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Fein, daß der nächste Tag ein Sonntag war. Da hatte der Vater Zeit, seinen Zwillingen die alte Universitätsstadt, in der er als Student schon fröhliche Stunden verlebt hatte und in der er jetzt als Gelehrter ein reiches Wirkungsfeld gefunden, zu zeigen.
Von morgens um neun Uhr an standen Herbert und sein Bubi zum Abmarsch bereit, als der Vater sich gerade erst die Sonntagszigarre ansteckte und zur Zeitung griff.
Suse, als anstelliges Hausmütterchen, ging indessen der Mutter zur Hand. Denn die neue Minna war noch nicht eingetroffen. Es machte Suse Spaß, ihr hübsches Zimmer selbst aufzuräumen. Besonders mit dem neu angeschafften Mop, den sie bisher noch nicht kannte. Er sah aus wie jeder andere Besen, hatte aber keine Roßhaare, sondern Baumwollfransen statt dessen. Schon der Name war so ulkig. »Ich nenne ihn lieber ›Mops‹, Mutti. Muß ich ihn in Wasser tauchen und damit den Fußboden aufwischen?«
»Um's Himmels willen nicht. Die Fransen sind geölt, dadurch ziehen sie allen Staub in sich ein und machen die Fußböden gleich blank. Man braucht weder Besen noch Schaufel beim Moppen.«
»Famos, Mutti. Da kann sich die neue Minna freuen.«
»Laß mich moppen.« Herbert, dem sein Warteposten unten zu langweilig geworden – denn wenn der Vater erst mal bei der Zeitung saß, legte er sie sobald nicht aus der Hand –, stellte sich ein. Der Mop übte, wie alles Neue, unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus.
»Aber nur einmal«, räumte Suse schweren Herzens ein.
»Schön, ich werde meine Stube moppen.« Herbert begann in seinem Zimmer sich mit dem Mop wie ein Karussell zu drehen. Bubi, der das Ding als eine für ihn eigens erfundene Belustigung betrachtete, sprang blaffend, nach den Mopfransen schnappend, hinterdrein.
»So ist es gar nicht richtig. Langsam mußt du moppen.« Diesmal wußte es Suse besser.
»Ich kann in meiner Stube so moppen, wie ich will«, gab der Bruder patzig zurück und drehte sich nur noch schneller.
Noch eine hatte sich zu diesem Schauspiel eingefunden – Suses Piccola. Die hielt die grauen Mopfransen, die da so wild durchs Zimmer sprangen, wohl gar für ein Mäuslein, denn sie war noch ziemlich jung und unerfahren. Possierlich setzte sie hinter dem grauen Ding her. Aber das ließ Bubi sich nicht gefallen. Das war sein Spielzeug. Sein kleiner Herr drehte es im Kreise. Er begann feindlich zu knurren, und da das spielerische Kätzchen keine Notiz davon nahm, nach ihm zu schnappen.
»Jetzt gibst du den Mop aber her, Herbert. Bubi und Piccola zanken sich schon darum. Zum Spielen hat uns Mutti das Ding nicht gegeben. Ich muß mein Zimmer damit sauber machen.« Vergeblich versuchte Suse dem lachend im Zimmer herumfahrenden, Bruder den Mop zu entreißen. Eine regelrechte Balgerei entstand.
O weh – Suse hielt plötzlich die geölten Stofffransen in der Hand, während Herbert betroffen auf den leeren Holzstiel, den er jetzt nur noch im Kreise drehte, blickte.
»Du hast ihn entzweigemacht – – –«
»Nein, du – warum hast du ihn mir nicht gegeben – – –«
»Und die Fransen hat Bubi ausgerissen – – –«
»Jawoll, deine Katze mit ihren Krallen – – –«
»Mutti – Muttichen – komm bloß mal her – der Mops ist kaputtgegangen.« Suse schrie Zetermord.
»Dummes Ding, brüll' doch nicht so. Ich mach' ihn schon wieder ganz.« Es war dem Herbert doch nicht ganz gemütlich zumute, als er Mutters Schritt auf der Treppe hörte.
»Ja, Kinder, was ist denn hier los? So weiht ihr den ersten Sonntag im neuen Heim ein? Ist das unser Feiertagsfrieden?« sagte die Mutter, vorwurfsvoll von einem zum andern blickend.
Piccola zog sich unauffällig in ihr Körbchen zurück. Bubi machte ein völlig unbefangenes Hundegesicht, als ob er ganz unschuldig sei. Herbert hielt der Mutter stumm den leeren Mopstiel entgegen. Suse begann: »Mutti, der Herbert – – –.« Dann senkte sie beschämt den Blick vor Muttis vorwurfsvollen Augen. Wollte sie wirklich ihren Zwillingsbruder beschuldigen?
»Daß der Mop auseinandergegangen ist, das hat nichts zu bedeuten. Er ist leicht wieder einzuhaken. Aber daß ihr gleich am ersten Tage im Sternenhaus miteinander Streit anfangt, das betrübt mich sehr. Ich habe mich immer darüber gefreut, daß meine Zwillinge ein Herz und eine Seele waren. Habe manchmal gedacht, auf den Herbert und die Suse kann ich mich verlassen, die stehen einer für den andern im Leben. Und nun ist von euerm liebevollen Einvernehmen nichts mehr zu merken. Das beeinträchtigt mir die Freude an unserm schönen neuen Heim.«
Der weichherzigen Suse liefen bereits die Tränen über die Wangen. Herbert aber meinte beruhigend zur Mutter: »Ach, Mutti, deshalb brauchst du dich nicht aufzuregen. Je mehr wir uns kabbeln, um so lieber haben wir uns. Suse muß ein bißchen energisch angepackt werden. Sie ist viel zu waschlappig.«
»So überlaß uns das, mein Sohn. Wir werden die Suse auch ohne dich richtig erziehen.« Die Mutter begab sich wieder an ihre hauswirtschaftliche Tätigkeit.
Herbert puffte Suse mit dem Ellenbogen möglichst sanft. »Du – heule doch nicht – ich hab' dir doch nichts getan.« Es war ihm unbehaglich, seinen Zwilling weinen zu sehen.
»Nee – aber ich dir«, schluchzte Suse.
»Du – mir?« Herbert machte ein dummes Gesicht.
»Ja, ich hab' dich beinahe angepetzt«, gestand Suse.
»Beinahe ist nicht ganz – also wollen wir uns wieder vertragen.« Er wirbelte die Suse, wie vorhin den Mop, im Kreise herum. Dann zogen sie, wieder ein Herz und eine Seele, hinunter, um zu sehen, ob der Vater nun endlich mit Zigarre und Zeitung fertig sei.
Suse hatte zwar etwas Gewissensbisse, der Mutter die häusliche Arbeit allein zu überlassen. Aber Herbert meinte, daß Mutti das viel besser ohne sie mache. Und wenn das auch nicht gerade ein Kompliment war, immerhin beruhigte es etwas. Da erschien die Mutter plötzlich in Hut und Mantel zum Aussehen gerüstet in der Diele.
»Du kommst mit, Mutti? Ach, ist das famos!«
»Ich habe gestern schon alles vorbereitet zu heute. Ich muß doch sehen, wie meinen Kindern unsere neue Heimat gefällt.«
Nun war auch der Vater soweit. Bubi lief aufgeregt blaffend unzählige Male vom Haus zur Gartentür und wieder zurück. Himmel, wo blieben sie denn? Die Menschen waren doch zu umständlich, ehe sie sich in Bewegung setzten. Er war immer gleich fix und fertig. Piccola blieb allein im Sternenhaus zurück und vertrieb sich die Zeit mit einer abgerissenen Mopfranse.
»Wo gehen wir zuerst hin?« erkundigte sich die Mutter.
»Ins Planetarium«, kam Herbert dem Vater mit der Antwort zuvor. »Das müssen wir unbedingt zuerst sehen.«
»Ach ja, in den Prinzessinnengarten«, fiel auch Suse ein. Der Name hatte besonderen Eindruck auf sie gemacht.
»Schön, Kinder, wir werden uns das Zeiß-Planetarium von außen ansehen. Es ist heute am Sonntag dort drin ziemlich voll. Da kommen die Leute alle aus der Umgegend. Ich möchte euch später in Ruhe die großartige Zeißsche Schöpfung erklären. Ihr wollt doch auch gewiß gern euern Vater dort den Vortrag halten hören. Heute spricht ein junger Privatdozent.«
»Och, das ist ja Speck wie Wurscht. Dich können wir ja zu Hause alle Tage hören, Vater«, meinte Herbert, der darauf brannte, das Planetarium kennenzulernen.
»Ich wollte euch heute die Stadt Jena zeigen. Da gibt's genug zu sehen. Die optischen Werkstätten von Zeiß und das Planetarium füllen jedes einen Nachmittag für sich aus.«
»Was sind denn die optischen Werkstätten von Zeiß, Vater?«
»Das größte Unternehmen seiner Art, ein Werk der Wissenschaft und der Technik zugleich, mein Junge, für das tüchtige Männer ihre ganze Lebensaufgabe eingesetzt haben und das jetzt vielen Tausenden zugute kommt. Optik ist die Lehre vom Sehen. Alles, was in dieses Bereich fällt, wird in den optischen Werkstätten hergestellt, Feldstecher, Operngläser, Brillen, Thermometer, medizinische Gläser, photographische Objektive, vor allem Mikroskope. Das sind Vergrößerungsapparate, die in der medizinischen Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen.«
»Das wissen wir doch schon«, sagte Herbert beinahe gekränkt. »Ich habe sogar schon in ein Mikroskop hineingesehen.«
»So – wo denn, mein Junge?«
»Der Großpapa in Freiburg hat doch ein Mikroskop. Beinahe hätte es Bubi umgeworfen. Da habe ich reingeguckt. Großpapa hat mir Bazillen gezeigt. Wie ein Komma sahen sie aus.«
»Und mir hat der Großpapa ein Lindenblatt eingelegt«, fiel Suse ein. »Ganz groß waren da drin die Blattzellen. Aber die Augen tun einem weh, wenn man lange durch solch Miskroskop guckt.«
»Miskroskop – hahaha – die Suse denkt, das Wort kommt von ihre Mies her.« Herbert lachte die Schwester wieder mal weidlich aus.
Der Vater mußte sich ebenfalls zur Seite wenden, um das Lachen zu verbeißen. Er mochte das Töchterchen doch nicht kränken. Die gute Mutti nahm sich Suses wieder an.
»Mikroskop ist auch ein schweres Wort. Das nächste Mal wird es Suschen richtig sagen. Herbert, hör' auf, die Suse auszulachen. Du weißt auch vieles noch nicht.«
»Hier ist der Carl-Zeiß-Platz mit dem Abbedenkmal, Kinder. Das sind die Begründer des großen Werkes. Carl Zeiß war der Sohn eines Spielwarenhändlers aus Weimar. Er interessierte sich schon als Junge für Basteleien und wurde Mechaniker. Etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts kam er nach Jena und gründete hier eine kleine feinmechanische Werkstatt. Bald wurde er Mechaniker an der Universität. Hier wurde Dr. Ernst Abbe, vor dessen Denkmal wir hier stehen, sein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Abbe hatte sich vom Sohn eines einfachen Spinnmeisters zum Professor der Physik und Mathematik emporgearbeitet. Nach dem Tode seines Freundes Carl Zeiß hat er die optischen Werke allein weitergeführt und ihren Betrieb auf jedem Gebiet vergrößert und weltberühmt gemacht. Dabei hat er nie vergessen, daß er aus einfachen Arbeiterkreisen hervorgegangen ist. Für die Arbeiter seiner Betriebe hat er wie ein Vater gesorgt. Auf seinen Gewinnanteil von dem gewaltigen Unternehmen hat er selbstlos verzichtet und die großen Summen für gemeinnützige Zwecke gestiftet. Er ist der Wohltäter der Stadt Jena geworden. Das Volkshaus dort drüben hat er für die Bevölkerung aller Klassen gebaut mit einer Volkshochschule, um die allgemeine Bildung zu heben. Jugend- und Sportvereine hat er gegründet zur Förderung der Volksgesundheit. Ein Jugendheim, ein Kinderkrankenhaus, alles dies verdankt ihm die Stadt. Ihr gehört jetzt zur Jugend von Jena, Kinder, und sollt mit Bewunderung und Ehrfurcht zu diesem hervorragenden Manne aufblicken.« So sprach der Professor voller Begeisterung.
Die Kinder hatten mit großen Augen zugehört. Selbst Herbert, der gern unterbrach und fragte, lauschte gespannt. Oh, wie schön mußte das sein, mal solch ein berühmter Mann zu werde«.
Suse aber meinte: »Vater, dürfen wir den Herrn Abbe nicht mal besuchen? Ich hab' ihn schon gern, weil er so gut zu seinen Arbeitern und gegen die Armen ist.«
»War – Suschen. Professor Abbe lebt nicht mehr. Er ist schon 1905 gestorben. Nur in seinen Werken und als Marmorbüste könnt ihr den edlen Mann kennenlernen.« Der Professor betrat mit seiner Familie die Stufen, die zu einem tempelartigen Bau hinaufführten. Stumm standen sie vor dem bedeutenden und doch so gütig blickenden Marmorbildnis.
Bis Herbert das andächtige Schauen unterbrach: »Vater, wenn du erst tot bist, kriegst du vielleicht auch mal so ein feines Denkmal hier in Jena.«
»Aber Herbert!« rief die Mutter halb entsetzt, halb belustigt, während Suschen zärtlich nach des Vaters Hand griff: »Unser Vater soll überhaupt nicht tot werden.« Ganz, ganz fest hielt die Suse ihren Vater.
Der lächelte. »Das ist ein guter Wunsch, Herbert. Nicht das Marmordenkmal hier, aber das Denkmal, das man sich im Herzen seiner Mitmenschen setzt. Ein jeder, ob berühmt oder unbekannt in der Stille lebend, in seinem Kreise kann er so segensreich wirken, daß man ihm eine bleibende Erinnerung bewahrt.«
»Ich will aber doch lieber berühmt werden«, überlegte Herbert.
»Dazu gehört zuerst, daß du deine Pflichten als Gymnasiast erfüllst, mein Junge. Ich bin schon zufrieden, wenn du ein tüchtiger Mann wirst auf dem rechten Platz.«
»Der Großpapa in Freiburg sagt, du seist auch berühmt, Vater. Du wärst einer der bekanntesten Sternforscher. Und es ist gut, daß ich nach Jena komme, hat der Großpapa gesagt, denn da wären immer die berühmtesten Männer der Naturwissenschaft gewesen.«
Dem Professor machte die Unterhaltung mit seinem Jungen Spaß. »Kennst du denn einen, Herbert?«
»Natürlich, Alexander von Humboldt und Professor Ernst Haeckel, die habe ich mir doch als Vorbild genommen.«
»Ein besseres Vorbild brauchst du nicht«, lachte der Vater und wandte sich suchend nach seinen Damen um. Die waren mit Bubi bereits vorausgegangen.
Die Mutter zeigte Suse gerade das Lyzeum, in dem sie schon als Schülerin angemeldet war. In acht Tagen begann das Wintersemester.
Suse betrachtete das Gebäude, das von schönen Anlagen umgeben war, mit geteilten Gefühlen, teils neugierig, teils beklommen. Die Schule spielt im Leben eines jeden Kindes die Hauptrolle. Nun war sie über ein Jahr dem deutschen Unterricht entfremdet. Sie hatte in Neapel eine italienische Schule besucht. Ob sie da in der vierten Klasse mitkommen würde? Zwar hatte sie und Herbert während ihres Sommeraufenthalts in Freiburg bei den Großeltern in Deutsch, Rechnen und Geschichte Privatunterricht gehabt, um die Lücken auszufüllen. Aber ob das genügte?
Herbert war selbstbewußter. Als der Vater ihm sein unweit davon gelegenes Gymnasium, das den stolzen Namen Carolo-Alexandrinum trug, zeigte, meinte er: »Die werden sich wundern, wie fein ich italienisch spreche.«
»Dazu wirst du vorläufig wenig Gelegenheit haben, mein Sohn. Auf Latein und Griechisch wird hier der Hauptwert gelegt. Ich habe lange geschwankt, ob ich dich lieber in ein Realgymnasium geben soll. Aber da du bereits in Neapel Latein getrieben hast, mochte ich das schon einmal Gelernte nicht brachliegen lassen.« Der Vater wies auf einen bergwärts führenden Weg. »Hier geht es zum Ernst-Abbe-Jugendheim und weiter zum Landgrafenberg hinauf. Von dort hat man einen Blick auf das Schlachtfeld.«
»Auf welches Schlachtfeld?« fragte Suse.
»Menschenskind, bist du vernagelt. Wenn du hier in Jena bist, wird es wohl nicht das Schlachtfeld von Leipzig sein.« Herbert tippte zum Überfluß noch mit dem Finger gegen die Stirn.
»In welchem Jahre war denn die Schlacht bei Jena, Herr Besserwisser?« fragte die Mutter.
Eine peinliche Frage, wenn man sie nicht zu beantworten weiß. Aber Herbert war so leicht nicht aus der Fassung zu bringen.
»Das – das muß vor der Schlacht von Leipzig gewesen sein. Bei Jena hat doch Napoleon über die Deutschen gesiegt. Und nachher haben die Deutschen bei Leipzig sich von der Fremdherrschaft Napoleons wieder freigemacht.«
»Richtig. 1806 war die Niederlage bei Jena und 1813 die Völkerschlacht bei Leipzig. Suschen, das mußt du in der Schule wissen«, meinte die Mutter bedenklich.
Ach, Suse machte ein noch viel bedenklicheres Gesicht. Sie wußte es schon im voraus, daß auch sie in Jena eine Niederlage erleben würde.
»Vater, gehen wir hinauf auf den Berg, das Schlachtfeld anzusehen?« erkundigte sich Herbert.
»Nein, mein Sohn. Man sieht nichts mehr davon, wie böse es da hergegangen, wieviel Blut hüben und drüben geflossen ist. Wir wenden uns lieber Werken des Friedens zu. Der Krieg reißt ein, was Kultur aufbaut. Kommt, ich zeige euch die Stätten friedlicher Arbeit. Dort drüben sind die physikalischen Institute. Da ist auch die Hauptstation für Erdbeben, der ein Teil meiner hiesigen Arbeit gilt.«
»Erdbeben – bebt es hier etwa auch?« Suse war die einzige, die bebte. Sie hatte in Italien ein Erdbeben erlebt. Das hatte auf das zarte Kind einen furchtbaren Eindruck gemacht. Der Vater beruhigte sie.
»Jetzt sollst du den Prinzessinnengarten zu sehen bekommen, Suse«, lenkte er ab.
An einer alten Friedhofsmauer führte der Weg entlang.
»Vater, hier gibt's ja Zypressen wie in Italien«, wunderte sich Suse.
»Die Zypresse mit ihrer niederhängenden, düsteren Benadelung ist der Baum des Todes. Man findet ihn auf allen Kirchhöfen, Kind.«
Und nun stand man an der Pforte des Prinzessinnengartens. Wie ein alter verwunschener Märchengarten öffnete er sich. Altmodisch verschnörkelte Heckenwege, purpurnes Blutbuchengezweig umspann das weinumrankte Sommerschlößchen, das da mit seinem Blumenrondell still von Zeiten träumte, in denen Goethe und Wieland hier ein und aus gegangen.
»Seht ihr den Obelisk dort neben dem Hause, Kinder? Er trägt drei Goethesche Sprüche als Inschrift. Hier ist das Reich der Musen, und dort drüben seht ihr das Neuland der Technik – das Zeiß-Planetarium.« Durch buntes Herbstlaub wurde die gewaltige Kuppel sichtbar.
»Vater, hießen die Prinzessinnen, die früher hier gewohnt haben, Musen?« Suse konnte sich von dem verwunschenen Schlößchen nicht so rasch trennen.
Herbert, der gerade spornstreichs zum Planetarium wollte, hemmte den eiligen Schritt.
»Ist es denn die Möglichkeit – die Suse – kennt keine Muse!« zog er sie schon wieder auf.
»Na, kennst denn du se?« reimte die Mutter lachend weiter.
»Natürlich.« – Das klang sehr großartig. »Das waren doch 'ne ganze halbe Mandel – nee, nee –.« Er sah, daß der Vater die Augenbrauen hochzog. Da stimmte irgend was nicht. »Nee, ich weiß schon, alle neune waren das. Neun griechische Weiber, jede hatte einen andern Beruf. Eine war Schauspielerin, und eine war Tänzerin. Und dann gab's welche, die hatten Geschichte, Musik und die Sterne studiert. Und die heißen Musen.« Diesmal mußte es sich Herbert gefallen lassen, ausgelacht zu werden. Die Eltern konnten nicht ernst bleiben bei dieser merkwürdigen Erklärung.
»Herbert, Junge – nach Mandeln hat wohl noch keiner die Musen gezählt.« Die Mutter lachte, daß sie Tränen in den Augen hatte.
»Alle Neune gibt's beim Kegelspiel, Herbert, aber nicht bei den alten Griechen. Die neun Musen waren griechische Göttinnen, die Kunst und Wissenschaft verkörperten. Das muß ein Quartaner wissen. Ich habe euch doch in Italien Marmorbildnisse gezeigt, welche die Musen darstellten.«
»Ach, Vater, die sehen ja alle gleich aus.« Für Kunst hatte Herbert noch nicht viel übrig.
»Weißt du denn wenigstens, was nach der Muse der Sternkunde heißt, Junge?«
Eigentlich wußte es Herbert nicht. Aber da er das um keinen Preis zugestehen mochte, sagte er auf gut Glück: »Das Planetarium.«
»Falsch! Planetarium kommt von Planet her. Man überlegt erst, und dann spricht man. Na, Suschen, vielleicht weißt du's?«
»Nee, wenn der Herbert es nicht weiß, brauche ich es auch nicht zu wissen.« Suse hatte absolut nicht den Ehrgeiz, mehr zu wissen als ihr Zwillingsbruder. Von klein auf war sie daran gewöhnt, daß er alles besser wußte.
»Die Muse der Sternkunde heißt Urania.«
»Ach, nun weiß ich«, fiel Suse erfreut ein. »Danach heißt die Urania in Berlin, wo wir mal die feine Reise in die Wüste von Afrika gemacht haben.«
»Jedes Institut für Sternenkunde heißt Urania, Suschen. Wir haben hier in Jena auch eine Urania-Sternwarte. Aber du hast recht, Kind. Ich habe euch damals in die Berliner Urania zu einem Reisevortrag mit Lichtbildern mitgenommen.«
»Kientopp ist viel interessanter«, meinte Herbert. »Vater, wann dürfen wir ins Kino gehen?«
»Hier habt ihr das schönste und gleichzeitig lehrreichste Kino«, sagte der Professor. Sie standen vor dem Planetarium. Der Vortrag war zu Ende. Das Publikum strömte heraus.
»Ein Kino ist das Planetarium – ach, Vater, du machst uns bloß was weis«, rief Herbert.
»Das Planetarium ist ein Film, in dem sich die Himmelskörper bewegen, ein Theater, in dem Sterne die Schauspieler sind, und gleichzeitig ein Schulsaal unter dem Gewölbe des Himmels, in dem man seine Kenntnisse bereichert«, setzte der Professor seiner Familie auseinander. »Alles dies schließt das Planetarium in sich.«
Es sollte bald noch mehr in sich schließen.