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14. Kapitel. Der kleine Techniker

Der Schnee schmolz, noch ehe Professors Zwillinge ihre Künste im Schneeschuhlaufen vervollkommnen konnten. Abscheuliches nasses Matschwetter gab es. Grauer, feuchter Nebel hing an den Berghängen, kroch durch die alten Straßen und Gäßchen und umhüllte Häuser und Menschen mit dichtem Schleier. An manchem Tage wollte es gar nicht Tag werden.

Die Jugend empfand diese grauen Tage weniger bedrückend als das Alter. Die hatte so viel Frohsinn und Sonnenschein in sich, daß ihr die düsteren, kurzen Wintertage nichts anhaben konnten. Da wurden schon, trotzdem es noch ganz und gar kein Weihnachtswetter war, allerlei Überraschungen für das Weihnachtsfest geplant. Im Handfertigkeitsunterricht des Gymnasiums wurde gebastelt, gehämmert, geklebt, und in der Handarbeitsstunde des Lyzeums wurde gehäkelt, genäht und gestickt. Die Handarbeitslehrerin der vierten Klasse hatte ihren Schülerinnen vorgeschlagen, für ein armes Kind irgendein praktisches Kleidungsstück zu Weihnachten zu verfertigen. Diese Anregung war mit lebhafter Begeisterung von den empfänglichen jungen Gemütern ausgenommen worden. Wieviel freudiger konnte man dem lieben Weihnachtsfest entgegenschauen, wenn man für andere, denen es weniger gut ging, die Hände regte.

»Ich nähe ein Kleid für Tinchen Schiller. Sie kam neulich schon mit dem Ellenbogen aus ihrem alten heraus«, hatte Suse Winter sogleich überlegt. Von ihrem Spargeld hatte sie in Gemeinschaft mit der Mutter einen netten schottischen Stoff gekauft. Die Lehrerin hatte ihn ihr zugeschnitten, und nun saß sie voller Eifer bei der Arbeit. Und wurde es ihr auch mal etwas langweilig, hätte sie daheim auch ab und zu lieber mit Herbert und mit ihrer Piccola gespielt oder ein hübsches Buch gelesen, sie hielt bei ihrer Näharbeit aus. Stich – Stich – Stich – das Bewußtsein, für ein armes Kind die Finger zu regen, machte ihr die Arbeit lieb. Stundenlang saß Suse jetzt mit ihrer Näherei im Großmutterstübchen neben der keinen Omama. Die Großmama war jetzt recht schlecht daran an den dunkeln Regentagen. Ihre alten Augen quälten sich bei der Handarbeit und bei der Zeitung, gar oft mußten sie ausruhen. Dann schauten sie durch die regenbespritzte Fensterscheibe nach ihren Lieblingen aus. Sobald die Kinder aus der Schule kamen, empfand die alte Frau Winter das niederdrückende Regengrau nicht mehr. Es war, als ob die Stube plötzlich voller Sonnenschein wäre.

Herbert war natürlich weniger seßhaft als Suse. Er begnügte sich damit, der Großmama guten Tag zu sagen, seinen Keks aus der stets bereitstehenden Büchse in Empfang zu nehmen und die neuesten Klassenereignisse zu berichten. Meistens war er ebenso schnell wieder draußen, wie er drin war.

Suse saß neben der Großmama und nähte an Tinchen Schillers Kleid, während die alte Dame aus längst vergangenen Zeiten berichtete, als sie noch in Ostpreußen gewohnt hatte, als Suses Vater noch ein kleiner Junge gewesen war. Wenn Großmama erzählte, ging die Arbeit noch mal so rasch von der Hand. Am Fenster duftete eine dunkelblaue Hyazinthe, ganz klein war sie noch. Es war die erste, die unter Suses getreulicher Pflege dem bunten Schutzhütchen entwachsen war. Sie hatte die sorgsam gehegte Blüte sogleich ihrer Omama gebracht, daß diese sich daran erfreuen sollte. Still und friedlich war es in dem Zimmer.

Da steckte Herbert den braunen, kurzgeschorenen Kopf zur Tür herein. »Du, Suse, bist du denn noch nicht bald mit dem langweiligen Kleid fertig? Man hat jetzt überhaupt nichts mehr von dir – als ob du gar nicht mehr mein Zwilling bist.«

Suse machte ein betretenes Gesicht. »Komm doch auch hier rein zu uns, Herbert. Omama erzählt so schön von früher.«

»Nee, ich mache was ganz Famoses. Aber du sollst auch dabei sein. Ich will mal probieren, Vaters großen Röhrenapparat auf Neapel einzustellen. Vater hat es neulich auch gemacht. Man konnte ganz gut hören. Aber ich glaube, es muß sich noch verbessern lassen.«

»Du sollst ja aber nicht an den großen Rundfunkapparat herangehen, Herbert. Noch dazu, wo Vati und Mutti nicht zu Hause sind. Vater hat es verboten, nachdem du neulich die Lampe hast durchbrennen lassen«, ereiferte sich Suse.

»Dafür konnte ich gar nichts. Wenn du nicht willst, dann läßt du's bleiben. Dann mach' ich's eben allein.«

»Weißt du, Jungchen,« hielt ihn da die Großmama zurück, »ich würde nicht gegen Vaters Verbot an dem Radio basteln. Stelle es lieber mit dem Vater zusammen ein, Herbert. Aber wie wär's denn, wenn du mir meinen kleinen Detektorapparat aus Berlin, der noch eingepackt liegt, anschließen würdest? Du verstehst das doch so gut. Dann brauche ich nicht immer erst ins Wohnzimmer hinüber, sondern kann mich hier in meinem Sessel an all den schönen Kunstgenüssen erfreuen.«

»Au ja, Herbert, du mußt der Omama Radio anlegen«, rief auch Suse begeistert. »Sie klagt, daß sie ihre Augen jetzt an den dunkeln Regentagen zu sehr anstrengen muß. Da hat sie immer Unterhaltung.«

»Menschenskind, bist du dämlich!« Herbert tippte noch zum Überfluß gegen seine Stirn. »Die Omama ist schon zu alt, die kann das nicht verstehen, daß man mit dem Detektorapparat hier in Jena keinen Empfang hat. Wir hören hier doch nur die deutsche Welle und auswärtige Stationen mit Röhrenapparat und Hochantenne. Aber du könntest das wirklich wissen, Suse.«

»Na, du hast dir doch auch den kleinen Apparat, den du von den Großeltern aus Freiburg zu unserm ersten November bekommen hast, angelegt«, verteidigte sich Suse.

»Ist doch auch ein kleiner Röhrenapparat, den ich an die Dachantenne angeschlossen habe. Aber Omama muß in ihrem Zimmer Radio haben, das sehe ich ein.« Er überlegte. »Eigentlich genügt ja, wenn man nur einen Draht von dem großen Apparat hier hereinlegt und die Hörer anschließt. Aber Omama möchte doch gern ihren Detektor angebracht haben. Halt – ich probiert mal. So wird's am Ende gehen!« Und fort war der Junge, die Stubentür sperrangelweit hinter sich offen lassend.

Wo war die Gemütlichkeit in dem ruhigen Großmutterstübchen geblieben? Herbert und Bubi, der ihm wie sein Assistent auf Schritt und Tritt folgte, kehrten das Unterste zu oberst. Da wurde eine leere Zigarrenkiste zersägt, durchbohrt und der saubere Fußboden und Teppich mit Holzabfällen bestreut. Da wurde gehämmert, daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Die große Leiter schleppte Herbert herein und turnte darauf herum, von Großmamas ängstlichen Augen verfolgt. Die elektrische Krone, an der er den Draht anschließen wollte, schaukelte wie ein Schiff bei Sturm auf und nieder. Der Großmama tat es schon zehnmal leid, daß sie dem Jungen den Vorschlag gemacht hatte, nur um ihn davon abzubringen, gegen das Verbot des Vaters zu handeln.

Tinchen Schillers Kleid, an dem Suse so fleißig genäht hatte, lag vernachlässigt im Winkel. Herbert brauchte seinen Zwilling zum Handlanger, schickte Suse bald hier-, bald dorthin, ließ sich Zange, Hammer, Nägel und sonstiges Handwerkszeug zureichen. Sie folgte willig jeder Anordnung. Denn sie bewunderte ihren Herbert grenzenlos, daß er die schwierige Technik des Rundfunks verstand und sich allein daran wagte. Auch Bubi sah mit ehrfurchtsvoller Bewunderung zu seinem jungen Herrn auf, als wollte er sagen: »Du bist wirklich ein Hauptkerl.«

Als Frau Annchen, die der Minna unten im Souterrain zur Hand gegangen war, das stets peinlich ordentliche Zimmer ihrer alten Dame betrat, blieb sie starr in der Tür stehen. Sie stemmte die Arme in die Seiten, so daß sie mit ihrer Breite die ganze Türöffnung ausfüllte, und rief: »Junge, bist du denn ganz und gar nicht bei Troste, hier solche Unordnung zu machen. Na, wenn ich deine Frau Omama wäre, dich hätte ich schon längst an die Luft gesetzt.« Frau Annchen fand nämlich, daß die Großmama zu nachsichtig zu den Enkelkindern war und sie allzusehr verzog. Dabei machte sie selbst es nicht besser.

»Frau Annchen, wenn ich die Anlage hier erst fertig habe, werden Sie anders sprechen«, sagte Herbert mit dem Gesicht eines gekränkten Künstlers. »Ich mache für Sie auch einen Hörer an, da können Sie nach der neuesten Foxtrottmusik tanzen.«

Er hatte die Lacher wieder mal auf seiner Seite. Denn die Vorstellung, daß die dicke Frau Annchen Foxtrott tanzte, war wirklich komisch.

»So, Herbert, nun denke ich, läßt du dir die Fortsetzung der Arbeit für morgen«, sagte schließlich die Großmama, die jetzt wieder Ruhe und Behagen um sich haben wollte, um ihre Abendzeitung zu lesen.

»Was – jetzt, wo ich gleich fertig bin? Nur noch diesen Draht muß ich anschließen, dann wird man sicher was hören können. Ich leite ihn aus dem Fenster hinaus.« Überlegen und handeln war bei Herbert eins. Schon war er am Fenster, um es aufzureißen.

Suse, die sorglicher und bedachter war als ihr Zwilling, hielt ihn zurück. »Aber, Herbert, die Omama erkältet sich bei dem Nebel«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Omama, ach, gehe doch ein bißchen aus deinem Zimmer raus. Bitte, geh doch rüber ins Wohnzimmer. Nur für zehn Minuten. Dann wirst du dafür auch herrlich hören«, bestürmte der Junge die Großmama.

»Na, nun werde ich noch aus meinem eigenen Zimmer hinausgeworfen«, scherzte die Großmama lachend, tat aber dem Enkel den Gefallen. Das Enkeltöchterchen wollte sie begleiten.

»Suse, bleib' hier. Du mußt helfen. Du sollst oben auf unserm Balkon den Draht, den ich dir hier aus dem Fenster zureiche, in Empfang nehmen«, ordnete der kleine Techniker an.

»Nein, Kinder, das kann ich auf keinen Fall dulden, daß ihr euch bei dem naßkalten Wetter erkältet«, erhob die Großmama Einspruch.

»Dauert doch nur einen Augenblick, Omama. Das Marzipanpüppchen kann sich ja den Mantel überziehen.« Herbert ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen.

Hu, war das unheimlich auf dem nassen Balkon. Suse fröstelte trotz des Mantels.

»Paß auf, Suse, jetzt kommt's«, erklang Herberts Stimme aus dem unteren Fenster, indem er den Draht nach oben reichte.

»Kann man dabei auch keinen elektrischen Schlag kriegen?« erkundigte sich Suse ängstlich.

»Mensch – wie kann man nur so feige sein. Es passiert dir schon nichts«, klang des Bruders Stimme beruhigend herauf.

So, nun war der Draht am Balkon angeschlossen.

Ob man was hören würde?

»Einen Hörer nimmst du, einen ich, Suse.« Die Kinder standen sich, die Hörer an den Ohren, im Großmutterstübchen erwartungsvoll gegenüber.

»Ich höre gar nichts«, sagte Suse schließlich.

»Nee«, bestätigte Herbert enttäuscht. »Aber dann ist sicher jetzt Pause. Nachher müssen wir unbedingt was hören.«

Er bastelte noch hier und bastelte noch da ein bißchen.

Die Pause dauerte recht lange. »Ich muß doch mal sehen, ob oben bei mir was zu hören ist, ob es schon wieder begonnen hat.«

Ja, oben mit dem kleinen Röhrenapparat vernahm man Nachmittagskonzert auf deutscher Welle. Irgend etwas stimmte nicht in seiner Anlage. Wie peinlich, vor der Omama und vor Frau Annchen zugestehen zu müssen, daß es nicht klappte. Sicher war der Detektorapparat hier nicht zu gebrauchen. Er hätte sich die Arbeit sparen können und ohne denselben nur den Draht von seinem Röhrenapparat in das Zimmer der Großmama legen sollen. Aber er konnte ja den Detektorapparat einfach wieder abmontieren und nur den Draht mit dem Verteiler, den er sich aus der Zigarrenkiste fabriziert hatte, zum Anschluß behalten. Ja, das ging. Da brauchte er überhaupt gar nicht zu sagen, daß er das erste Mal Schiffbruch gelitten hatte. Herbert frohlockte bereits wieder.

Das Abmontieren ging rascher als der Anschluß. So – nun schnell den Draht oben an dem Verteiler seines Röhrenapparates angeschlossen. Dem jungen Künstler klopfte das Herz vor Erwartung wie einem Flieger, der zum erstenmal sein neues Flugzeug ausprobiert. Würde er jetzt was hören können?

»Hurra! Man hört was!« Sein Jubelschrei gellte durchs Haus, lockte die Großmama, Frau Annchen und Minna herbei.

»Jungchen, du bist ja ein Tausendsassa!« sagte die Großmama, strahlend vor Freude über den geschickten Enkel.

»Na, viel zu hören ist nicht«, dämpfte Suse, die Hörer am Ohr, Herberts Künstlerstolz. »Das ist beinahe so, als ob meine Piccola mauzt.«

»Das ist sicher nur eine vorübergehende Luftstörung, gleich wird es wieder deutlich werden«, versicherte Herbert.

»Ein kleines bißchen kann ich jetzt hören – aber sehr undeutlich.«

»Ach, laß mal die Omama ran, Suse. Es ist doch die Hauptsache, daß sie was hören kann. Du scheinst Watte in den Ohren zu haben.« Herbert war ärgerlich auf seine Zwillingsschwester, daß sie ihm seinen Ruhm schmälerte.

Die alte Dame nahm in ihrem Sessel Platz und tat die Hörer um.

»Hm – irgend jemand spricht – aber ganz gedämpft, ganz weit fort, wie aus Amerika klingt es.« Die Großmama, die ihrem Enkel so gern den Gefallen getan hätte, in Begeisterung zu geraten, konnte beim besten Willen nichts hören.

»Vielleicht hörst du nicht mehr so gut, Omama, weil du schon alt bist.« Herbert griff selbst zu den Hörern. »Na ja, deutlich ist es ja gerade nicht, aber – – –«

»Laß nur, Jungchen, die Omama hat ja den Lautsprecher drin im Wohnzimmer«, tröstete Frau Annchen, der Herberts enttäuschtes Gesicht leid tat. »Da braucht sie sich nicht erst ihr Gehirn einzuklemmen.«

»Ach, der alte Lautsprecher«, machte Herbert wegwerfend. »Der blökt der Omama in die Ohren und macht ihr Kopfschmerzen. Es muß doch gehen.« Herbert ließ nicht locker. »Vater hat gesagt, ein Draht genügt zum Weiteranschluß von unserm Apparat. Halt – vielleicht ist mein Apparat nicht stark genug zur Weiterleitung. Ich will doch mal – – –«. Was er wollte, verschwieg Herbert wohlweislich und eilte hinüber ins Wohnzimmer.

Dort stellte er den Lautsprecher ein. Herrlich klang es – zwar etwas langweilig für Jungen, denn der Vortragende sprach über Nahrungsmittelzusammensetzung, aber man verstand so deutlich, als ob der Sprecher neben einem stände. Wenn man den Draht hier an den großen Dreiröhrenapparat anschloß, mußte man auch bei der Großmama drin gut hören können – unbedingt.

Und das Verbot des Vaters? Der Vater sah es nicht einmal gern, daß Herbert allein den Lautsprecher einstellte. Er kannte seinen fürwitzigen Herrn Sohn. Basteln am großen Apparat war streng verboten. Aber er wollte ja gar nicht weiter daran basteln, nur den Verbindungsdraht an den Verteiler anschließen. Dabei konnte er beim besten Willen nichts entzweimachen. Das würde der Vater selbst ihm sicher erlauben. So beschwichtigte Herbert die unbequeme Stimme in seinem Innern, die abriet.

Und als ob diese geheime, von keinem gern vernommene Stimme plötzlich Gestalt angenommen hätte, erklang hinter dem bereits nach dem Verteiler greifenden Jungen die Stimme seines zweiten Ichs.

»Du, Herbert, laß die Finger davon. Vater hat es uns streng verboten, daran herumzuschrauben«, warnte Suse erschreckt.

»Tu ich auch gar nicht, bloß den Draht will ich einklemmen«, verteidigte sich Herbert. »Du sollst mal sehen, es wird großartig, Suse.«

»Herbert, warte lieber bis der Herr Browesser nach Hause gommt«, riet auch die den Abendbrottisch deckende Minna.

»Das verstehen Sie nicht, Minna.« Jetzt wurde der Junge sogar noch patzig zu dem netten Mädchen, die es gut meinte. Daran war nur seine deutliche Empfindung schuld, Unrecht zu tun. Nein – er wollte nicht warten bis der Vater kam, dann hatte er es nicht mehr allein gemacht. Er wollte doch der Omama so gern ganz ohne Hilfe des Vaters die Rundfunkanlage machen. Verbindungsdraht war noch genügend vorhanden. Eine Kleinigkeit, den Draht am Verteiler einzuschrauben – so, schon erledigt. Wozu mußte die Suse auch so ängstliche Augen machen? Mädels waren doch zu feige. Na, hatte er etwa was kaputt gemacht? Der Lautsprecher »blökte« nach wie vor. Aber jetzt stellte ihn Herbert ab, um die ganze Kraft für seinen Verbindungsdraht zu benutzen. Diesmal würde er nicht wieder Schiffbruch erleiden, davon war er durchdrungen.

»Jetzt ist Feierabend, Herr Monteur«, bedeutete ihm die Großmama, als der Junge nun in ihrem Zimmer den Draht an der Scheuerleiste des Fußbodens entlang anzunageln begann. Denn ohne zu hämmern ging es bei Herbert niemals ab.

»Nur noch einen Nagel, Omama, sonst kannst du am Ende über den Draht fallen«, meinte Herbert vorsorglich und hämmerte weiter. Aber als er sah, daß seine kleine Omama sich die Ohren zuhielt, ließ er schließlich von dem Getöse ab.

Wieder waren die Hörer mit dem Draht verbunden. Wieder sahen sich Professors Zwillinge, die Hörer an den Kopf geklemmt, mit großen, erwartungsvollen Augen gegenüber. Vaters Dreiröhrenapparat war eingeschaltet und – »großartig!« schrie Herbert – »famos!«

»Großartig – famos!« echote Suse hinterdrein, während die in ihre Zeitung vertiefte alte Dame erschreckt hochfuhr.

»Omamachen, jetzt habe ich mein Meisterstück gemacht«, rief Herbert begeistert. »Man hört glänzend. Komm, du mußt es probieren.« Die Jungenhände konnten es gar nicht erwarten, bis sie die Hörerriemen über Großmamas weißes Haar gestreift hatten.

»Na?« fragte er mit der Miene eines großen Erfinders.

»Wirklich – ganz vorzüglich,« bestätigte ihm die Großmama nur allzu gern. »Da hast du in der Tat dein Meisterstück vollbracht, Jungchen. Nein, was du alles verstehst. Du mußt Elektrotechniker werden. Nun werde ich meine Augen an den dunklen Dezembertagen schonen können, ohne gezwungen zu sein, mein Zimmer zu verlassen.«

Herbert hatte bereits wieder die Hörer beim Wickel und begeisterte sich an seinem Werk. »Ich werde es mir noch überlegen, Omama, ob ich Professor der Zoologie wie mein Großpapa in Freiburg oder Techniker werde. Dann baue ich mir aber ein Flugzeug und werde Flieger.«

»Studiere lieber Zoologie, Jungchen. Das Fliegen ist eine recht gefährliche Sache.« Davon wollte die Großmama nichts wissen.

»Omama, heute abend ist Übertragung aus Berlin, da mußt du die neue Radioanlage von mir benutzen und – – – nanu, was ist denn das? Man hört ja plötzlich nichts mehr! Eben war es noch ganz deutlich. Der Vortrag war doch noch gar nicht zu Ende – – –.« Aufgeregt riß Herbert die Hörer herunter. »Ob der Draht sich irgendwo eingeklemmt hat?«

»Vielleicht Kurzschluß wie neulich beim elektrischen Licht«, überlegte Suse.

»Quatsch mit Soße, du hast doch keine Ahnung davon.« In seiner Aufregung fuhr Herbert gegen seinen unschuldigen Zwilling los. »Vor allem muß ich mal sehen, ob –«, und raus war er.

Ja, vor allem mußte er mal sehen, ob man drüben im Wohnzimmer am großen Apparat Empfang hatte. In begreiflicher Erregung riß er die Hörer an die Ohren. Nichts – gar nichts. Konnte nicht doch Pause sein? Ach, er klammerte sich an diese Hoffnung wie der Ertrinkende an den Strohhalm. Aber die Lampe war ja erloschen – sicher wieder durchgebrannt – jede Hoffnung erlosch mit ihr. Es wurde dem Jungen ganz schwarz vor den Augen. Was hatte er da angerichtet? Hätte er doch auf Suse und Minna gehört und die Hände von dem Apparat gelassen!

»Ist er – entzwei?« hörte er hinter sich Suses Stimme zaghaft fragen.

»Ja – die Radiolampe brennt nicht«, kam es tonlos von Herberts Lippen. Und da rannen auch schon ungeachtet allen Schluckens zwei große Tränen aus den Augen des Quartaners.

Als Suse ihren kecken Zwilling so fassungslos sah, verlor auch sie die Fassung. Kopf an Kopf gelehnt, so standen sie beide, und ihre Tränen mischten sich. Tausendmal lieber wäre es der Suse gewesen, wenn Herbert sie wieder so angefahren hätte wie vorhin.

Da schmiegte sich in Herberts herabhängende Hand zärtlich ein kaltes Schnäuzchen. Bubi versuchte schwanzwedelnd, seinen gänzlich veränderten jungen Herrn aufzumuntern. Himmel, er hatte doch auch schon so manches ausgefressen, aber den Kopf hatte es ja nicht gleich gekostet.

»Die Omama muß es Vater sagen. Ihr zuliebe bist du nur an den Apparat herangegangen, Herbert. Omama wird für dich eintreten.« Wenn es galt, Herbert zu helfen, hatte auch Suse gute Einfälle.

Aber ehe sie noch die Großmama von dem schlimmen Ereignis in Kenntnis setzen konnten, schloß es an der Haustür. Die Eltern kamen zurück.

Was nun? Am liebsten wäre Herbert in ein Mauseloch geschlüpft. Aber da das nicht gut möglich war, tat es die Chaiselongue am Ende auch. Ob er hinunterkriechen sollte? Aber mal mußte er doch wieder zum Vorschein kommen. Er entrann dem väterlichen Strafgericht nicht.

Am Ende merkte es der Vater heute gar nicht mehr. Vielleicht beobachtete er heute abend durch das Fernrohr die Sterne. Wenn nur nicht der starke Nebel gewesen wäre.

Bubi lief Professors heute als einziger entgegen. Ihre Zwillinge blieben unsichtbar, bis die Eltern das Wohnzimmer betraten.

Nein, Herbert versteckte sich nicht, er dachte nicht mehr daran, es dem Vater zu verheimlichen. Ehrlich wollte er sein und nicht feige.

»Vater –,« rasch, ehe es ihm wieder leid tat, trat er ihm entgegen, »Vater, es ist – was passiert.«

»Was denn, Junge?« fragten Vater und Mutter erschreckt.

»Was Furchtbares.«

»Ist alles gesund?« Die Mutter stieß es angstvoll hervor.

»Ja – das heißt – bis – bis auf den Rundfunk – Vater, der Apparat geht plötzlich nicht mehr.« Ganz blaß war der Junge.

»Nach dem Abendbrot gehen wir mal in deine Stube hinauf und schauen nach. Vielleicht kann ich es wieder in Ordnung bringen«, tröstete der Vater in der Annahme, daß Herberts eigener Apparat nicht funktioniere.

»Nein, Vater, es ist ja – verstehst du denn nicht? Es ist doch dein Apparat hier – der große Dreiröhrenapparat – die Lampe brennt nicht mehr.«

»Hast du an dem Apparat herumgebastelt?« Das klang sehr ernst.

Herberts keckes Jungengesicht verwandelte sich in eine Armesündermiene. Aber noch ehe er antworten konnte, rief Suse bereits: »Er hat es doch bloß der Omama zuliebe getan. Damit die kleine Omama in ihrem Sessel drüben Radio hören kann und sich an den dunkeln Regentagen nicht die Augen beim Arbeiten oder Lesen zu verderben braucht. Vatichen, liebes Vatichen, sei nicht böse auf Herbert – er hat es doch gut gemeint.« Erregt streichelte Suse des Vaters Wangen.

»So achtest du Vaters Verbot?« sagte die Mutter traurig. Dieser Ton ging Herbert mehr zu Herzen, als wenn er Schelte bekommen hätte.

»Vater, ich habe nur den Draht an den Verteiler angeschlossen – da, sieh selbst. Herumgebastelt habe ich gar nicht. Zuerst hat man auch wunderschön bei der Omama drin gehört – mit einemmal war's aus.«

»Du hast gegen mein Verbot gehandelt. Alles andere kommt nicht in Betracht. Geh nach oben, du hast drei Tage Zimmerarrest. Auch die Mahlzeiten nimmst du in deiner Stube ein.« Es kam selten vor, daß der Vater strafte. Um so mehr fühlte sich Herbert in seinem Ehrgefühl verwundet.

»Vati, liebes Vatichen, laß mich auch oben bei Herbert essen«, bat Suse als getreuer Zwilling.

»Nein, du bleibst unten. Ich will doch wenigstens ein Kind bei Tisch haben.«

Auch Großmamas Fürsprache half diesmal nichts. Der Vater blieb bei seinem Wort. Der fürwitzige Mosjö mußte einen Denkzettel erhalten. Sonst bastelte er noch nächstens an den astronomischen Instrumenten herum.

So verzehrte der kleine Techniker einsam in seinem Zimmer sein Abendbrot. Nur Bubi leistete ihm Gesellschaft. Aber soviel Mühe sich der treue Köter auch gab, seinen jungen Herrn aufzuheitern, es wollte ihm heute nicht gelingen. Nicht mal Radio mochte Herbert hören. Der Rundfunk war ja bloß schuld daran, daß er ungehorsam gewesen war. Und er hatte doch nur Gutes gewollt. Grenzenloses Mitleid hatte Herbert mit sich. Gab es wohl noch einen bedauernswerteren Jungen als ihn?


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