundin, die auf der Hausbank den warmen Frühlingstag genoß, rief sie die Glücksbotschaft zu.
»Nu, das wäre ja noch schöner, wenn solch ein braves Kind kein gutes Zeugnis bekommen sollte!« kopfnickte die Alte anerkennend.
Suse hatte das Gefühl, ein jeder müsse ihr das Glück ansehen, jeder müsse sich mit ihr freuen. Waren die lustigen Studenten, die zur Universität oder auf den Fechtboden zogen, nicht heute besonders fidel? Jubilierten die Vögel in den frühlingsgrünen Büschen nicht noch heller als sonst? Und die Schulkinder, Buben und Mädel, die allenthalben mit der Mappe ihren Weg kreuzten, gingen alle mit frohen, lachenden Augen in die Osterferien.
Alle? Aus der Bürgerschule kam Suse eine Schar Mädchen entgegen. Mitten unter dem schwatzenden Trupp eins, das sich die Schürze vor die Augen hielt. Aber das rötlichblonde Haar, die sommersprossige Stirn, die kannte Suse. Tinchen Schiller war's – warum weinte sie nur?
Mitleidig trat Suse ihr entgegen. »Tinchen, warum weinst du, hast du ein schlechtes Zeugnis bekommen?« erkundigte sie sich.
»Gäht dich nichts an«, sagte Tinchen abweisend. Aber als sie dem teilnehmenden Blick der braunen Augen begegnete, schluchzte sie plötzlich auf: »Sitzengeblieben bin ich – meine Mutter schlägt mich halbtot.«
Suses große Freude war jäh erloschen. Sie fühlte den Schmerz des armen Tinchens, als ob es ihr eigener wäre. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schob sie ihren Arm in den Tinchens. »Komm, ich geh' mit dir nach Haus und bitte deine Mutter, nicht böse zu sein«, sagte sie, denn sie kannte Tinchens Mutter von den großen Waschfesten, wo Frau Schiller im Sternenhaus wusch. Trotzdem es Suse drängte, mit ihrem guten Zeugnis heimzukommen, dachte sie erst an andere.
»Das willst du wirklich tun?« fragte Tinchen verwundert, denn das Leben hatte sie nicht mit Freundlichkeiten verwöhnt.
»Freilich, komm!« Sie schlugen den Weg zum Schillergäßchen ein.
In dem schiefen, baufälligen Häuschen stand Tinchens Mutter am Waschfaß. Man konnte durch das offene Fenster vom Hof aus in die Küche sehen.
»Ich trau mich nicht rein«, sagte Tinchen, ihre junge Begleiterin am Arm zurückhaltend. »Ich gäh lieber ans Wasser, Vergißmeinnicht pflücken. Die tu ich denn verkaufen und gäh' erst abends heime, wenn ich Geld dafür bekommen habe. Dann schimpft die Mutter nicht so sehr.«
»Nein, Tinchen, wir sagen deiner Mutter lieber gleich die Wahrheit. ›Mit Ehrlichkeit kommt man immer am weitesten‹, sagt meine Mutti.« Suse betrat die dampferfüllte Küche, Tinchen mit sich ziehend.
»Frau Schiller, Tinchen ist so traurig«, begann sie in das Spritzen und Rubbeln hinein. Denn für andere überwand Suse sogar ihre Schüchternheit.
Die Frau hielt in der Arbeit inne. »Traurig ist sie, die Tine? – Nu, da wird sie wohl wieder was ausgefressen haben. Es ist ein Kreuz mit dem Mädel. Sie tut nun mal nicht gut. Nu, und was willst denn du hier?«
»Ich bin doch die Suse Winter vom Sternenhaus, wo Sie immer waschen. Und ich wollte Sie sehr bitten, liebe Frau Schiller, doch nicht böse auf Tinchen zu sein, weil sie nicht versetzt worden ist. Sie wird sich gewiß künftig mehr Mühe geben«, bat Suse.
»Sitzengeblieben ist sie, die Tine – ich hab's ja gewußt. Frech und faul, wie sie zu Hause ist, so ist sie auch in der Schule. Aber ich werde dir – – –.« Die Frau schien nicht übel Lust zu haben, das Stück nasse Wäsche, das sie in den Händen hielt, der Tochter um die Ohren zu schlagen.
»Bitte, tun Sie Tinchen nichts, Frau Schiller.« Allen Mut zusammenraffend, trat Suse dazwischen. »Sie wird sich bestimmt bessern.«
War es nun der bittende Blick der braunen Kinderaugen, dem so leicht keiner widerstehen konnte, oder weil sich Frau Schiller vor dem keinen Fräulein aus dem Sternenhaus schämte, sie ließ das erhobene Wäschestück wieder sinken.
»Aber wähe dir, wenn du dich wieder rumtreiben wirst, anstatt deine Schularbeiten zu machen.« Damit begann Frau Schiller wieder auf ihrer Wäsche herumzurubbeln, daß der Seifenschaum spritzte.
Suses Aufgabe war erfüllt. Tinchen zog sie in den Flur hinaus.
»Du, ich dank' dir auch, daß du so gut zu mir bist wie noch keen anderer Mensch. Ich tu dir das mein Läbtag nicht vergessen und – – –«
»Du brauchst mir nicht zu danken, Tinchen«, wehrte Suse ab. »Bloß denken sollst du an das Versprechen, das ich deiner Mutter gegeben habe, daß du dich bessern willst. Ja?«
»Nu, ich will mal zusähen.« Zu mehr konnte sich Tinchen Schiller nicht verstehen.
Merkwürdige Gefühle bewegten Suse, als sie jetzt heimwärts schritt. Die große, jubelnde Freude, die sie vorher empfunden, war beeinträchtigt durch das Erlebnis mit Tinchen. Da war ein Kind wie sie selbst, das nicht guttat, das kein schönes Zuhause hatte wie sie, keine liebevollen Eltern. Denn Tinchens Vater war schon lange tot. Wie dankbar mußte sie selbst dem lieben Gott sein.
Herbert, der neugebackene Tertianer, hatte heute vergeblich nach seiner Zwillingsschwester auf dem Heimweg von der Schule Umschau gehalten. »Na, da sieht's mulmig mit der Versetzung aus«, meinte er zu seinem Schulfreunde, »wenn die Suse nicht auf mich wartet. Das Lyzeum hat vor uns geschlossen.« Aber als sie auch daheim noch nicht war, als eine halbe Stunde verging, ohne daß sie kam, erschien die Sache immer bedenklicher.
»Sicher ist Suse kleben geblieben«, äußerte er zur Großmama, der er sich in seiner neuen Tertianerwürde vorstellte.
»Das wäre für das Kind selbst eine traurige Erfahrung. Aber ich würde es mit Freuden begrüßen, wenn sie dadurch nicht aufs Gymnasium käme«, meinte die alte Dame.
»Realgymnasium«, verbesserte Herbert. Er war mit seinem Zeugnis, das überall »Genügend« aufwies, nur in Latein und Naturgeschichte »Gut« hatte, recht zufrieden. Und die Eltern waren es auch. Den kleinen Mahnzettel, den der Lehrer ihm noch mündlich gegeben hatte, daß er künftig noch etwas bescheidener werden solle, daraus machte er sich nicht viel.
»Es ist mir unverständlich, wo Suschen bleibt. Hast du sie denn nirgends unterwegs getroffen, Herbert?« meinte die Mutter, unruhig werdend.
»Sie schämt sich sicherlich, daß ich Tertianer bin und sie nicht.« Herbert empfand zu seiner eigenen Verwunderung auch nicht mehr die volle Freude an seiner Versetzung. Wenn er die Suse auch oft ärgerte, wenn sie sich auch zankten, sie war doch sein Zwilling.
»Das Kind soll sich nur nicht aufregen, falls es nicht in die Tertia überkommen ist«, sagte die Mutter, aus dem Fenster Ausschau haltend. »Suse war fleißig und hat ihre Pflicht getan. Erreicht sie es trotzdem nicht, so hat sie eben noch nicht die Reife für diese Klasse.«
»Jetzt kommt sie«, rief Herbert dazwischen; »Bubi rast zur Gartentür.« Der Junge jagte hinterdrein.
Suse kam die lichtgrüne Pappelallee herauf. Aber nicht im Hopsaschritt wie gewöhnlich, sondern ruhig und nachdenklich.
Na, wenn die versetzt ist, will ich Mops heißen, dachte Herbert. »Suse,« schrie er ihr entgegen, »es ist nicht schlimm, wenn du klebengeblieben bist. Mutti ist nicht böse, weil du noch nicht reif bist. Und Omama freut sich sogar darüber.«
»Bist du versetzt?« fragte Suse näherkommend als erstes.
»Na und ob!« Herbert warf sich nun doch etwas in die Brust.
»Ich auch.«
»In die Tertia? Schwindel! Du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.«
»Weil Tinchen Schiller sitzengeblieben ist, darum und weil – –«
»Was geht dich denn das doofe Ding an! Wo sie noch nicht mal eine Enkelin von Schiller ist. Die Hauptsache, du bist versetzt. Zeig' mal deine Zensur.« Herbert prüfte sie eingehend, und auch Bubi versuchte davon Kenntnis zu nehmen. Da stand lauter »Gut« und »Sehr gut« zu lesen. Die Suse hatte ein viel besseres Zeugnis als er selbst. Ob der Lehrer nicht doch mit der Bescheidenheit recht hatte?
»Fein!« sagte Herbert anerkennend. »Aber wenn du erst in der Tertia bist, wirst du froh sein, wenn du überall ›Genügend‹ bekommst. Im Gymnasium wird viel strenger zensiert.« Er mochte sich doch nicht allzusehr von seiner zwei Stunden jüngeren Schwester überflügeln lassen.
Das wurden frohe Festtage im Sternenhaus. Der Osterhase legte allenthalben seine süßen Gaben in Busch und Gras zwischen den blühenden Osterbeeten. Das schönste Osterei aber bekamen die Zwillinge für ihre Versetzung in die Tertia vom Vater: eine Frühlingsfahrt nach Eisenach und der Wartburg.