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Tief und bleiern grau hing der Novemberhimmel über dem Saaletal. Trotzdem das Sternenhaus frei auf der Höhe lag, war es darin so dunkel, daß man den ganzen Tag Licht brennen mußte.
Bubi und Piccola wußten gar nicht, was sie davon halten sollten, ob es Mittag- oder Abendessen war, das die Familie um den vom rötlichen Lampenschein übergossenen Tisch versammelte. In Anbetracht des großen Hammelknochens, der Bubi von Minna serviert wurde, mußte er wohl trotz Lampenlichts auf die Hauptmittagsmahlzeit schließen. Auch die Zwillinge saßen heute bei grüner Arbeitslampe an ihren Schreibpulten und machten Schularbeiten. Die Vierfüßler kamen ganz aus der Zeitrechnung und hielten es für das Vernünftigste, in ihrem Körbchen den dunklen Tag zu verschlafen.
Am andern Morgen aber, als Mensch und Tier erwachten, flutete lichter Schein in das Sternenhaus. Und als Suse, die immer ein paar Minuten früher aus dem Bett war als der Langschläfer Herbert, die Fenstervorhänge zurückzog, blickte sie ringsum in blendendes Weiß. Weiß, alles schlohweiß, wohin man auch sah. Der Garten, der gestern noch so grau und häßlich ausgesehen, trug ein festlich weißes Samtkleid. Die kleinen knorrigen Obstbäume waren über und über mit weißen Flockenblütchen behangen. Das blaue Gartengitter schien weiß angestrichen, jede Holzlatte trug ein weißes Schneekäppchen. Und immer noch flogen, tanzten und wirbelten die Flocken hernieder in tollem Durcheinander. Suse stand und starrte in das Schneewunder da draußen hinaus. Wirklich, wie ein Wunder schien es ihr, ganz neu und überraschend. Hatte sie doch im vorigen Winter in Süditalien keinen Schnee zu sehen bekommen. Das Gedicht, das die Großmama mit ihnen vor Jahren, als sie noch kleine Kinder waren, gelernt hatte, von Frau Holle, welche die Wolkenbetten ausschüttelte, kam ihr in den Sinn. Wie ihre Kinderfrau, Frau Annchen, hatte sie sich damals Frau Holle vorgestellt.
»Herbert – Junge – wach' auf, es schneit!« rief Suse ins Nebenzimmer, wo ihr Zwilling noch nichts von dem Wunder, das sich über Nacht begeben hatte, ahnte. Auch dort geschah ein Wunder. Herbert, der frühmorgens im Bett nur in Grunzlauten Antwort zu geben pflegte, war plötzlich mit einem Satz aus den Federn und am Fenster.
»Famos – sind unsere Schneeschuhe aus Berlin mit hergekommen?« Statt Schuh und Strümpfe hätte er sie am liebsten gleich angeschnallt.
»Sieh nur, wie schön alles da draußen aussieht, Herbert. Als ob die Obstbäume blühen«, machte die sinnige Suse den Bruder aufmerksam.
»Quatsch – im Winter!« Herbert war ganz und gar für die Wirklichkeit. »Ich trete dem Jugendskisportverein bei, die meisten Jungen in der Quarta gehören dazu und – – –«
»Ich auch. Nicht wahr, Herbert, du nimmst mich auch dazu mit? Helga und Inge und Anneliese und Ruth und noch eine ganze Menge aus meiner Klasse sind auch dabei«, rief Suse eifrig.
Der Bruder machte ein bedenkliches Gesicht. »Glaub' ich nicht, daß du aufgenommen wirst, Suse. Man muß dazu sehr sicher Schneeschuhlaufen können, damit man bei den Skiwanderungen in den Bergen nicht zurückbleibt. Ich selbst muß noch tüchtig dazu üben. Und Jugendwettskispringen ist hier jeden Winter von der Sprungschanze – da traust du dich gar nicht mitzumachen.«
»Nee –,« sagte Suse kleinlaut, »aber vielleicht geht's auch ohne springen.«
Vorläufig hieß es aber mal springen, um nicht zu spät in die Schule zu kommen.
»Mutti, Muttichen – wo sind unsere Schneeschuhe?« so stürmte Herbert statt des üblichen »Guten Morgen« in das Frühstückszimmer. »Ich laufe heute auf Schneeschuhen nach der Schule, da bin ich in wenigen Minuten dort.«
»Nun, mein Junge, ich denke, du wünschst vor allem ›Guten Morgen‹. Die Schneeschuhe habe ich auf dem Boden verpackt und muß sie erst heraussuchen«, bedeutete die Mutter.
»Ich hole sie, Mutti, du brauchst dich gar nicht beim Kaffee stören zu lassen.« Herbert war bereits wieder an der Tür. Aber des Vaters Stimme hielt ihn zurück.
»Herbert, setze dich hin und frühstücke. Du hast sowieso kaum noch fünf Minuten Zeit dazu. Es ist nicht nötig, daß die Schneeschuhe gleich am ersten Tage in Gebrauch genommen werden.«
Aber wenn sich Herbert mal was in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht so leicht davon abzubringen.
»Es ist Zeitersparnis, Vater. Du sagst doch immer, wir müssen mit allem sparsam sein, auch mit der Zeit.«
Der Vater lachte. »Stehe zehn Minuten früher auf, mein Sohn, dann bringst du den Zeitunterschied ein. Und jetzt trinke endlich deinen Kakao.«
Suse war schon fertig und schlüpfte in den Mantel. Sie war immer pflichttreu und pünktlich. »Herbert, ich gehe voraus. Ich will nicht wegen der dummen Schneeschuhe zu spät kommen. Wir haben die erste Stunde bei Professor Martin, da muß ich besonders pünktlich sein.«
»Ich hole dich ja noch zehnmal auf meinen Schneeschuhen ein«, meinte Herbert großartig und schob die Semmel statt in den Mund in die Tasche. Raus war er, ehe noch Vater oder Mutter ihr Verbot wiederholen konnten. Hast du nicht gesehen, mit ein paar Sätzen die Bodentreppe hinauf. Beinahe rannte er die Minna, die dort oben ihre Stube aufräumte, um.
»Nanu, wo brennt's?«
»Ach, Minnachen, helfen Sie mir doch schnell die Schneeschuhe suchen. Wenn ich zu spät komme, setzt es ein Donnerwetter in der Schule.«
»Laß das doch bis nachmiddag, Herbert. Sieh nur, wie vollgebackt der Boden ist. So schnell winden wir die Dinger nicht«, riet Minna.
»Semmel und Brot ist gebackt, aber nicht der Boden.« Trotz der großen Eile mußte Herbert doch noch die Minna foppen. Er musterte die aufgetürmten Koffer, Schachteln und sonstigen Gegenstände, die dort oben in der Bodenkammer ein beschauliches Dasein führten, kritisch. Minna hatte recht, so schnell fanden sich die Dinger nicht.
»Na, denn wenigstens den Rodelschlitten. Der guckt ja da gerade raus.« Die Jungenhände zerrten ihn bereits zwischen Kisten, Schachteln und Körben hervor.
Krach – da lag der sorglich getürmte Aufbau eingestürzt auf dem Boden. Herbert aber zog unbekümmert mit seinem Schlitten und mit staubigem Anzug davon.
Das Hinabsausen vom Berghang aber war nicht so einfach, wie Herbert sich das vorgestellt hatte. Es hatte die ganze Nacht hindurch geschneit. Der Schnee lag hoch. Es war noch keine Bahn geschaufelt. Der Schlitten blieb entweder im Schnee stecken oder er glitt so langsam abwärts, daß man zu Fuß schneller hinabgelangte.
»Wie ein lahmer Gaul!« räsonierte Herbert ärgerlich. Bestimmt kam er heute zu spät. Daran hatte nur dieser dämliche Rodelschlitten schuld. Denn sich selbst pflegte Herbert niemals die Schuld beizumessen. Suse war gewiß längst schon in der Schule, und er krebste hier immer noch im Schnee herum.
Wer niemals in der Schule zu spät gekommen, kennt das beklemmende Gefühl nicht, das nach dem Läuten die tiefe Stille erzeugt, die über Treppen und Korridoren in dem sonst so belebten Gebäude lagert. Selbst auf Herberts keckes Jungenherz legte sich diese ungewohnte Stille mit Zentnergewicht. Wenn er nur nicht dem Direktor in die Arme lief. Mit Doktor Dense, der jetzt Rechenstunde gab, war er gut Freund, mit dem würde er schon fertig werden. Herbert zog seinen Rodelschlitten den Korridor entlang. Es gab ein peinliches Geräusch.
Da – Schritte – Stimmen. Sie näherten sich. Gleich konnten die Sprecher um die Ecke biegen.
Herbert, der selten um einen Ausweg verlegen war, sah sich doch eine Sekunde ratlos um. Wo gab es ein Versteck? Da fiel sein Blick auf den Rodelschlitten, die schuldige Ursache seines Zuspätkommens. Eins – zwei – drei, den Schlitten an die Wand gezogen, hinuntergekrochen und den Mantel, den er bereits ausgezogen hatte, darübergebreitet. So lag er herzklopfend, zusammengezogen wie ein Frosch. – Würde das Unheil vorübergehen, ohne daß man ihn in dem Halbdunkel bemerkte?
Die Herren schienen in ihr Gespräch vertieft. Herberts Herz schlug schneller. Er hatte die Stimme des Direktors erkannt. Unweit vor Herberts Schlupfwinkel blieben sie stehen. Sie unterhielten sich über die Einführung eines neuen physikalischen Lehrbuchs.
Herbert lugte durch ein Knopfloch seines Mantels hindurch. Der Direktor stand mit dem Rücken gegen den Schlitten. Wenn sie nur weitergehen wollten! Herberts Lage war nicht beneidenswert. Kaum konnte er noch in der zusammengekrümmten Stellung verharren. Himmel, jetzt erklärte der Direktor dem andern Herrn sogar noch ein neues Experiment aus dem Lehrbuch. Sie standen wie angewachsen.
Ein abscheuliches Kribbeln im linken Fuß zwang Herbert, seine Lage ein wenig zu verändern. Der Fuß war ihm eingeschlafen. Wie Selterwasser kribbelte es darin. Nein – das hielt er nicht länger aus – komme, was da wollte. Durch den stillen Schulkorridor dröhnte plötzlich ein lautes Poltern – der Schlitten war bei Herberts Streckversuchen umgekippt.
Die Herren traten entsetzt einen Schritt zurück. Was spukte denn da auf der Erde herum?
Ein Bürschchen von etwa zwölf, dreizehn Jahren sprang neben dem polternden Ding empor und hüpfte zum größten Erstaunen der beiden Herren auf einem Bein den Korridor auf und nieder.
»Hallo – was soll denn das bedeuten?« Der Direktor musterte kopfschüttelnd den umgekippten Rodelschlitten und den wie ein Vogel herumhüpfenden Schüler.
»Entschuldigen Sie, Herr Direktor, mein Bein ist eingeschlafen«, erklärte Herbert, ohne sich in seinen Hüpfübungen zur Ermunterung des eingeschlafenen Beines stören zu lassen.
»Mir scheint, daß nicht allein das Bein, sondern du selbst zu lange geschlafen hast. Wie kommt es, daß du jetzt noch nicht in deiner Klasse bist?« examinierte der Schulleiter stirnrunzelnd.
Herbert hielt einen Augenblick im Hüpfen inne und wies auf den Rodelschlitten. »Der Schlitten ist bloß daran schuld, er blieb in dem hohen Schnee immerzu stecken.«
»Der Schulweg ist keine Rodelbahn. Künftig kommst du ohne Schlitten zur Zeit in die Schule. Bist du nicht der Winter aus der Quarta, den ich neulich schon mal erwischte? Ich möchte dich nicht zum drittenmal bei einer Extratour antreffen. Und nun marsch in die Klasse!«
Herbert hüpfte und humpelte, so schnell er konnte, davon – Gott sei's getrommelt, es war ohne Tadel, ohne Arrest abgegangen.
So – nun kam der zweite Teil. Bescheidener, als es sonst seine Art war, pochte Herbert an die Klassentür. Auf das »Herein« hüpfte er zum Gaudium der Quarta auf einem Bein zum Katheder. Denn das Kribbeln im Fuß war jetzt in ein niederträchtiges Pieken wie mit Stecknadeln übergegangen.
»Nanu? Was kommt denn da für ein Vogel hereingehüpft? Winter, bist du auf dem Wege verunglückt?« fragte Doktor Dense erschreckt.
Einen Augenblick zögerte Herbert mit der Antwort. Wenn er die Frage bejahte, setzte es keine Standpauke mehr und schließlich – er war ja wirklich mit seinem Schlitten verunglückt, wenn auch erst auf dem Flur draußen. Er hob die Augen zum Lehrer und begegnete seinem teilnahmsvollen Blick. Nein, er brachte es nicht über sich, den Ordinarius, der so kameradschaftlich nett mit seinen Schülern verkehrte, zu beschwindeln.
»Bitte, entschuldigen Sie, daß ich zu spät gekommen bin, Herr Doktor. Ich hatte meinen Schlitten mit und kam bei dem hohen Schnee nicht vorwärts. Verunglückt bin ich nicht, nur mein Bein war eingeschlafen«, sagte Herbert dann der Wahrheit gemäß. Er ahnte nicht, daß der innere Kampf, den er soeben siegreich über die Unwahrheit ausgefochten, ihm in dem offenen Gesicht stand, daß der Lehrer, der seine Jungen kannte, darin wie in einem Buche las.
»Brav, Winter, daß du gegen mich und gegen dich selbst ehrlich gewesen bist. Siehst auch nicht aus, als ob du dich im weißen Schnee herumgesielt hast, eher, als ob du aus dem Kehricht kommst. Laß dich von einem Kameraden abbürsten, und hole dein Versäumnis durch doppelte Aufmerksamkeit nach.« Damit war die Sache für Doktor Dense abgetan.
Ach, wie leicht war einem doch ums Herz, wenn man ehrlich gewesen war. In der großen Pause, als die Schüler in das Schneetreiben hinausstürmten, um einen lustigen Kampf mit weißen Schneekugeln drunten im Schulhof auszufechten, war Herbert einer der übermütigsten.
Auch in dem unweit gelegenen Mädchenlyzeum flogen die Schneebälle in der Zwischenpause hin und her. Auch dort schleuderte man mit Kraft und Geschicklichkeit die weißen Geschosse. Besonders Helga Martin war dabei kampftüchtig. Wie eine Göttin der nordischen Sage stand sie mit ihren Blondzöpfen und den blitzenden Blauaugen da. Wehe dem, der sich in ihre Nähe wagte. Ihr Zwilling Inge sekundierte ihr, indem sie die Schneekugeln ballte und sie ihr zureichte.
O weh – ein Geschoß flog der auf die Freundinnen zueilenden Suse Winter mitten ins Gesicht. Das hatte Helga nicht beabsichtigt.
Schreiend griff Suse sich an das Auge. »Mein Auge – mein Auge ist getroffen – ich bin blind – ich kann nichts mehr sehen!« So schrie und jammerte sie. Denn sie konnte im ersten Augenblick das brennende Auge nicht gleich wieder öffnen.
Entsetzt eilten die Freundinnen hinzu, mit erschreckten Gesichtern umgab die eben noch so ausgelassene Mädchenschar die Jammernde.
»Du mußt mit Schnee kühlen«, schlug Helga aufgeregt vor, während Inge die weinende Freundin zärtlich streichelnd zu beruhigen suchte. »Versuche doch mal, das Auge aufzumachen, Suse. Es wird schon gehen. Wenn du es so fest zukneifst, kannst du natürlich nichts sehen.«
»Ich bind blind – das Auge ist raus – und ihr seid schuld daran.« Suse schüttelte die streichelnden Hände der Freundinnen ab.
Eine Lehrerin trat in den Kreis der erschreckten Mädchen und fragte nach der Ursache der Aufregung. »Na, so schlimm wird's ja nicht gleich sein«, beruhigte sie. »Zeige mal das Auge her, Suse Winter. Es ist ein wenig rot und geschwollen, so – nun öffne es mal – es geht ganz bestimmt – noch weiter. Na, nun kannst du wieder sehen, nicht wahr? Mach' nur noch ein paar kalte Umschläge, dann geht die Schwellung bald zurück. Man muß nicht gleich so wehleidig sein.«
»Es brennt noch immer wie Feuer.« Suse hielt das Auge schon wieder geschlossen.
Die Martinschen Zwillinge ärmelten sie von links und rechts unter. »Blindekuh, ich führe dich«, scherzte Helga, glücklich, daß der Schreck umsonst gewesen war.
Was – Helga konnte scherzen, wo sie ihr solche Schmerzen verursacht hatte? Das nannte die Freundschaft? Ungestüm machte sich Suse frei.
»Schuß!« sagte sie in der Quartanersprache ihres Zwillings. »Schuß für alle Ewigkeit!«
»Aber Suschen, sei doch nicht so«, begütigte Inge. »Die Helga hat es doch nicht mit Absicht getan und – – –«
»Und mit dir bin ich überhaupt auch schuß, weil du Helgas Zwilling bist und weil du ihr den Schneeball zugereicht hast«, rief die sonst so sanfte Suse empört und wandte ihren beiden Herzensfreundinnen den Rücken.
»Herbert hat recht – die Suse ist wirklich ein Marzipanpüppchen. Und da will sie in unsern Schneeschuhklub eintreten«, sagte Helga achseljuckend zu der Zwillingsschwester.
Suse hatte es gehört. Wie ein Dolch war ihr das »Marzipanpüppchen« in das Herz gefahren. Da sah man ja, was Freundschaft wert war.
In der nächsten Stunde, Deutsch bei Professor Martin, saßen die drei verfeindeten Freundinnen wie stets nebeneinander. Aber kein zärtlicher Blick flog aus Veilchenaugen zu haselnußbraunen wie sonst. Jede sah geradeaus, als ob die Nebensitzende Luft sei. Suse hielt sich ein nasses Tuch vor das geschwollene Auge. Sie hatte auf die teilnehmende Frage des Lehrers: »Ei, Suse, wo bist du denn verwundet worden?« nur geantwortet: »Mir ist ein Schneeball ins Auge geflogen.« Denn petzen, nein, petzen mochte Suse nicht, wenn sie auch mit den beiden »schuß in alle Ewigkeit« war.
Ach, mehr als das Auge, das unter dem kühlenden Tuch allmählich zu brennen aufhörte, war ihr das Herz verwundet. Sie hatte ja solch ein weiches, liebevolles Herz, die Suse. Das litt und brannte unter dem Bewußtsein der Feindschaft mit ihren beiden besten Freundinnen. Und dann war da noch etwas, was sie quälte: Hatten sich Inge und Helga nicht getreulich um sie gemüht und gesorgt, nachdem das Unheil geschehen war? Hatte sie nicht selbst schroff diese freundschaftlichen Beweise zurückgewiesen? Ja, aber das »Marzipanpüppchen«! Das Wort war doch nun mal gefallen – es trennte sie auf ewig.
Suse richtete ihr gesundes Auge zum Fenster hinaus zu dem weißlichen Schneehimmel, als könnte ihr von dort Hilfe kommen in dem Widerstreit der Gefühle, von denen ihr junges Herz hin und her gerissen wurde. Es schneite noch immer. Lustig, übermütig tollten die Flocken durcheinander. Ach, hätte Frau Holle doch heute nur nicht ihre Betten geschüttelt. Frau Holle war schuld an dem Zerwürfnis. Suses gesundes Auge begann zu tränen. Ein großer, klarer Tropfen sickerte das Näschen hinab und wurde von dem Mund rasch aufgefangen.
»Schmerzt es so arg, Suse?« erkundigte sich der Lehrer, dem ihre Unaufmerksamkeit nicht entgangen war.
»Es geht.« Suse wurde rot bis an das goldbraune Haar. Ach, wenn Herr Professor Martin wüßte, was so schmerzte. Sie schielte zu den neben ihr sitzenden Feindinnen – nur ein kleines bißchen – da begegnete sie links wie rechts mitleidigen Blicken aus Veilchenaugen. Oh, nahmen die beiden ihre Feindschaft so wenig ernst? Sie wollte ihnen schon zeigen, wie ernst es ihr selber damit war, wenn es auch noch so weh im Herzen tat. Krampfhaft richtete Suse jetzt ihr Auge auf das Katheder, ohne viel vom Unterricht zu verstehen. Denn ihre Gedanken gingen eigene Wege, die kehrten immer wieder zu dem Schmähwort »Marzipanpüppchen« zurück.
Da wurde ihre Aufmerksamkeit, die heute viel zu wünschen übrigließ, plötzlich gefesselt. Ein Wort Goethes war es, das Professor Martin mit der Klasse durchsprach. »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.« Den Zusammenhang mit dem Vorangegangenen hatte Suse überhört. Aber die Frage des Lehrers: »Was ist edel?« riß sie aus ihrer Versunkenheit.
»Edel ist, wenn man den Armen hilft«, antwortete eins der Mädel.
»Das ist wohl schon mehr unter den Begriff ›hilfreich‹ einzureihen«, überlegte der Ordinarius mit seiner Klasse. »Nun, Ruth?«
»Edel ist, wenn man selbstlos ist und mehr an andere denkt als an sich«, antwortete Ruth.
»Ja, das ist eine richtige Überlegung. Was meinst du, Hilde?«
»Edel ist, wenn man dem Schwachen beisteht.«
»Gut – Anni Neumann?«
»Edel ist, wenn man sich für irgend jemand opfert.«
»Nun, du denkst gleich an große Taten, Anni. Die Geschichte nennt uns viele edle Männer. Erst neulich erzählte ich euch von dem Stallmeister Froben, der in der Schlacht bei Fehrbellin im ärgsten Kugelregen sein Roß mit dem Schimmel des Großen Kurfürsten tauschte, weil das weiße Pferd dem Feinde als Zielscheibe diente. Der Brave opferte sich selbst für seinen Herrn – das war edel.«
»Edel ist, wenn man gar keinen Krieg mehr macht, sondern wenn alle Menschen in Frieden miteinander leben«, sagte die Erste.
»Bravo, Eva, mit allen Menschen in Frieden leben, das ist edel!« Suse fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Also sie war heute nicht edel. Sie hatte ihren besten Freundinnen den Krieg erklärt.
»Man kann auch edle Gesinnung im kleinen beweisen, es bedarf dazu nicht nur großer Leistungen«, nahm Professor Martin wieder das Wort. »Jederzeit im alltäglichen Leben kann man edel sein, selbst Kinder. Keiner ist zu jung dazu. Nun, wollen uns die Zwillinge noch etwas dazu sagen?«
Inge und Helga hatten beide den Finger erhoben.
»Es ist edel, seinem Feinde zu vergeben«, sagte Helga.
»Man soll Böses mit Gutem vergelten«, erklang Inges Stimme neben der erglühenden Suse.
»Freilich, das ist noch edler.« Irrte sich Suse oder sah Professor Martin sie ganz merkwürdig dabei an? Da wandte er sich zu ihr: »Du bist ja heute so schweigsam, Suse Winter. Willst du uns nicht auch noch sagen, was du unter edel sein verstehst?«
»Wenn man treue Freundschaft hält und seinen Freund nicht beschimpft.« So, da hatten Inge und Helga auch ihr Teil. Gleich darauf durchzuckte es Suse – war es nicht unedel, Böses mit Bösem zu vergelten?
Der Lehrer lachte. »Das ist selbstverständlich, sonst ist es ja keine Freundschaft. Dazu braucht man gar nicht besonders edel zu sein, Suse. Nun kommen wir zu den Eigenschaften hilfreich und gut, da wird sich eine Erklärung erübrigen. Ein edler Mensch ist auch gut und hilfreich. Das eine schließt das andere ein. So – und nun denkt zu Hause noch über dieses Goethesche Wort nach. Wir schreiben darüber demnächst einen Aufsatz.«
Ach, Suse dachte an nichts anderes. Als sie mittags allein, nicht wie sonst Arm in Arm mit den Freundinnen, unter Frau Holles Schneegestöber heimzog, da verstand sie das Goethesche Wort ganz genau: Es war nicht edel, mit seinen Freunden »schuß auf ewig« zu sein!