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Ein heißer Junitag lagerte über dem Saaletal. Goldenes Sonnengeflimmer blitzte auf dem glitzernden Wasserspiegel. Süß dufteten die Akazien.
Suse arbeitete im Garten. Jede freie Minute widmete sie ihren Beeten. Sobald die Schularbeiten, die jetzt in der Tertia doch mehr Zeit in Anspruch nahmen, erledigt waren, ging es hinaus zu ihren lieben Blumen. Und der Garten lohnte ihr die treue Pflege und Mühe. Das blühte und duftete, daß die Vorübergehenden am Sternenhaus bewundernd stehenblieben. Besonders die Rosenpracht fesselte aller Blicke. Die herrlichsten Rosen ringsum gab's im Sternenhaus. Wie behütete Suse aber auch jede Knospe. Die Rosen waren ihre Lieblinge unter den Blumen, seitdem sie die Legende von dem Rosenwunder gehört hatte. Merkwürdig, bei der Gartenarbeit ermüdete Suse nicht. Ihre Muskeln, die beim Sport doch noch manchmal streikten, fühlten, sobald es ihren blühenden Pfleglingen galt, keine Anstrengung. Braungebrannt war sie von der Sonne, rosig wie ein Pfirsich leuchteten ihre Wangen.
Mit Freude sahen die Eltern, wie gut ihrem Töchterchen die Gartenarbeit im Freien tat. Jedes Blümchen, auch der kleinste Ableger, den Suse einsetzte, gedieh. Die bunten Winden auf dem Balkon wucherten üppig. Sogar ihre kleine Myrte hatte Knospen angesetzt. Auch Herberts Balkon, den die gute Schwester doch wieder unter ihre Pflege genommen hatte, stand nicht zurück. Wenn auch die Feuerbohnen, welche die fürwitzigen Jungenfinger im Keimen gestört hatten, nicht so recht kräftig werden wollten.
»Unser Kind hat eine glückliche Hand«, sagte die Großmama, ihrem Liebling bei der Gartenarbeit zuschauend.
Herbert hatte nicht viel Zeit für den Garten übrig. Trotzdem es Suse ganz wertvoll gewesen wäre, wenn die kräftigeren Jungenarme ihres Zwillings öfters mal das Erdreich gelockert und umgegraben hätten. Allenfalls ließ er sich herbei, den Gartenschlauch in Tätigkeit zu setzen. Wehe Bubi, wehe Piccola, wenn sie während dieser Beschäftigung in Herberts Nähe kamen. Eine wahre Sintflut ergoß sich über die Ärmsten. Aber die Tiere waren klug genug, von der Bildfläche zu verschwinden, sobald Herbert mit seinem Gummischlauch anrückte. Auch Suse bekam öfters mal eine kleine Dusche ab, damit sie ihre Wasserscheu überwinden lerne.
Nun, gar so arg, wie Herbert das darstellte, war es damit nicht mehr. Allerdings, als die Suse zum erstenmal ihre Schwimmkünste von der Turnhalle in der Schule, wo sie Trockenschwimmkurse gehabt hatte, in das große Bassin der Volksbadeanstalt verlegen sollte, war ihr das nicht sehr gemütlich. Ob der Korkgürtel, den man ihr umlegte, sie auch wirklich auf der Oberfläche des Wassers tragen würde?
Inge und Helga, die bereits schwimmen konnten und sich wie muntere Fischlein im Wasser tummelten, lachten die ängstliche Suse aus. Da überwand diese ihre Scheu und ließ sich herzklopfend an die Angel nehmen. Denn nur mit dem Korkgürtel loszuschwimmen, wie das Herbert tat, nein, das brachte sie doch nicht fertig. Aber allmählich ließ ihre Angst nach, sie wurde sicherer. Ein Korken nach dem andern wurde von dem Gürtel entfernt. Und schließlich kam ein Tag, an dem Suse sich freischwamm, an dem sie nicht mehr ängstlich strampelnd nach dem hingehaltenen Stock griff, sondern die vorgeschriebene Zahl Runden im großen Bassin erledigte. Dieser denkwürdige Tag wurde im Sternenhaus gebührend gefeiert. Minna mußte Waffeln zum Kaffee backen.
Herbert, der jetzt im Schwimm- und Rudersport schwelgte, sah bereits verächtlich auf die Volksbadeanstalt herab. Er schwamm nur noch in der Saale. Dort konnte man aus der Badeanstalt in den Fluß hinausschwimmen. Suse ahnte ja gar nicht, wie herrlich das war. Sie war schön dumm, daß sie immer noch ins Bassin des Volksbades ging.
Auch heute kam Herbert, das Badezeug unter dem Arm, pfeifend durch den Garten zu seinem die wilden Rosen ans Spalier bindenden Zwilling.
»Du, Suse, ich gehe jetzt schwimmen. Die halbe Tertia ist unten an der Saale – kommst du mit?«
»In die Saale? – Wieviel Grad hat denn da das Wasser?« Suse schien keine große Lust zu haben.
»Es kocht beinahe schon bei dieser Bärenhitze. Flink, hole dein Badezeug.«
»Herbertchen, laß die Suse bei ihren Rosen, mein Junge«, rief es da vom Gartenplatz, wo die Großmama in Gemeinschaft mit der Mutter Stachelbeeren zum Einkochen verlas. »Gehe lieber nachher in die Volksbadeanstalt, Suschen, da ist sicher mehr Aufsicht als unten am Fluß.« Die Großmama konnte sich noch immer nicht des Gedankens erwehren, daß die Kinder beim Schwimmen einer Gefahr ausgesetzt waren. Wasser hat nun mal keine Balken.
»Wenn Suse nicht in den Fluß hinausschwimmt, sondern im Bassin bleibt, kann sie ruhig mit in die Saale schwimmen gehen«, rief die Mutter herüber. »Wir dürfen unser zimperliches kleines Fräulein nicht noch ängstlicher machen, Mutter, als es ohnedies schon ist«, setzte sie, zur Großmama gewandt, leise hinzu. »Der Vater will, daß Suse ihre Furcht überwindet.«
Nun, wenn es der Vater wünschte, mußte die Großmama die Waffen strecken.
Suse wusch sich die Hände, obgleich ihr weniger reinlicher Zwilling das eigentlich für überflüssig erachtete, da sie ja doch gleich ins Wasser ging, holte ihr Badezeug und von Minna das mindestens so notwendige Butterbrotpaket. Denn nach dem Schwimmen bekam man Hunger.
Durch das Schillergäßchen entlang zogen Professors Zwillinge zum Paradies hinab, den prächtigen Wiesen- und Parkanlagen am Saaleufer. Die Sonne brannte heiß. Bubi, der als Dritter im Bunde nicht fehlen durfte, ließ die Zunge weit aus dem Maul hängen. Er eilte, ans Wasser zu kommen.
Auf den schiefen Steinstufen ihres Häuschens hockte Tinchen Schiller, ihre Mieze auf dem Schoße. Beide blinzelten in die Sonne.
»Tag, Tinchen. Na, wie geht's?« rief ihr Suse freundlich zu.
»Nu, wie wird's gähen«, war die zweifelhafte Antwort.
Als die Zwillinge aber nun vorüberschritten, war Tinchen plötzlich an ihrer Seite.
»Was gäbt ihr mir, wenn ich euch mit dem Kahn von meinem Onkel zur Badeanstalt hinrudern tu, hä?« fragte sie.
»Au ja!« Herbert war sogleich Feuer und Flamme dafür. Er kramte bereits in seinen Hosentaschen nach einer passenden Belohnung für Tinchen, sei es fünf Pfennige oder ein Bonbon.
»Danke schön, Tinchen, aber wir können ja gehen. Es ist ja gar nicht mehr weit«, lehnte Suse ab.
»Es ist noch ein ganzes Stück die Saale hinunter. Noch dazu bei der Sonnenglut.« Herbert wischte sich die Stirn. Er hatte nur sein Taschentuch, einen abgerissenen Knopf, ein Stück Bindfaden und eine Streichholzschachtel mit einem Grashüpfer aus seiner Tasche befördert. Das Geld, was er noch hatte, brauchte man zum Eintritt in die Badeanstalt.
»Nu, da gib mir wänigstens ein Butterbrot«, verlangte Tinchen, auf das Päckchen in seiner Hand deutend. »Dich rudere ich umsonst hin, Suse, weil du damals so gut zu mir gewäsen bist bei der Osterzensur.«
»Wir sind doch Zwillinge,« meinte Herbert schlau, »da kannst du mich ruhig auch so mitnehmen.«
Aber Tinchen schüttelte den Kopf. »Nä«, sagte sie kurz und bestimmt.
»Hier, Tinchen, hast du ein Butterbrot von mir, wenn du Hunger hast.« Gutherzig öffnete Suse ihr Päckchen und teilte den Inhalt mit Tinchen.
Sie standen drunten an der Saale auf einer Wiese, die über und über mit Blumen besät war. »Sieh mal, Herbert, wie schön!« machte Suse den Bruder auf den bunten Wiesenteppich aufmerksam. Aber Herbert hatte nur Augen für Tinchens Kahn. Mit einem Satz war er bereits drin. Bubi als Zweiter hinterher.
»Nu, gäh du auch 'nein«, forderte Tinchen Suse auf. Die zauderte noch. »Erlaubt das denn dein Onkel, und kannst du auch rudern?« erkundigte sie sich verständig.
»Nu freilich, ich rudere doch oft Leute hinüber«, warf sich Tinchen in die Brust. »Und die Herren Studenten gäben mir immer ein gutes Trinkgeld.«
Als Suse nun auch den Kahn besteigen wollte, fiel ihr Blick auf einen armen, alten Mann am Ufer. Er hatte den Hut vor ihr abgenommen und hielt ihn ihr bettelnd entgegen.
»Du, Herbert, gib mir doch mal fünf Pfennige für den armen Mann«, flüsterte sie ihrem Zwilling bittend zu.
»Habe nur das Geld für die Badekarten. Komm doch, Suse«, drängte Herbert. Aber Suse vermochte nicht an einem um ein Almosen bittenden Armen achtlos vorüberzugehen. Kurz entschlossen reichte sie ihm den Rest ihrer Butterbrote. Sie würde schon nicht verhungern.
»Gott lohn' dir's, liebes Kind«, sagte der Alte. Froh kletterte Suse in den Kahn.
»Na, du bist schön dumm, Suse«, empfing sie der Bruder. »Willst wohl heilige Elisabeth spielen? Bei dir verwandeln sich die Brote statt in Rosen in Hosen, und zwar in Badehosen.« Lachend wies er auf ihr Badezeug.
Mit kräftigen Schlägen trieb Tinchen das Boot stromabwärts.
»Du, laß mich rudern«, schlug Herbert vor, der sich in seiner Jungenehre verletzt fühlte, weil ein Mädel ihn ruderte.
»Dann steige ich aus«, rief Suse erschreckt, »du kannst ja noch gar nicht richtig rudern.«
»Oho,« rief Herbert, »so gut wie Tinchen rudere ich auch.« Er stand auf und wollte ihr die Ruder aus der Hand nehmen, aber Tinchen ließ sich nicht verdrängen. »Sitz still, sonst fliegst du ins Wasser.« Das Boot kippte bedenklich bei dem Kampf um die Ruder.
Mit angstvollen Augen saß Suse in dem schaukelnden Ding. »Um Gottes willen, Herbert, setze dich«, rief sie dem im Boote stehenden Jungen zu. Aber Herbert, fürwitzig und übermütig, schaukelte nur um so stärker.
»Junge, wirst du dich wohl gleich hinsetzen«, rief es da aus einem Boot, das gerade vorüberkam. »So geschehen die Unglücksfälle, weil diese Bengel so unvernünftig sind.«
Der »Bengel« gehorchte, rot bis an die braunen Haare. Er hatte in dem Boot seinen Lehrer Doktor Dense erkannt. Wie peinlich!
Tinchen Schiller hatte, ohne ein Wort zu sagen, ihren Kahn gewendet. Und ehe sich's die Zwillinge versahen, waren sie wieder am Ufer. »Fällt mir nicht ein, mich wägen des Jungen in Läbensgefahr zu begäben«, sagte sie. Alles Bitten und Schimpfen Herberts nützte nichts. Tinchen machte den Kahn fest und die Zwillinge konnten auf Schusters Rappen den Weg fortsetzen. Suse war heilfroh darüber, während Herbert wie ein Rohrspecht räsonierte. Das hatte er nun davon. Aber bis man an die Schwimmanstalt kam, fand er seine gute Laune und seinen großen Mund wieder. »Paß mal auf, Suse, wie fein ich schwimme. Traust du dich über die Saale hinüberzuschwimmen? Nein? Aber ich!«
»Herbert, lieber, guter Herbert, versprich mir, daß du's nicht tust.« So bestürmte Suse ihren Zwilling.
»Ist ja eine Kleinigkeit, über die Saale zu schwimmen. Und vom höchsten Sprungbrett springe ich ins Wasser«, so rühmte sich der Bruder.
Die Saale bot heute ein lustiges Bild. An den Ufern watende Barfüßchen, in der Badeanstalt und im Fluß Lachen, Jauchzen, Kreischen und Strampeln der badenden Jugend. Boote mit buntmützigen Studenten zogen stromauf, stromab. Studentenlieder schallten herüber.
Sowohl Herbert wie Suse trafen Schulkameraden. Die Julihitze hatte alles an und in das Wasser gelockt. Inge und Helga schwammen bereits außerhalb der Bassinsperre. Sie riefen den Winterschen Zwillingen zu, sich zu beeilen.
Während Suse noch an den glitschig-feuchten Stufen, die zum Wasser hinabführten, zaudernd stand, denn es bedurfte immer noch eines kühnen Entschlusses ihrerseits, sich dem nassen Element anzuvertrauen, rief es irgendwoher aus den Lüften: »Paß auf, Suse!« Und da sah sie ihren Zwilling hoch durch die Luft sausen. Verschluckt hatte ihn der Wasserspiegel.
Aber alsbald tauchte er, prustend und sich schüttelnd wie Bubi, wieder auf. »Nur zu, Suse! Wie kann man nur so feige sein!« rief er der Schwester zu, und mit ein paar Stößen war er draußen im Fluß.
Plötzlich war auch Suse im Wasser, ohne sich wie sonst erst vorsichtig die große Zehe naß zu machen. Die vorgeworfene Feigheit war nicht die Ursache, daß sie ihre Scheu überwand. Schwesterliebe war es, die Sorge um den Bruder, dessen Tollkühnheit sie kannte, was Suse von ihrer Treppe so schnell hinunterbrachte. Mit gleichmäßigen Bewegungen, die noch etwas an den Schwimmunterricht erinnerten – eins – zwei – drei – eins – zwei – drei – schwamm sie durch das Bassin, immer in erreichbarer Nähe des Gitters. Nun war sie bis zu der Leine gekommen, welche das Schwimmbassin von dem Freibad im Fluß schied. Sie wagte nicht, hindurchzuschwimmen, trotzdem die Freundinnen nach ihr riefen, obgleich Herbert, einem Wellendampfer gleich, ihr entgegenstrampelte. Ja, wenn sie ihren Korkgürtel umgehabt hätte.
Herrlich war es im Wasser. Wie mit tausenden und aber tausenden Diamanten bestreut, flimmerte und funkelte es in der Sonne. Weich und warm umfing es die Badenden, nach des Tages Glut Erfrischung spendend. Suse dachte nicht mehr daran, daß sie keinen Grund in der Saale hatte, sondern empfand eine Genugtuung dabei, auf die Kräfte ihrer jungen Arme angewiesen zu sein. Oft hatte sie daheim ihren Goldfischen im Glase zugeschaut und gar nicht verstanden, daß die sich im Wasser so wohl fühlten. Eigentlich war es unrecht, sie in der engen Gefangenschaft zu halten. Ob Herbert wohl böse war, wenn sie ihnen ihre Freiheit schenkte?
Ja, wo war denn Herbert überhaupt? Bei den Mädeln und Jungen, die draußen unweit der Grenzlinie umherschwammen, war sein brauner Kopf nicht zu sehen.
»Helga – Inge – wo ist denn Herbert?« rief Suse den Freundinnen zu. Der Bruder hatte wohl recht, die Ängstlichkeit hatte sie von der Großmama geerbt.
Die Schwimmkappen der Martinschen Zwillinge näherten sich der Bassinleine.
»Herbert hat mit den Jungen gewettet, daß er bis hinüber ans andere Ufer der Saale kommt. Wir haben ihm abgeredet, weil die Saale hier besonders breit ist, aber er hört ja nicht. Dort kannst du ihn noch sehen.« Inge und Helga wiesen hinaus in den wie flüssiges Silber erglänzenden Fluß. Ein dunkler Punkt war auf der lichten Silberfläche sichtbar.
Suse blieb das Herz vor Schreck fast stehen. Fest mußte sie sich an die Leine klammern.
»Um Gottes willen, es wird ihm doch nichts passieren? Wenn er nun nicht bis hinüber kommt? Helga – liebe, gute Inge, könnt ihr ihm nicht nachschwimmen und ihn zurückholen?«
»Er ist schon viel zu weit«, meinte Helga kopfschüttelnd.
»Und er würde ja ebensowenig auf uns hören wie vorher. Er ist zu ehrgeizig«, setzte Inge hinzu.
Ja, ehrgeizig und tollkühn war Herbert, Inge hatte recht. Aber – »ich schwimme hinterher, ich hole ihn zurück.« Suse dachte nicht mehr daran, daß sie sich auf ihre Schwimmkünste noch nicht verlassen konnte, daß sie nicht mal einen Korkgürtel umgeschnallt hatte. Ihr Herbert, ihr Zwilling hatte sich in Gefahr begeben, was fragte Suse da nach der eigenen Sicherheit.
Sie ließ die Leine los, ein paar Stöße – da war sie bereits draußen in der Saale, in die sie sich vorher nicht getraut hatte. Aber sie kam nicht weiter. Sie fühlte sich plötzlich am Bein, am Badetrikot gepackt.
»Bist du denn nicht recht bei Troste, Suse! Du kannst es doch noch nicht wagen, in die Saale hinauszuschwimmen. Bist genau so leichtsinnig wie dein Zwilling!« schalt Helga.
»Komm zurück, Suse«, bat Inge. »Es wird dem Herbert schon nichts geschehen. Er kann ja auf dem Rücken schwimmen. Das hält man stundenlang aus. Komm, Suschen, wir legen uns in die Sonne. Vom Ufer aus können wir ihn besser beobachten.« Beide Freundinnen transportierten Suse im Wasser zur Treppe.
Und nun lagen sie an dem grünen Saalestrand in der Sonne. Um sie herum kribbelte und krabbelte es von Schulkindern, von übermütiger, lachender Jugend. Keiner hatte auf die mit angstvollen Augen auf das silberflirrende Wasser hinausstarrende Suse acht. Nur die Freundinnen Inge und Helga drückten ihr beruhigend die kalte Hand.
»Vielleicht kehrt er noch um, Suse – – –.«
»Nein, er ist schon beinahe in der Mitte.«
»Aber es sind so viele Boote draußen, da kann ihm sicher nichts passieren, Suschen«, so bemühten sich die Freundinnen der trotz der heißen Julisonne vor Erregung Zitternden Trost zuzusprechen.
Suse hörte kaum, was man zu ihr sprach. Das laute Pochen ihres Herzens übertönte die gutgemeinten Worte. Die Braunaugen weit aufgerissen, schaute sie nur nach dem dunklen Punkt in dem Silbergeglitzer der Saale, der sich immer weiter von ihnen entfernte. Jetzt tauchte er hier auf – nun dort – war er jetzt nicht verschwunden? Suse preßte Inges Finger vor Aufregung. Nein, ein Endchen weiter kam er wieder zum Vorschein. Es schien, als ob er nicht mehr so gleichmäßig vorwärtsschwamm. Kam ihm denn keiner zu Hilfe? Da stürzte es plötzlich mit lautem Gewinsel an Suse vorbei ins Wasser, etwas Schwarzes – es schwamm hinter Herbert her – Bubi, der treue, ließ seinen jungen Herrn nicht im Stich.
»Lieber Gott, beschütze meinen Herbert!« Niemals war wohl ein angstvolleres Gebet aus Kinderherzen zum Himmel emporgestiegen.
Herberts Schulkameraden hatten hoch oben auf dem Sprungbrett Posto gefaßt und beobachteten von dort aus den Schwimmer.
»Bravo, Winter – bravo – weiter – mehr Kraft – längere Stöße – er schafft's – ausgeschlossen – er schwimmt schon langsamer – – –«, so riefen die Tertianer durcheinander.
Der, dem all die Aufregung, all die Zurufe galten, durchquerte inzwischen mit möglichst langen Stößen die Saale. Zuerst war es ein Vergnügen, gar keine Anstrengung. Herbert glaubte, stundenlang so weiterschwimmen zu können. Fische schnellten neben ihm in dem klaren Wasser umher. Er hätte sie gern gegriffen, aber er wollte sich nicht aufhalten. Er mußte das andere Ufer und damit die Wette gewinnen. Galt es auch nur eine Tüte Schillerlocken zu erringen. Der Ehrgeiz trieb ihn mehr vorwärts als der süße Preis.
Herbert schwamm und schwamm, die Entfernung zum andern Ufer wollte nicht geringer werden. Im Gegenteil, es schien dem kleinen Schwimmer, als ob sie wüchse. Oder war daran das Abnehmen seiner Kräfte schuld? Herbert konnte es sich nicht verhehlen, daß seine Arme zu ermüden begannen. Sie waren des Schwimmens doch noch nicht so gewohnt. Er hatte sich wohl zuviel zugemutet. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, nur ein Vorwärts. Alle Willenskraft spannte der Junge an. Da ging es wieder für ein Weilchen.
Wenn das Ufer nur näher kommen wollte, das Durchschwimmen des Flusses war doch schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Trotzdem Herbert all seine Kräfte einsetzte, fühlte er, daß er von seinem Ziel abgetrieben wurde. Er war in eine stärkere Strömung der Saale geraten und kämpfte vergeblich dagegen an.
War nicht der Kanal zwischen Frankreich und England sogar durchschwommen worden? Und noch dazu von einem Mädel! Herbert hatte die Abbildungen in einer illustrierten Zeitschrift gesehen. Und da wollte er den Mut sinken lassen?
Sein Atem ging schneller, seine Brust begann durch die Anstrengung zu keuchen. Das Ankämpfen gegen die Strömung verlangte das Einsetzen der letzten Kräfte. Dabei kam er kaum vorwärts.
Halt – auf den Rücken werfen. Hatten die Jungen nicht gesagt, daß man so stundenlang ohne jede Anstrengung sich durch leises Plätschern mit Händen und Füßen auf der Oberfläche des Wassers halten könnte? Daß er auch nicht eher daran gedacht hatte.
So – nun war es ja ein Vergnügen, zu schwimmen, gar keine Anstrengung mehr. Wie in einer silbernen Wiege lag Herbert sanft plätschernd auf dem Wasser. Er dachte nicht daran, daß er von der Strömung immer weiter flußabwärts getragen wurde. Er blinzelte in den blauen Sommerhimmel, in das Silberflimmern und dachte gar nichts. Aber schließlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er ja nicht immer hier im Wasser herumplätschern konnte, daß er kein Fisch war, sondern ein Tertianer und eine Wette zu gewinnen hatte. Also los – mit frischen Kräften.
Erstaunt hielt der jetzt wieder auf dem Bauch schwimmende Junge, so gut es ging, Umschau. Er konnte sich nicht zurechtfinden. Von der Badeanstalt war überhaupt nichts mehr zu sehen. Die Saale hatte einen Bogen gemacht. Beide Ufer schienen gleich weit entfernt. Herbert hatte das Gefühl, daß er sie, wenn er auch immer weiter und weiter schwämme, niemals erreichen würde. Er dachte an die Strafe des Sisyphus im griechischen Altertum, von dem Doktor Dense ihnen erzählt hatte. Der schwere Felsstein, den Sisyphus den Berg hinaufrollen mußte, rollte, oben angelangt, immer wieder zurück. Ähnlich erging es auch ihm. Er kam nicht ans Ziel.
Diese Erkenntnis ließ seine ohnedies schon ermüdeten Arme jäh erschlaffen. Völlig kraftlos fühlte sich Herbert mit einem Male, da seine Willenskraft erlahmte. Angst, Todesangst stieg plötzlich in dem sonst so kecken Jungenherzen auf. Sollte er seine Tollkühnheit mit seinem jungen Leben büßen? Würden denn die andern Jungen nicht nach ihm aussehen, und vor allem Suse – seine Suse – – – ein Schrei gellte über die silberne Saale, wurde vom weichen Sommerwind aufgefangen. Mit letzter Kraft warf sich Herbert wiederum auf den Rücken.
Da schnappte plötzlich was nach ihm – war es ein großer Fisch? Nein, ein schwarzer Köter war es, der nach Herberts Badetrikot schnappte. Bubi hatte den Sinkenden erreicht, hielt ihn auf der Oberfläche des Wassers. Bubi, sein treuer Bubi. Herbert schloß die Augen, als fühle er sich jetzt geborgen. Nur für Sekunden. Dann riß er sie mit Anstrengung wieder auf.
»Hilfe – Hilfe – – –!« Herbert glaubte zu schreien, aber die Stimme wollte ihm nicht mehr gehorchen.
Da – Sang – heller Sang dicht neben ihm:
»Im Tale die Saale,
Auf den Bergen die Burgen ...«
so klang es aus frohen Studentenkehlen.
»Achtung, Junge – laß dich nicht überfahren«, rief einer der Studenten dem dicht vor dem Boote Schwimmenden zu. Da bemerkte er, daß der Junge vollständig erschöpft war, daß ein Hund ihn über Wasser hielt. Mit vereinten Kräften fischten die Studenten den halb Ohnmächtigen und den triefenden Köter heraus. Ein Feldfläschchen Kognak und tüchtiges Reiben des Körpers brachten Herbert schnell wieder zu sich. Noch etwas verwirrt schaute er um sich, blickte in Bubis treue Hundeaugen und auf die bunten Studentenmützen – Gott sei Dank, sie waren gerettet.
»Na, Junge, was machst du für Geschichten!« sagte einer der Buntbemützten vorwurfsvoll zu ihm. »Wie kannst du dich nur so weit in den Fluß hinauswagen?«
»Wenn wir nicht dazugekommen wären, wärst du wie ein junger Kater ersoffen«, setzte ein anderer hinzu.
»Wie heißt du denn?« examinierte ein dritter. Er zog seine Leinenjacke aus und hüllte den vor Kälte und Aufregung zitternden Jungen hinein.
»Winter – Herbert Winter«, kam es von den bläulichen Jungenlippen.
»Ist Professor Winter dein Vater?« Herbert nickte. Er war zu erschöpft, um zu sprechen. Bubi leckte ihm zärtlich die Hand.
»Der Tausend! – Da haben wir unserm alten Herrn sein Küken herausgeangelt. Du bist sicher unter einem Glücksstern geboren, Junge, daß wir dich gerade in der richtigen Minute erreicht haben.«
»Mein Bubi hat mich gerettet.« Zärtlich klopfte Herbert das nasse Fell seines treuen Freundes.
»Wohin sollen wir dich jetzt bringen?« fragten die Studenten.
»Nach der Badeanstalt. Da sind meine Sachen und – meine Suse.« Herbert erlangte allmählich die Sprache wieder. O Gott, wie würde sich Suse um ihn sorgen!
Die Studenten wandten ihren Kahn zurück. Jetzt erst sah Herbert, wie weit er stromabwärts getrieben worden war. Noch immer kam die Badeanstalt nicht in Sicht.
Aber ein Boot kam ihnen entgegen. Tinchen Schillers Kahn. Tertianer saßen darin, die mit angstvoll spähenden Augen das Wasser nach ihrem verschwundenen Schulkameraden durchforschten. Tinchen Schiller führte mit kräftigen Schlägen die Ruder. Und daneben ein Mädchen, schreckensbleich, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Braunaugen. Suse glaubte nicht anders, als daß Herbert untergegangen sei.
Da hörte sie ihren Namen rufen, noch etwas matt klang es, aber wie mit Donnerstimme dröhnte es ihr in die Ohren.
Herbert – er lebte – er lag nicht drunten in der Saale, wie ihre Phantasie es ihr in furchtbaren Bildern ausgemalt hatte. Boot an Boot saß er neben ihr, seinen nassen Bubi im Arm. Er reichte ihr die Hand herüber.
Jetzt wäre Suse beinahe aus dem Kahn gefallen, so ungestüm streckte sie die Arme nach dem Wiedergefundenen aus. Im Triumph ging es nun zur Badeanstalt zurück, von wo man gerade Rettungsboote aussenden wollte. Die Martinschen Zwillinge umarmten Suse wortlos. Sie hatten die fürchterliche Sorge mit der Freundin mitempfunden.
Arm in Arm zogen Professors Zwillinge heim ins Sternenhaus. Fest, ganz fest hielten sie sich, als könnte jetzt noch ein grausiges Geschick sie voneinanderreißen. Bubi, der Lebensretter, umsprang sie mit stolzem Gebell. Eine herrliche Wurst bekam er statt der Rettungsmedaille.
Das Baden in der Saale aber wurde den Zwillingen von den Eltern künftig verboten.