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15. Kapitel. Paulchen

Am nächsten Morgen lag bei den Briefschaften auch eine Karte an Herbert und Suse Winter. Suse lief damit eiligst zu dem oben auf seinem Zimmer frühstückenden Arrestanten.

»Herbert – eine Karte von Paulchen aus Berlin. Komm, wir lesen sie zusammen.«

Paul schrieb mit sauberer Schrift: »Lieber Herbert und liebe Suse! Hoffentlich seid Ihr gesund. Ich bin es auch. Bloß traurig bin ich, aber mächtig. Meine Mutter ist gestorben. Nun bin ich ins Waisenhaus gekommen. Sie sind hier gut zu mir. Aber ich muß doch immerzu weinen. Viele Grüße von Euerm Freund Paul.«

Betroffen sahen sich die Zwillinge an. »Armes Paulchen!« sagte Suse, Tränen in den Augen. »Nun hat der arme Junge nicht mal mehr eine Mutter.«

»Und im Waisenhaus wird es doll streng sein«, fügte Herbert nachdenklich hinzu. War er sich gestern nicht als der bedauernswerteste Junge vorgekommen, weil er bestraft worden war? Und wie glücklich mußte er sein, daß er Vater und Mutter hatte – daß er mit seiner Suse in dem schönen Sternenhaus wohnen durfte und nicht in einem Waisenhaus.

»Wir wollen Vati und Mutti bitten, daß wir Paulchen Weihnachten zu uns einladen dürfen«, unterbrach Suse das ungewohnte Schweigen zwischen ihnen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Himmel, es ist ja schon nach halb. Mach' flink, Herbert, daß wir nicht zu spät zur Schule kommen.«

Einige Minuten darauf jagten Professors Zwillinge durch Nebel und Sprühregen den Berg vom Sternenhaus hinab.

Aber der Gedanke an den armen Paul, ihren ehemaligen Kameraden aus der Berliner Waldschule, verließ sie nicht. Der begleitete sie getreulich durch alle Stunden hindurch. Er war die Veranlassung, daß Doktor Klemm, der englische Lehrer, heute mal wieder über Suse Winter unzufrieden den Kopf schüttelte. Wie sollte man auch daran denken, daß die englische Insel nicht Wight, wie man es schrieb, sondern Ueit ausgesprochen wurde, wenn man gerade überlegen mußte, daß der arme Paul nun gar keinen mehr besaß, der ihn lieb hatte. Keinen Vater, keine Mutter, keine Geschwister. Wirklich, es war zu traurig. Doktor Klemm konnte nicht verlangen, daß sie da Aufmerksamkeit für den Unterricht hatte.

Auch in der Quarta des Carolo-Alexandrinums spukte Paulchen. Statt die Reise auf der Landkarte nach Ägypten mitzumachen, überlegte Herbert, ob Paulchen wohl im Waisenhaus schon boxen gelernt haben mochte, und ob er ihm darin überlegen sein würde. Aber am Ende war er überhaupt zu traurig zum Boxen. Eigentlich hatte Herbert ein etwas unbehagliches Gefühl, wenn er an den traurigen Paul und an seine tote Mutter dachte. Er hatte lieber lustige Jungen um sich. Vielleicht erlaubten es die Eltern gar nicht, daß sie Paul zu Weihnachten einluden.

Der Mittag brachte eine Überraschung. Nicht nur, daß draußen die Sonne wieder das tagelange Nebelgrau durchdrang, auch im Sternenhaus schien die Sonne.

Minna hatte auf des Vaters Geheiß wieder für Herbert unten am Familientisch mitgedeckt. Es hatte sich bei eingehender Untersuchung erwiesen, daß der Akkumulator, der mit der Lampe des Rundfunkapparates in Verbindung stand, frisch gefüllt werden mußte. Herbert trug diesmal wirklich keine Schuld an dem Versagen des Apparates. Daß er das Verbot nicht innegehalten hatte, überhaupt nicht heranzugehen, dafür war er durch seinen Schreck genügend bestraft worden. Der Vater selbst empfand es am schmerzlichsten, wenn er nicht alle seine Lieben um sich versammeln konnte.

Die Unterhaltung am Mittagstisch drehte sich um Paul. Der Vater war zweifelhaft, ob man ihm im Waisenhaus die Erlaubnis zur Weihnachtsreise geben würde. Sicher fand dort eine gemeinsame Feier statt. Die Mutter gab zu bedenken, ob es nicht geraten sei, den Jungen zum Sommer, vielleicht in den großen Ferien kommen zu lassen, da er doch dann mehr Erholung habe als im Winter.

Aber Suse bat herzbeweglich für ihren Freund. »Er kann ja im Sommer wiederkommen, Mutti. Am Heiligabend ist ihm gewiß noch trauriger zumute als sonst. Da wird er es besonders schwer empfinden, daß er im Waisenhaus ist. Bitte, bitte, erlaubt es doch.« Ihr weiches Herz floß über vor Mitleid mit dem verwaisten Knaben.

»Die Reise ist nicht billig, Suschen«, gab der Vater zu bedenken.

»Ach, Vatichen, wir wünschen uns auch weiter gar nichts zu Weihnachten, nur daß Paul kommen darf. Nicht wahr, Herbert?«

Nun brannte Herbert ja eigentlich gar nicht so darauf wie die Suse. Er hätte es früh genug gefunden, wenn Paul zu den Sommerferien eingeladen worden wäre. Da war er sicher nicht mehr so traurig. Auch hatte Herbert eigentlich eine ganze Menge Weihnachtswünsche. Aber sich von seinem Zwilling beschämen lassen, das mochte er doch auch nicht. »Wenn ich das zweite weiße Mäuschen, das mir damals ausgekniffen ist, wieder geschenkt kriege und vielleicht noch eine Eidechse – und das Buch ›Lebende Tiere‹ von dem Direktor des Berliner Zoo – mehr will ich gar nicht zu Weihnachten. Das andere kann für Paul als Reisegeld benutzt werden«, sagte er großmütig.

»Allzu bescheiden bist du nicht«, lachte die Mutter. »Siehst du, Suse verzichtet ganz auf ihre Weihnachtsgeschenke ohne Einschränkung zugunsten von Paul.«

»Mädchen sind weichherziger als Jungs. Ein Mann darf sich nicht so leicht rühren lassen«, behauptete Herbert.

»Na, wenn das Geld noch nicht ganz für Pauls Fahrkarten reichen sollte, ist ja schließlich auch noch eure alte Omama da«, sagte die Großmama mit vielsagendem Lächeln.

So war es beim Kompott beschlossene Sache, daß Paulchen für die Weihnachtsferien ins Sternenhaus eingeladen werden sollte.

Professors Zwillinge schrieben beide an ihn, wie leid es ihnen tue, daß seine Mutter gestorben sei. Und damit er nicht mehr so traurig sein sollte, luden sie ihn mit Erlaubnis ihrer Eltern für die Weihnachtsferien nach Jena ein. Frau Professor Winter fügte noch einige erklärende Zeilen an den Direktor des Waisenhauses an.

Mit fieberhafter Spannung verfolgten die Zwillinge ihren Brief. »Ob er ihn jetzt schon hat? Am Ende liest ihn der Direktor zuerst. Wenn der nun nicht erlaubt, daß Paul reisen darf? Was glauben Sie, Minnachen?« so bestürmte Suse das Mädchen, mit dem sie sehr befreundet war. Aber Minnachen sagte nur: »Wreuen wird sich das Baulchen auf jeden Wall, daß ihr dreue Wreundschaft mit ihm haltet.«

Eine ganze Woche mußten sich die Kinder gedulden. Denn auch Herbert wurde von Suses Erwartung angesteckt. Zu dreien liefen sie morgens dem Briefboten entgegen, die Zwillinge und Bubi, wenn auch die Mutter meinte: »Paul wird gewiß nicht Zeit haben, vor Sonntag zu antworten.«

Und wirklich, Mutti behielt recht, wie immer. Als die Zwillinge Montag mittag aus der Schule kamen, empfing sie Minna bereits mit der Nachricht: »Baulchen hat geschrieben.« Drin auf dem Tisch lag sein Brief.

Ein rührender Brief. Aus jeder Zeile merkte man die Freude des Jungen über die unverhoffte Einladung. Das habe ihm sicher seine Mutter im Himmel erbeten. Und der Direktor erlaube es gern, weil er sich gut geführt habe und seine Schuldigkeit tue. Und er wollte sich auch Herrn und Frau Professor dankbar erweisen und im Hause helfen, soviel er könne. Am 22. Dezember gäbe es Weihnachtsferien, und am 23. könne er kommen.

Die Kinder, die das Schreiben so lebhaft erwartet hatten, schwiegen merkwürdigerweise, nachdem sie es gelesen. Pauls schlichte Dankbarkeit griff ihnen ans Herz.

Herbert schüttelte als erster den Bann ab, den er als eines Quartaners unwürdig empfand. »Helfen will der Paul im Hause – hahaha – vielleicht Kartoffeln schälen und die Stuben ausfegen«, machte er sich lustig; nur um nicht zu zeigen, daß er im Grunde seines Herzens gerührt war.

»Gewiß,« sagte die Mutter ernst, »da gibt es gar nichts zu lachen, mein Junge. Paul ist daran gewöhnt gewesen, seiner kranken Mutter zur Hand zu gehen und häusliche Arbeiten zu verrichten. Auch im Waisenhaus werden die Kinder zu nützlicher Tätigkeit herangezogen. Der Paul wird sich sicher nicht so von der Minna bedienen lassen wie ein gewisser jemand.«

»Wenn Paul bei uns ist, helfen wir alle drei,« versprach Suse bereitwillig, »damit Minna in den Festtagen nicht soviel zu tun hat.«

Aber schon die Tage vorher war Suse von besonderer Geschäftigkeit. Tinchen Schillers schottisches Weihnachtskleid mußte fertig werden. Sie verschmähte jede Hilfe dabei. Die langen Nähte entlang ließ sie die Nähmaschine surren. Das war das Neueste, was Suse in Jena bei der Minna gelernt hatte. Und wenn auch mal die Naht etwas schief wurde oder der Faden riß, sie hatte es doch eigenhändig gemacht. Herbert hatte als Zwilling ebenfalls das lebhafteste Interesse für die Nähmaschine, die schon früher, als er noch ein kleiner Junge war, eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte und an die er niemals herandurfte. Jetzt ließ er sich von Suse in die Handhabung der Maschine einweihen. Suse war stolz darauf, daß Herbert, der doch zwei Stunden älter war als sie, auch mal was von ihr lernen konnte. Er setzte es durch, daß er auch eine Naht an Tinchen Schillers Kleid herunterrattern durfte, mit dem Erfolg, daß die Nadel zerbrach.

Da gab es aber noch viel, viel mehr vor dem Heiligabend zu verfertigen. Für jeden hatte Suse eine Handarbeit, die ihm Freude machen sollte, herausgefunden. Und Herbert wollte nicht zurückstehen. Die Hauptsache aber war: Was schenkte man Paulchen? Der mußte doch ganz besonders bedacht werden. Er hatte ja sonst keinen mehr, der ihn erfreuen konnte.

Eine warme Mütze und einen Wollschal wollte Suse für ihn häkeln. Aber Herbert als Besserwisser meinte: »Im Waisenhaus tragen sie alle gleiche Anzüge und Mützen. Und überhaupt, er hat doch jetzt Trauer. Da kannst du ihm doch keine bunte Mütze häkeln.«

Aber was sonst? Großmama wußte Rat. »Einen warmen Schal kann Paul auch im Waisenhaus gebrauchen. Du kannst ihn ja in Grau mit schwarzen Streifen häkeln, Herzchen.«

So saß Suse eifrig bei der Arbeit. Die gute Großmama selbst strickte warme Strümpfe für den Jungen. Und auch Frau Annchen, die alle im Sternenhaus mit selbstgestrickten Wollhandschuhen bedachte, hatte auch für Paul ein Paar bereit. Sogar Herbert hatte ihm in buntgeblümtem Papier eine Schreibmappe geklebt, damit er ihnen oft schreiben konnte.

So kam der 23. Dezember heran, der den kleinen Gast bringen sollte. Professors Zwillinge hatten alles zu seinem Empfang würdig vorbereitet. So schön aufgeräumt waren ihre Zimmer, besonders das von Herbert, schon lange nicht. Tannengrün, von Suse zierlich in Vasen geordnet, prangte auf jedem Tisch.

Auch der Himmel hatte ein Einsehen gehabt. Ein schlohweißes Festkleid hatte er der Erde übergestreift.

Schon eine halbe Stunde vor Eintreffen des Berliner Zuges konnte man Professors Zwillinge in Begleitung von Bubi auf dem Bahnhof auf und ab spazieren sehen. Es war heute am Tage vor Weihnachten dort ganz besonders interessant. Der Verkehr war lebhaft. Menschen reisten ab, winkten aus den Fenstern; Menschen kamen an, begrüßten sich freudig. Bunte Studentenmützen wehten aus den Zügen. Da drüben winkte es lebhaft, bis Herbert und Suse aufmerksam wurden und wieder grüßten. Die Blondköpfe der Martinschen Zwillinge wurden am Fenster des Weimarer Zuges sichtbar. Sie fuhren mit den Eltern über die Festtage zu den Großeltern.

Natürlich hatte der Berliner Zug Verspätung durch den gesteigerten Weihnachtsverkehr. Aber Herbert und Suse wurde die Zeit nicht lang. Es gab zuviel zu sehen.

Endlich schnaubte die Lokomotive, die Paul aus Berlin hergezogen hatte, heran. Suse war ganz aufgeregt.

»Ob wir ihn in dem Gewühl auch finden werden? Vielleicht sieht er ganz anders aus als vor zwei Jahren. Glaubst du, daß wir ihn wiedererkennen werden, Herbert?«

»Quatsch' nicht, Suse, sondern paß lieber auf.« Beinahe wäre Suse von einem mit Koffern beladenen Gepäckträger über den Haufen gerannt worden. Herbert schien nicht weniger aufgeregt als Suse. Sie musterten die Ankommenden, die sich als lange Schlange zum Ausgang wanden, angestrengt. Alles fremde Gesichter – fremde Kinder darunter, die absolut keine Ähnlichkeit mit Paul hatten. War er denn gar nicht mitgekommen?

»Da ist er – das muß Paulchen sein!« Suse wies lebhaft winkend auf einen langaufgeschossenen Jungen, der augenscheinlich nicht recht wußte, wo er hin sollte.

Was – der große Junge sollte Paulchen sein?

»Paul!« – rief Herbert auf gut Glück mit Trompetenstimme über die Sperre, an der sie Posto gefaßt hatten, hinweg.

Und wirklich – der Junge wurde aufmerksam, er wandte sich den Zwillingen zu. Ja, er war's. Röte der Freude oder der Verlegenheit färbte sein blasses Gesicht. Und nun stand er, eine Pappschachtel in der Hand, vor ihnen. Die Kinder reichten sich die Hand und musterten sich gegenseitig. Bubi begrüßte den Gast mit feindseligem Blaffen.

»Mensch, bist du inzwischen groß geworden«, unterbrach Herbert als erster das stumme Wiedersehen. Herbert war gar nicht erbaut davon, daß Paul, der früher eher kleiner war als er, ihn überragte. Da würde er ihm am Ende auch im Boxen überlegen sein.

»Wir haben uns doll auf dich gefreut, Paul«, sagte Suse herzlich, trotzdem ihr der Freund fremd geworden war. Aber »Paulchen« konnte sie ihn nicht mehr nennen, dazu war er wirklich schon zu groß geworden.

Das warme Wort fand den Weg zum Herzen des schüchternen Jungen. Er streckte Suse noch mal die Hand hin. »Ich danke auch schön für die Einladung«, sagte er und beugte sich zu Bubi hinab, ihn zu streicheln.

»Deine Fahrkarte, Paul, die mußt du hier abgeben. Und wo hast du deinen Koffer?« erkundigte sich Herbert voller Geschäftigkeit. Er wollte dem ihn körperlich Überragenden wenigstens zeigen, daß er gewandter war als er.

»Ich habe keinen Koffer«, antwortete Paul einfach. »Wäsche habe ich in dieser Pappschachtel.«

Keinen Koffer, wenn man eine Reise machte? Der Koffer war den Zwillingen bisher stets als das wichtigste Ding für eine Reise erschienen. Suse empfand tiefes Mitleid mit dem armen Paul, der nicht mal einen Koffer hatte.

»Ach, wie schön!« sagte Paul, als sie nun, dem Menschenstrom folgend, aus dem Bahnhof traten. Still blickte er über die beschneiten Anhöhen, auf die festlich weißen Dächer und Straßen. »Als ich heute morgen aus Berlin abfuhr, regnete es. Alles schmutzig und grau. Aber hier sind richtige Weihnachten.«

»Oh, du wirst erst Augen machen, wenn wir dir unsere neue Heimat hier zeigen werden. Es ist fein in Jena, wenn auch lange nicht so schön wie in Italien. Überall Erinnerungstafeln an berühmte Männer, die hier gelebt haben. Siehst du dort drüben das Haus mit dem flachen Dach und den bunten Steinen? So sehen auch die Häuser in Italien aus. Professor Haeckel hat es sich erbaut, als er noch hier lebte. Und wenn ich mal erst so berühmt bin wie er, dann baue ich mir noch ein viel schöneres«, prahlte Herbert. »Weißt du denn überhaupt, Paul, wer Professor Haeckel war?« Der Besserwisser in Herbert regte sich.

Paul verneinte verlegen.

»Na, das war ein großer Naturforscher, so einer wie ich mal werde, wenn ich groß bin«, erklärte Herbert mit Bestimmtheit. »Aber Schiller kennst du doch, was? Der hat nämlich auch hier gelebt.«

Ja, den Dichter Schiller kannte Paul. Voll heimlicher Bewunderung blickte er auf den kleineren Knaben an seiner Seite, der mal berühmt werden wollte.

»Gehst du noch in die Waldschule, Paul? Wie geht es dem Herrn Direktor und Türko und Mamsell? Sind Mulle und Alma noch da? Und all die andern Kinder?« erkundigte sich Suse.

»Nee, ich gehe jetzt in eine andere Schule. Es war zu weit vom Waisenhaus. Aber die meisten Kinder sind noch dort, und Türko bellt auch noch lustig. Ich wäre gern dageblieben. Sie waren alle so nett zu mir, als Mutter starb.«

»Armes Paulchen!« sagte Suse. Trotzdem der Junge sie fast um Kopflänge überragte, kam ihr jetzt doch wieder die liebevolle Benennung.

Pauls Augen wurden feucht. Seitdem die Mutter tot war, hatte ihn keiner mehr so genannt.

»Erzähl' mal was vom Waisenhaus, Paul. Wie ist's denn eigentlich da – doof?« wollte Herbert wissen.

»Nee, gar nicht doof. Erst habe ich mich sehr gegrault, wie ich hin mußte. Aber der Direktor ist nett zu mir. Und auch die Jungs. Bloß einige sind mächtige Raufbolde. Die haben mir das Leben zuerst schwer gemacht.«

»Das finde ich gemein von ihnen«, äußerte sich Suse empört. »Wo du so traurig warst.«

»Hast du mit ihnen geboxt?« fragte Herbert interessiert.

»Bewahre«, lehnte Paul ab. »Sie haben mich bloß immer verhauen.«

»Na, wenn du dich von ihnen verwichsen läßt. Ich werde dir das Boxen beibringen, Paul, da kriegst du sie alle unter.«

»Ich habe sie mit Freundlichkeit auch so weit gebracht, daß sie mich in Frieden lassen«, erzählte Paul. Die Zwillinge sahen sich unwillkürlich an. Wie oft hatte die Mutter ihnen gesagt, wenn sie Streit miteinander hatten, was jetzt öfters mal vorkam, daß man mit Freundlichkeit viel mehr erreiche. Paul schien von selbst danach zu handeln.

Unter solchen Gesprächen standen sie, ehe sie es sich versahen, vor dem Sternenhaus.

»Das hat unser Vater nach seinen Angaben fertigbauen lassen. Siehst du die Sternbilder in dem blauen Grunde? Da ist der große Bär, die Kassiopeia, die wie ein lateinisches W aussieht, der Orion, der die Gestalt eines Drachen hat, und viele andere. Ins Planetarium gehen wir auch mit dir.«

Paul staunte. O wie schön wohnten die Zwillinge hier. Wie das Knusperhäuschen aus lauter Zucker, so schaute es im Neuschneekleide aus.

Sorgsam trat Paul sich draußen auf der Matte die schneeigen Füße ab. Herbert, der eiligst hineinstürmen wollte, um Paul alles zu zeigen, und der wie meist an derartige Kleinigkeiten nicht dachte, hemmte den schnellen Schritt. Pauls Beispiel wirkte mehr als das von Suse. Daß sein Zwilling ordentlich war, das wußte er schon längst. Dafür war sie ein Mädel. Aber wenn ein Junge, wie er, daran dachte, den Schnee nicht in das saubere Haus zu treten, durfte er sich nicht von ihm beschämen lassen.

Drinnen war es behaglich und warm. Warm wurde es auch dem verwaisten Jungen ums Herz, als ihn die Eltern der Zwillinge so freundlich willkommen hießen.

»Den Paul habt ihr euch aber ordentlich über den Kopf wachsen lassen«, sagte der Professor scherzend zu seinen Kindern.

»Er ist ja schon dreizehn Jahr«, entschuldigte sich Suse.

»Boxen kann er trotzdem noch nicht«, meinte Herbert ein wenig geringschätzig.

»Dafür wird der Paul gewiß anderes verstehen. Sicher ist er ein guter Schüler«, sagte Frau Professor Winter freundlich.

Paul errötete vor Freude über die gute Meinung. Ja, er hatte ein gutes Zeugnis bekommen, seine Lehrer waren mit ihm zufrieden.

Es sollte sich bald zeigen, daß Paul noch anderes verstand, was mehr wert war als Boxen.

Herbert hatte gebeten, daß Paul sein Zimmer mit ihm teilen durfte und nicht ins Fremdenzimmer einquartiert wurde. Aber jetzt, wo man ein Bett in Herberts Zimmer aufgestellt hatte, war Herbert nicht verträglich und dachte nicht immer daran, seinem jungen Gast den Aufenthalt angenehm zu gestalten. Sobald sich Paul seinem Terrarium oder Aquarium näherte, war er gleich hinterdrein, damit er ihm nur nichts entzwei mache. An den Käfig des weißen Mäusleins, das Paul besonders niedlich fand, und das er mit Mehl und Zucker füttern wollte, sollte er überhaupt nicht heran. Herbert war eifersüchtig, daß er nicht mehr die Hauptrolle bei dem Mäuschen, das er selbst gezähmt hatte, spielen könnte. Am eifersüchtigsten aber war er auf seinen Zwilling. Paul fühlte sich natürlich zu Suse, die lieb und nett zu ihm war, mehr hingezogen als zu Herbert, der öfters mit ihm Streit anfangen wollte. Trotzdem begegnete Paul immer allen derartigen Reibereien mit Freundlichkeit. Herbert hatte das deutliche Gefühl, daß Paul besser war als er. Und das war etwas, was er nicht gut vertragen konnte.

Zum Glück gab es am Heiligabend so viel zu tun, daß nicht viel Zeit für Uneinigkeit blieb. Die Kinder durften sich dieses Jahr den Baum selbst putzen. Aber sogar bei dieser festlichen Beschäftigung gab es Meinungsverschiedenheiten. Hatte Paul eine vergoldete Nuß an einem Zweig befestigt, so fand Herbert sicher einen andern Zweig geeigneter dafür. Suse, die mit Geschmack und liebevollem Verständnis die Flimmersterne und Glitzerketten verkeilte, mußte es sich gefallen lassen, pedantisch und langwellig von ihrem Zwilling genannt zu werden. Er verstand das alles viel besser als sie. So lange brauchte man sich wirklich nicht mit dem Ausputz abzugeben.

»Kinder, das Weihnachtsfest ist ein Tag der Eintracht und des Friedens. Schämt ihr euch gar nicht, euch beim Baumschmuck zu streiten?« sagte die Großmama vorwurfsvoll. Sie war heute durchaus nicht mit ihren Lieblingen einverstanden.

Ja, Herbert schämte sich wirklich und nahm sich vor, Frieden zu halten. Nur schade, daß er es schnell wieder vergaß.

Für den Nachmittag hatte Suse ihre Bescherung für Tinchen Schiller und für das alte Mütterchen vorbereitet, dem sie vor einiger Zeit beim Schneeschaufeln behilflich gewesen war. Das schottische Kleid war mit Weihnachtsbackwaren wohlverpackt. Herbert hatte ein Märchenbuch, für das er sich schon zu groß dünkte, dazu gestiftet. Für das alte Frauchen aber hatte Suse ein warmes Kopftuch gehäkelt. Sie hatte sie nicht vergessen, die gute Alte, erinnerte sie doch der Myrtenstock am Fenster, den Suse getreulich mit ihren andern Blumen pflegte, täglich an sie.

Die Jungen halfen Suse ihre Weihnachtsgaben tragen. So zogen sie, diesmal einträchtig, auf Pfaden der Nächstenliebe.

»Weißt du noch, Suse, wie wir damals in Berlin Paul seinen Weihnachten auf unserm kleinen Kinderschlitten hingezogen haben?« erinnerte Herbert.

Die Schwester nickte stumm. Es war ihr so feierlich, so andächtig zumute, während sie in den auf schneeigen Silberflügeln sich herabsetzenden Heiligabend hineinschritt.

»Damals lebte meine Mutter noch.« Paul sagte es mehr zu sich selbst als zu den Gefährten.

Diese schwiegen. Wie schwer mußte es dem armen Jungen, heute das erstemal ohne sie, ums Herz sein. Auch Herbert fiel es schwer auf die Seele, daß er nicht nett genug mit dem verwaisten Knaben war. Er war ja von Herzen gut, der Herbert, nur rechthaberisch.

Bei Tinchen Schiller war es noch gar nicht weihnachtlich. Die Mutter war noch auf Arbeit, sie selbst scheuerte den Hausflur des baufälligen kleinen Häuschens. In der Stube schrie der kleine Bruder.

»Frohe Weihnacht!« klang es da plötzlich in das Scheuern und Kindergeschrei hinein. Aber ehe Tinchen noch erkunden konnte, wer die Weihnachtsboten waren, waren diese auch schon wieder auf und davon. Sie selbst aber hielt die mit Tannen geschmückte Weihnachtsschachtel in den Händen und wagte sie kaum zu öffnen.

Bei dem alten Frauchen lugten die Kinder durch das Parterrefenster ins Stübchen. Da sah es sauber und feiertäglich aus. Ein weißes Tuch war über den Tisch gebreitet, ein winziges Bäumchen wartete auf die Heimkehr des Sohnes. In ihrem Gesangbuch las das alte Mütterchen. Es war so vertieft, daß es gar nicht merkte, daß die Tür sich öffnete. Erst als eine helle Mädchenstimme »Frohes Fest!« rief, fuhr sie empor. Suse war längst davon. Sie wollte keinen Dank. Aber die Alte wußte, daß nur ihre kleine braunhaarige Freundin ihrer gedacht und sich für sie gemüht haben konnte. Gott segne das brave Kind!

Ja, Suse empfand den Segen, der in dem Bewußtsein liegt, andere zu erfreuen, bereits in ihrer jungen Seele.

Von St. Michael klangen die Glocken; feierlich zog ihr Klang durch die weihnachtlichen Straßen und Gassen der alten Universitätsstadt. Lichtlein um Lichtlein entzündete sich droben an des lieben Herrgotts Weihnachtsbaum, Stern auf Stern flammte am samtblauen Abendhimmel auf.

Auch im Sternenhaus erstrahlten die Weihnachtskerzen. Weihnachtssang erklang fromm zu Suses Klavierbegleitung. Freude erglänzte in aller Augen, das Glück des Gebens und des Empfangens. Paul fühlte sich mit eingeschlossen in diesen Kreis der Zusammengehörigkeit lieber Menschen.

Unbewußt gab der arme Knabe mehr, als er in dem gastfreien Hause empfing. Sein Beispiel wirkte günstig auf Herbert. Als der sah, wie nett und freundlich Paul stets zu Suse war, wurde er auch wieder verträglicher und netter mit der Schwester. Pauls Vorbild in bezug auf Ordnung tat Wunder. Herbert mochte sich von dem Jungen doch nicht ausstechen lassen. So wanderten auch Herberts sonst stets achtlos umhergeworfene Sachen in die dafür bestimmten Schubladen. Höflich und dienstbereit war Paul gegen die Damen des Hauses. Auch der Minna suchte er möglichst wenig Mühe zu bereiten. Trotzdem Herbert ihn auslachte, machte er sich sein Bett selbst. Die größte Freude aber hatte der Professor an seinem jungen Namensvetter. Paul zeigte ganz besonderes Interesse für die astronomischen Apparate und für das Planetarium. Er kannte nichts Schöneres, als wenn der Professor ihn dorthin mitnahm. Er wurde es nicht müde, sich die Einschaltungen des großen Projektionsapparates zeigen zu lassen. Verständnisvoll folgte er den Erklärungen des Professors. Auch Herbert hatte dafür Interesse gezeigt. Aber er hatte keine rechte Ausdauer dabei. Die zeigte er nur bei seinen Tieren. In den Zeißwerken, die der Professor mit den Kindern besuchte, waren die Zwillinge bald ermüdet und gelangweilt. Paul war nicht herauszubekommen. Der stand und staunte, fragte und ruhte nicht eher, als bis er solch einen komplizierten Mechanismus begriffen hatte.

»Aus dem Jungen wird mal was,« sagte der Professor, »den darf ich nicht aus den Augen verlieren.«

Als Paulchen nach schönen Ferientagen dankbar Abschied nahm, war es beschlossene Sache, daß er zu den Sommerferien wieder in das Sternenhaus kommen sollte.


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