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17. Kapitel. Auf – zur Wartburg!

Maiensonne umspann mit ihrem goldenen Strahlengespinst das alte Nikolaitor von Eisenach. Der düster massive Rundbogen ließ eine Schar wanderfroher Menschen auf den sonnenhellen Karlsplatz hinaus.

»So, Kinder, nun seid ihr im Herzen Deutschlands, in der alten Wartburgstadt Eisenach«, nahm einer der lodenbewamsten Herren das Wort.

»Wo ist die Wartburg, Vater, wo?« rief ein Bürschchen von zwölf, dreizehn Jahren, mit blitzenden Blauaugen Umschau haltend.

»Ihr werdet sie bald zu sehen bekommen. Vorher aber gibt's noch anderes zu schauen, Herbert. Dort das Denkmal Luthers, der als Kurrendejungen hier in den Straßen Alt-Eisenachs vor den Türen der Bürger fromme Lieder sang. Damals ahnten sie es noch nicht, die biederen Eisenacher, daß der Welt einst aus dem Munde des armen Kurrendejungen die Reformation verkündet werden sollte.«

»In Jena haben wir auch Luther-Erinnerungen.« Die Jugend hielt sich nicht lange bei dem Denkmal auf. Die drängte es weiter. Drei Mädel und ein Junge, zwei Zwillingspärchen, den Rucksack auf dem Rücken, so zogen sie in Begleitung eines lustig blaffenden schwarzen Hündchens frohgemut durch die Wartburgstadt. Professor Martin hatte sich mit Frau und Töchtern der Familie des Kollegen Winter für den Ausflug nach Eisenach angeschlossen. Die Winterschen Zwillinge hatten die Nachricht mit geteilten Gefühlen begrüßt. So sehr sie sich freuten, in der blondzöpfigen Inge und Helga lustige Wandergefährten zu haben, es war etwas bedrückend, daß der Vater der Schwestern dabei war. Wenn man auch gut Freund mit Professor Martin war, es war immerhin der Lehrer, der einem plötzlich eine unbequeme Frage aus der geschichtlichen Vergangenheit der Wartburg vorlegen konnte.

Überall sah man Ausflügler, Rucksäckler und Wanderfreudige. Der herrliche Maiensonntag hatte alles aus den Stuben gelockt. Vorüber am Marktplatz mit dem bunten Rathaus, an dem Marktbrunnen mit dem in der Sonne golden funkelnden heiligen Georg. Professor Martin wies auf den alten Bau des ehemaligen Dominikanerklosters. »Hier ist seit Jahrhunderten das Eisenacher Gymnasium, Kinder – nun, wer hat Lust, in die Schule zu gehen?«

»Keiner«, riefen die Mädel lachend, und Herbert setzte hinzu: »Wir sind froh, daß wir Sonntags aus der Penne raus sind.«

»Nun, da muß ich euch etwas anderes zeigen. Schaut her, Johann Sebastian Bach. Er war Eisenacher Kind, der Meister der schlichtfrommen Kirchenmusik, die uns noch heute tief zu Herzen geht.« Professor Martin wies auf das Bach-Denkmal, an dem ihr Weg vorüberführte.

»Gleich werden wir sein Geburtshaus sehen«, setzte Professor Winter hinzu. »Aber zuvor machen wir noch einen Abstecher drüben ins Lutherhaus. Hier hat Luther als Kurrendeschüler Aufnahme gefunden.« Ein altes Fachwerkhaus war's aus dem Mittelalter. Die Kinder konnten beim besten Willen nichts Besonderes daran entdecken, höchstens daß »Lutherkeller« über dem Eingang zu lesen stand. Man hatte dort ein Lokal errichtet. Auch die schlichte Lutherstube mit einigen Erinnerungen an den Schüler Luther war nichts Besonderes, fand Herbert. »Da ist ja mein Zimmer im Sternenhaus tausendmal schöner.«

»Die Erinnerung an große Vergangenheit gibt diesen Orten ihre Weihe«, setzte die Mutter ihrem enttäuschten Jungen auseinander.

»Unsere Kinder sind wohl noch zu jung dazu, um das zu fühlen, Fränzchen«, meinte die Großmama, die mit jugendlichem Interesse die denkwürdigen Stätten betrachtete.

Durch Gassen und Gäßchen hindurch zu einem Häuslein, schlicht und bieder, klein und unansehnlich.

»Man sieht es ihm nicht an, dem Bachhaus, daß der größte protestantische Kirchenmusiker und Organist hier der Welt geschenkt wurde. Daß aus diesen engen, bescheidenen Stuben sich der gewaltige Genius emporgerungen hat«, sagte der Vater nachdenklich.

Allerlei alle Musikinstrumente fesselten die Kinder.

»Nichts anfassen, Herbert«, mahnte die Mutter erschreckt, als der Junge fürwitzig auf einem allen Spinett zu klimpern begann.

Die Zupfgeigen, die an den Wänden hingen, interessierten die Martinschen Zwillinge als Wandervögel besonders.

»Die Bachs sind eine alte Musikerfamilie«, erzählte Professor Martin. »Schon Sebastians Vater war Ratsmusikus hier in Eisenach. Seine Brüder, seine Söhne waren Kantoren, Meister im Orgelspiel, Kapellmeister und Komponisten. Erinnert mich, Mädels, daß ich mit euch ›Friedemann Bach‹ lese. Das ist einer und wohl der bedeutendste von Bachs elf Kindern. Ihr bekommt da einen Begriff, wie bescheiden, ja dürftig es in dem Bachschen Kantorenhause zu Leipzig zuging; wie das Genie, ähnlich dem Leben Schillers, trotz Anerkennung und Auszeichnungen der Fürsten mit der Not des Daseins zu ringen hatte und sich dennoch über all die kleinen Tagessorgen hinweg zur höchsten Kunst entfaltet hat. Herbert und Suse, wenn ihr euch an der Bachlektüre beteiligen wollt, ihr seid willkommen.«

»Ja, danke, gern«, knickste Suse wohlerzogen, während Herbert sich gegen seine sonstige Gewohnheit diesmal zurückhaltend zeigte. Was – an diesen herrlichen Maientagen sollte er außer den Schularbeiten, die einem schon sauer genug wurden, noch bei einem Buche sitzen? Jetzt gehörte jede freie Zeit dem Sport.

Als ob Professor Martin Gedanken lesen konnte, fügte er lächelnd hinzu: »Ich glaube, es ist richtiger, wir lassen uns die Lektüre für Winterabende.« Das war Herbert aus dem Herzen gesprochen.

Aus dem winkligen alten Eisenach hinaus ging es jetzt in die Gartenstadt der neueren Villen, rings um den prächtigen Karthausgarten gelagert.

»Das ist der Kurpark Eisenachs mit Trink- und Wandelhalle«, erklärte Professor Martin wieder als Führer. »Eisenach rückt durch seine herrliche Lage und durch die Heilkraft seiner Quellen immer mehr in die Reihe der Kurorte auf.«

»Es ist in der Tat ein Paradies.« Frau Professor Winter trank das Maigrün der Bäume, das Blühen der blauen, roten und weißen Fliederbüsche ringsum mit dankbaren Augen. Die Kastanien hatten ihre goldenen Blütenkerzen entzündet, Schneeballbüsche und Goldregen beugten sich unter der Fülle ihrer Blütenlast.

Suse stand ganz verzückt in dieser unermeßlichen Blumenpracht. »Mutti, solch ein Beet mit blauen und gelben Schwertlilien müßten wir uns auch noch anlegen. Sieh mal, Herbert, wie dort die Klematis das ganze Haus umrankt, wie in Italien, nicht?«

Aber Herbert hatte anderes zu sehen. »Die Wartburg« – rief er begeistert aus, »seht doch mal, die Wartburg!« Aus lenzgrünen Waldungen schaute die alte Burg hoch vom Bergesrücken ins Eisenacher Tal. Herbert vergaß seine Ritterpflichten gegen die Großmama, die seinen Arm genommen hatte. Allen voran lief er der Wartburg entgegen, als gelte es, sie so rasch wie möglich zu stürmen.

»Hiergeblieben, Heißsporn«, rief der Vater hinter ihm her. »Wir sind hier gerade bei der Fritz-Reuter-Villa. Seht ihr das weiße Haus dort mitten in Frühlingsgrün gebettet? Hier hat Fritz Reuter, unser großer Humorist, nach schweren Erfahrungen seinen Lebensabend friedlich unter Blumen und Bäumen verbracht. Ihr kennt doch Reuter, Kinder?«

»Natürlich, Vati, er hat doch neulich im Rundfunk so ulkige Sachen erzählt.«

»Das war ein anderer, Suschen. Der plattdeutsche Dichter Fritz Reuter lebt nicht mehr. In Jena hat er studiert, büßte aber seine freiheitliche Gesinnung mit Festungshaft. ›Ut mine Festungstid‹ schildert voller Humor diese schweren Jahre. Er gehörte zu den Menschen, die mit einem lachenden und einem weinenden Auge zugleich das Leben betrachten. Das ist das Merkmal des wahren Humors.«

»Inge und Helga, ihr beide müßt doch Reuter kennen. Wir nennen euch ja aus Scherz oft ›Mining und Lining‹. Das sind die Zwillinge aus seiner Stromtid«, rief Frau Professor Martin den Voranschreitenden nach.

»Wie die Druwäppelchen Mining und Lining, so rosig sehen Ihre beiden auch aus«, meinte Frau Professor Winter lächelnd. Die drei Damen bestiegen jetzt einen Wagen, der sie bequem zur Wartburg hinaufbrachte, während die beiden Gelehrten den leichtfüßig emporsteigenden Kindern folgten. Aus jugendfrischen Kehlen erklang Lied um Lied mit den Vögeln in maigrünen Wipfeln um die Wette.

»Was für eine allerliebste Stimme Ihre Suse hat, Kollege«, meinte Professor Martin, dem Sange lauschend, zu seinem Begleiter. »Wirklich ein reizendes Mädel, die Suse. Sie hat es uns allen in der Schule mit ihrer bescheidenen, lieben Art angetan.«

»Ja, mein Herr Sohn hat von der Bescheidenheit seines Zwillings leider nur wenig abbekommen. Ich wünschte, die beiden könnten sich ergänzen. Was der eine zuviel hat, hat die andere zuwenig.«

»Herbert ist ein intelligenter Junge, der seinen Weg im Leben gehen wird. Um den braucht Ihnen nicht bange zu sein, Kollege.«

Vorläufig ging Herbert nicht seinen Weg, sondern er jagte mit Bubi um die Wette trotz des steilen Anstiegs den Berg hinauf. Er nahm sich heute nicht mal Zeit, die Martinschen Zwillinge an den Blondzöpfen zu ziehen, womit er sie nur zu gern ärgerte. So eilig hatte er es, die Burg zu erreichen.

Immer näher kam das ragende graue Gemäuer, immer deutlicher sichtbar wurde das Kreuz hoch oben auf dem Bergfried. Und ehe man es sich versah, tauchte aus lichtgrünem Blätterkranz die herrlichste der deutschen Burgen mit ihren trutzigen Türmen und Mauern, ihren Schießscharten, Söllern und Erkern dicht vor den Wanderern auf.

Die Professorenkinder nahmen sich nicht mal Zeit, droben in dem »Gasthaus für fröhliche Leut« ein Glas Milch zur Erquickung zu trinken. Sie konnten es nicht erwarten, die Burg zu besichtigen.

Der Wagen mit den drei Damen war inzwischen auch eingetroffen.

»Heute erlebt ihr Geschichte, Kinder«, wandte sich Professor Martin an die Jugend. »Jetzt tauchen wir hinein in das Mittelalter.«

Über felsige Stufen ging es zur Schanze empor, an Wachttürmchen und Geschützen vorüber. Sorgsam führte Suse ihre »kleine Omama«, daß ihr der Weg nur nicht zu beschwerlich wurde.

Ein herrlicher Ausblick über den maigrünen Thüringer Wald eröffnete sich vor den begeisterten Blicken. »Dort drüben seht ihr den Inselsberg, und hier über dem Burschenschaftsdenkmal erscheint der Hörselberg, der Zauberberg, in dem Frau Venus den Tannhäuser gefangen hielt«, erklärte einer der Herren.

Suse warf einen etwas unbehaglichen Blick zu dem Hörselberg hinüber, während Herbert erinnerte: »Vater, du wolltest uns mal mitnehmen, wenn die Oper ›Tannhäuser‹ im Theater gegeben wird.«

»Heute seht ihr erst mal die Wartburg, wo die Tannhäuser-Oper spielt«, erwiderte der Professor. »Es gibt wohl keine Burg, die so reich an Sagen ist wie diese. Schon ihre Gründung beruht auf einer Legende. Ludwig der Springer, der kühne Graf von Thüringen, hatte sich bei der Jagd verirrt. Er geriet auf einen Felsgrat, hoch über dem Hörseltal. Da rief er, begeistert von der Lage des Berges und dem herrlichen Ausblick: ›Wart', Berg, du sollst mir eine Burg werden.‹ Bald darauf baute er dort eine trutzige Burg und nannte sie ›Wartburg‹.«

»Ist diese Gründung der Burg nicht von dem Maler Moritz v. Schwindt als Wandgemälde festgehalten worden?« erkundigte sich Frau Professor Winter.

»Jawohl, wir sehen das Bild später im Landgrafensaal. Aber jetzt wollen wir erst mal einen Blick von hier auf die Burg selbst werfen. Drei mächtige Tore sperren den Durchgang zur Vorburg. Herbert, hier kannst du eine Zugbrücke sehen. Wenn Feinde nahten, wurde sie hochgezogen.«

»Ach, Vater, wollen wir sie nicht mal hochziehen?« Herbert war nicht von der Zugbrücke fortzubekommen.

»Aber, Herbert, denke mal, wenn das jeder Wartburgbesucher verlangen würde. Von hier aus sieht man besonders malerisch den Bergfried, das Fachwerk der Wehrgänge und das Landgrafenhaus mit seinen prächtigen Rundbogen. Diese Mauern haben manchem harten Kampf Trotz bieten müssen. Manche Fehde ist um die Wartburg entbrannt. Der Bauernkrieg und der Dreißigjährige Krieg haben gegen diese alte Burg getobt.«

»Haben die Landgrafen von der Wartburg auch geboxt?« erkundigte sich Herbert interessiert.

»Mit Speer, Lanzen und Schwertern haben sie gekämpft, Junge.«

Das machte weniger Eindruck auf Herbert. Wenn die Ritter nicht mal boxen konnten.

»So alt ist die Wartburg schon?« verwunderte sich dagegen Suse.

»Sie stammt bereits aus dem elften Jahrhundert, Kind. Manch einer der Burgherren hat an den Kreuzzügen ins Gelobte Land teilgenommen. Die Minnesänger haben unter dem kunstliebenden Landgrafen Hermann die Burg als Gäste bevölkert. Ihr kennt doch den ›Sängerkrieg auf der Wartburg‹?«

»Na, aber!« sagte Herbert beleidigt, daß man ihm so wenig zutraute.

»Ei, Herbert, dann nenne uns doch mal einige von den Minnesängern des Sängerkrieges,« sagte Professor Martin lächelnd. Er wußte bereits vom Gymnasium her, daß Herbert den Mund manchmal zu voll nahm.

»Tannhäuser«, antwortete Herbert, ohne sich zu besinnen.

»Und wer noch?«

»Ach – ach, wir haben doch heute hier keine Geschichtsstunde, sondern sind zu unserm Vergnügen hier«, meinte der Tertianer unmutig, denn er wußte es nicht.

Inge und Helga aber riefen durcheinander: »Walther von der Vogelweide, Heinrich von Osterbingen, Wolfram von Eschenbach.«

Bewundernd blickte Suse auf die klugen Freundinnen.

Herbert zuckte die Achseln. »Wenn unser Vater Deutsch und Geschichte unterrichten würde, hätten wir das auch gewußt. So kennen wir eben die Sterne besser.«

Inzwischen hatten sich eine Menge Leute im Burghof versammelt, die wie Professors auf die Führung durch die Burg warteten. Alle durften sie den Palas – so nennt man den Hauptteil einer mittelalterlichen Burg – betreten. Nur einer mußte zu Herberts Leidwesen draußen bleiben – Bubi. Er vertrieb sich inzwischen die Zeit, indem er die Spatzen aus den Schießscharten der alten Burg aufjagte.

Durch die Elisabethgalerie ging es zuerst, dem Andenken der heiligen Elisabeth geweiht. Der Führer berichtete von der jungen Landgräfin Elisabeth, die den Glanz und Prunk des Fürstenhofes verließ und zu den Armen hinabstieg, um die Hungernden zu speisen, die Kranken zu pflegen, die Traurigen zu trösten und die Frierenden zu kleiden.

»Seht, Kinder, diese Fresken von dem berühmten Maler Moritz v. Schwindt stellen die sieben Werke der Barmherzigkeit dar, welche die edle Frau ausübte«, erklärte Professor Winter. »Hier speist sie die Hungrigen mit Brot.« Er wies auf ein Wandgemälde.

»Was sind denn Fresken, Vati?« erkundigte sich Suse.

Ehe der Vater noch antworten konnte, rief Herbert: »Aber Suse, das kannst du dir doch denken. Fresken sind natürlich Bilder, auf denen Eßwaren gemalt sind. Die Armen fressen die Brote.« Laut schallte die Knabenstimme in die Stille andächtiger Betrachtung.

Allgemeines Gelächter erhob sich. Solange die Wartburg besichtigt wurde, war wohl in der Elisabethgalerie nicht solch dröhnendes Lachen der Besucher erklungen.

»Aber Junge, Herbert, Fresken sind Gemälde, die gleich an die Wand gemalt werden. Wie kommst du nur auf solche Idee?« sagte der Vater ebenfalls lachend.

»Na, das mittelalterliche Deutsch war doch derber als unser heutiges, hat uns Herr Professor Martin erzählt. Damals haben die Leute sicher fressen statt essen gesagt«, versuchte Herbert mit rotem Kopf die Peinlichkeit des Ausgelachtwerdens abzuschwächen.

Der Führer hatte sein Gesicht von der unfreiwilligen Heiterkeit wieder in die würdige Gemessenheit, die ihm sein Führeramt vorschrieb, zurückverwandelt.

»Hier sehen Sie sechs Bilder aus dem Leben der edlen Landgräfin, meine Herrschaften«, fuhr er fort. »Bild I: Ihre Ankunft auf der Wartburg. Bild II: Das Rosenwunder – – –«

»Mutti – Muttichen, was bedeutet das Rosenwunder?« fragte eine Kinderstimme dazwischen. Wie gebannt starrte Suse auf das Bild.

»Schau, Suschen, die heilige Elisabeth trägt unter ihrer Schürze Brote für die Armen«, erklärte die Mutter mit gedämpfter Stimme dem Töchterchen. »Mißtrauisch tritt ihr der Eheherr, Landgraf Ludwig, entgegen, denn er hat der jungen Frau das Liebeswerk bei harter Strafe verboten. Wütend reißt er ihr die Schürze weg. Aber siehe da – ein Wunder ist geschehen: Rosen, herrliche Rosen entfallen der Schürze. Die Brote für die Armen haben sich in Rosen verwandelt.«

»Ist das eine herrliche Geschichte. Jetzt habe ich die Rosen noch mal so lieb«, sagte Suse mit tiefem Aufatmen. »Du erklärst viel schöner als der Wartburgführer, Mutti.«

Das fanden auch noch andere junge Zuhörer, die sich um die Erzählende geschart hatten. Suse wäre am liebsten gar nicht weitergegangen. Die Legenden der heiligen Elisabeth griffen dem tiefempfindenden Kinde ans Herz. Vor den Bildern, welche Elisabeths Verstoßung und ihren Tod darstellten, flossen Suses Tränen.

»Heulsuse – wer wird denn vor all den Leuten hier heulen?« Herbert, der seine Unverfrorenheit wieder zurückerlangt hatte, schämte sich seines weinenden Zwillings.

»Ist noch lange nicht so schlimm, wie wenn du fressen sagst«, verteidigte sich Suse. Inge und Helga nahmen die Freundin tröstend zwischen sich. »Ich möchte auch so gut zu den Armen werden wie die heilige Elisabeth«, nahm sich Suse vor, als sie dem bereits vorangeschrittenen Führer in die Burgkapelle folgten.

In den Sängersaal ging es von dort aus. Herrlich wirkte dieser schöne Raum mit seinen Säulen und Rundbogenfenstern. Die Sängerlaube, zu der einige Stufen emporführten, gefiel der Jugend besonders.

»Hier haben die Wettgesänge der Minnesänger stattgefunden, Kinder«, erklärte Professor Martin. »Richard Wagner hat diesen Saal zum Schauplatz seiner Tannhäuser-Oper genommen. Dort auf dem prachtvollen Sängerkriegbild von Moritz v. Schwindt ist der Augenblick dargestellt, wo Heinrich von Osterdingen, von Wolfram von Eschenbach besiegt, vor dem Landgrafenpaar niederkniet und um Gnade fleht.«

»Wenn die bloß Singkämpfe gemacht haben, das ist ja doof!« äußerte sich Herbert geringschätzig.

»Ringkämpfe wären dir wohl lieber, Junge?« scherzte der Vater. »Die Kunst steht höher als die Kraft, merke dir das.«

Der Landgrafensaal mit seinen Schwindtschen Gemälden, die verschiedenen Wartburgsagen darstellend, fesselte Herbert bei weitem mehr. Da war das Bild: Wart', Berg, du sollst mir eine Burg werden. Dann: Der Schmied von Ruhla, der den Landgrafen hart schmiedet.

»Schade, daß unsere Minna das Bild nicht sieht«, meinte Suse.

Ein Bild gefiel den Freundinnen besonders gut, auf dem der Landgraf eine feste Mauer aus treuen Männern um seine Burg baut. So fest und treu wollten sie auch zusammenhalten.

Als es nun eine Treppe hinunterging, rutschte es plötzlich an dem verdutzten Wartburgführer, an all den Besuchern vorbei – Herbert, dem es zu langsam ging, war das Geländer hinabgeritten.

»Junge, das ist hier nicht erlaubt«, rief der Professor erschreckt.

Die Großmama schob ihren Arm in den des Enkels, um ihn vor weiteren Extratouren zu hüten. Sie betraten die Lutherstube, in der Doktor Martin Luther als Junker Jörg in der Wartburg zehn Monate lang gefangen gehalten wurde.

»Aus diesem schlichten Raum ist dem deutschen Volke das neue Testament in deutscher Sprache geschenkt worden«, wandte sich Professor Martin an seine Gesellschaft. »Hier ist Luthers deutsche Bibelübersetzung entstanden.«

Andächtig betrachteten die Kinder das einfache Burggemach mit den Butzenscheiben an den Fenstern, durch die man einen prächtigen Ausblick ins Thüringer Land genoß. Da gab es eine mittelalterliche Holztruhe, einen grünen Kachelofen, einen holzgeschnitzten Tisch, Handschriften und Briefe des großen Reformators; darüber sein Bild und das seiner Eltern.

»Vater, wo ist denn der Tintenfleck? Du hast uns doch erzählt, es sei noch ein Tintenklecks von Doktor Martin Luther zu sehen«, forschte Herbert. Denn für Tintenkleckse hatte er viel Verständnis.

»Den historischen Tintenfleck, der früher gezeigt wurde, scheint die Zeit abgewaschen zu haben«, meinte der Vater lächelnd. »Aber hier sehe ich etwas, was dich interessieren wird, Herbert. Luthers Fußschemel. Was mag das wohl sein?«

»Ein Schädelknochen«, rief der Sohn begeistert. »Das ist ein Schädel von einem Elefanten.« Er betrachtete den großen Knochen, der Luther zum Fußschemel gedient, kritisch von allen Seiten.

»Warum nicht gar«, lachte der Professor. »Es ist kein Schädel, sondern ein Walfischwirbel. Solche Riesenknochen hat der Walfisch.«

»Ich möchte auch solche Fußbank haben.« Der Walfischknochen hatte auf Herbert von all den Kunstwerken und Erinnerungen, welche die Wartburg in sich schloß, den größten Eindruck gemacht.

Im Burggärtlein bot sich ein drolliger Anblick. Bubi umkreiste dort wie besessen ein blühendes Blumenrondell und blaffte einen steinernen Falken, der die Mittelsäule schmückte, feindselig an. Aber als er seinen jungen Herrn bemerkte, war die Wiedersehensfreude groß. Er konnte sich gar nicht genug tun, an den Zwillingen emporzuspringen, um sie seiner Liebe zu versichern.

Die Eltern hatten inzwischen in der maigrünen Lindenlaube, deren Äste und Gezweig sich wie ein Dom wölbte, auf Steinbänken Platz genommen. Von dort genoß man einen bezaubernden Blick in das Frühlingsgelände.

»Bis zur Rhön und bis zu den Hessenbergen schaut man hier über das Thüringer Land.« Professor Martin wies weit hinaus in das Waldgebirge.

Professor Winter aber wandte sich zur Jugend. »Hier seht ihr von hoher Warte unser deutsches Land im Frühlingsgrün. Ihr jungen Kinder seid der Frühling unseres Vaterlandes. Fest und treu sollt ihr zu ihm stehen wie diese Burg hier. Hier hat sich vor mehr als hundert Jahren, nachdem das Fremdjoch in der Leipziger Völkerschlacht abgeschüttelt war, die akademische Jugend Deutschlands zusammengefunden und bei der Begründung der deutschen Burschenschaft ein freies, einiges Deutschland gefordert. Deutsche Geistesfreiheit ward hier begründet. Die Hoffnung der Wartburgjugend von 1817, ihr sollt sie erfüllen.«

Die Professorenkinder lauschten den ernsten Worten klaren Blickes. In lindengrünen Wipfeln spielte der Maiwind. In den Fliederbüschen sang eine Nachtigall.


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