Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Die Stimme der Liebe.

Schneewolken flogen längs des Shdanow-Kais, über die Bürgersteige weiße Decken schleifend, wahnsinnige Flocken wirbelten um die schwankenden Laternen und verschütteten Fenster und Hauseinfahrten; im finstern Parke hinter dem Flusse tobte der Schneesturm.

Lossj ging über den Kai mit aufgestülptem Kragen, dem Winde entgegengekrümmt. Der dunkle Schal flatterte in seinem Rücken, die Füße glitten aus, der Schnee peitschte ihn ins Gesicht. Er kehrte zur gewohnten Stunde aus der Fabrik heim, in seine einsame Wohnung. Die Bewohner des Shdanow-Kais kannten schon seinen weitkrempigen, tief in die Augen gedrückten Hut, seinen die untere Hälfte des Gesichts verdeckenden Schal und seine müden Schultern, und selbst wenn er jemand grüßte und der Wind seine dünner gewordenen, weißen Haare hob, staunte niemand mehr über den seltsamen Blick seiner Augen, die einst etwas gesehen hatten, was ein Erdgeborener nicht sehen darf.

Zu einer andern Zeit hätte wohl der Anblick seiner gebückten Gestalt mit dem wehenden Schal inmitten der Schneewolken irgendeinen jungen Dichter inspiriert. Nun waren aber andere Zeiten: die Dichter begeisterten sich weder für Schneestürme, noch für Sterne, noch für himmlische Gefilde, sondern für das durch das ganze Land tönende Klopfen von Hämmern, das Knarren der Sägen, das Rauschen der Sicheln, das Pfeifen der Sensen – für lustige, irdische Lieder. In diesem Jahre hatte man im ganzen Lande mit dem Bau der noch nie dagewesenen, sogenannten »blauen Städte« begonnen.

Seit der Rückkehr Lossjs auf die Erde war ein halbes Jahr vergangen. Die rasende Neugierde, die die ganze Welt ergriffen hatte, als das erste Telegramm von der Ankunft zweier Menschen vom Mars erschien, hatte sich gelegt. Lossj und Gussjew hatten die entsprechende Anzahl von Gängen bei den hundertundfünfzig Banketten, Soupers und gelehrten Versammlungen verzehrt. Gussjew verkaufte die Steinchen und goldenen Sächelchen, die er vom Mars mitgebracht hatte, putzte seine Frau Mascha wie eine Puppe, gewährte mehrere Interviews, schaffte sich einen Hund, einen riesengroßen Kleiderkoffer, ein Motorrad und eine runde Brille an, verspielte große Summen bei Rennen, bereiste eine Zeitlang mit einem Impresario Europa und Amerika, hielt Vorträge über seine Schlägereien mit den Marsianern, über Spinnen und Kometen und wie er mit Lossj um ein Haar ins Sternbild des Großen Wagens geraten wäre – log das Blaue vom Himmel herunter, kehrte, als ihm dies alles auf die Dauer zu dumm wurde, nach Rußland zurück und gründete eine »Gesellschaft m. b. H. zur Versetzung von Truppenteilen auf den Mars zwecks Rettung der Überreste der dortigen Arbeiterbevölkerung«, oder abgekürzt »GMR«.

Lossj arbeitete in einer Maschinenfabrik zu Petersburg an der Konstruktion eines Universalmotors nach marsianischem Prinzip. Man erwartete, daß sein Motor alle Grundlagen der Mechanik erschüttern und alle Unvollkommenheiten der Weltwirtschaft beseitigen würde. Lossj arbeitete, ohne seine Kräfte zu schonen, obwohl es ihm wenig glaublich erschien, daß irgendeine Kombination von Maschinen imstande sei, die Tragödie des allgemeinen Glückes zu lösen.

Gegen sechs Uhr abends ging er gewöhnlich heim. Ganz allein verzehrte er seine Abendmahlzeit. Vor dem Einschlafen schlug er irgendein Buch auf – die Zeilen eines Dichters erschienen ihm als kindliches Lallen, die Erfindungen eines Romanschriftstellers – als kindliches Geschwätz. Nachdem er das Licht ausgedreht, lag er lange wach da und blickte in die Finsternis – einsame Gedanken zogen ihm unaufhaltsam durch den Sinn.

So ging Lossj auch diesmal zur gewohnten Stunde über den Kai. Die Schneewolken schossen in die Höhe. Von den Gesimsen und Dächern rauchte es. Die Laternen zitterten. Der Atem stockte.

Lossj blieb stehen und hob den Kopf. Der eisige Wind zerriß die Schneewolken. Im abgrundtiefen schwarzen Himmel schillerte ein Stern. Lossj sah ihn mit wahnsinnigen Blicken an, ein diamantener Strahl drang ihm ins Herz ... »Tuma, Tuma, Stern der Trauer ...« Die fliegenden Wolken verdeckten wieder den Abgrund und verhüllten den Stern. In diesem kurzen Augenblick erstand im Gedächtnisse Lossjs mit erschreckender Deutlichkeit ein Gesicht, das ihm bis dahin immer entglitten war

Im Schlafe hörte er ein Geräusch wie das Summen eines aufgescheuchten Bienenschwarmes. Dann tönte ein scharfes Klopfen. Der schlafende Körper Aëlitas fuhr zusammen, sie seufzte auf, erwachte und begann zu zittern. Im Dunkel der Grotte konnte er sie nicht sehen, er fühlte nur, wie rasend ihr Herz pochte. Das Klopfen an der Tür wiederholte sich. Draußen erklang die Stimme Tuskubs: »Verhaftet sie.« Lossj umfaßte Aëlitas Schultern. Sie sagte kaum hörbar:

»Mein Gatte, Sohn des Himmels, leb' wohl.«

Ihre Finger fuhren schnell über seine Kleider. Lossj fand tastend ihre Hand und nahm ihr das Fläschchen mit dem Gift weg. Sie hauchte ihm hastig ins Ohr:

»Auf mir liegt ein Bann, ich bin der Königin Magr geweiht ... Nach altem Brauch, nach dem schrecklichen Gesetz der Königin Magr wird die Jungfrau, die den Bann übertreten, in einen Schacht im Labyrinth geworfen ... Du hast ihn gesehen ... Aber ich konnte nicht der Liebe widerstehen, Sohn des Himmels. Ich bin glücklich. Ich danke dir für das Leben. Du hast meine Vernunft verbrannt. Du hast mich in die Jahrtausende des Chao, in das Naß des Lebens zurückgebracht. Ich danke dir für den Tod, mein Gatte...«

Aëlita küßte ihn, und er fühlte den bitteren Geruch des Giftes auf ihren Lippen. Nun trank er den Rest der dunklen Flüssigkeit; das Fläschchen enthielt noch viel, Aëlita hatte kaum Zeit gehabt, an ihm zu nippen. Das Klopfen an der Tür zwang Lossj aufzustehen, aber sein Bewußtsein entschwebte, seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er kehrte zum Lager zurück, umfaßte Aëlita und fiel auf ihren Körper nieder.

Als sie in die Grotte die Marsianer traten, rührte er sich nicht. Sie rissen ihn von seiner Gattin los, hüllten sie ein und trugen sie hinaus. Mit der letzten Anstrengung suchte er noch den Saum ihres schwarzen Mantels zu erhaschen, aber die Schüsse und die stumpfen Schläge warfen ihn zur goldenen Tür der Grotte zurück ...


Lossj lief, gegen den Wind kämpfend, über den Kai. Dann blieb er wieder in den Schneewolken stehen und rief wie damals, in der himmlischen Finsternis, wie rasend:

»Sie lebt, sie lebt ... Es ist undenkbar ... Es kann nicht sein ... Aëlita, Aëlita ...«

Der Wind fing diesen zum erstenmal auf der Erde ausgesprochenen Namen auf und wehte ihn in die fliegenden Schneewolken. Lossj vergrub das Kinn im Schal, steckte die Hände tief in die Taschen und schlug den Weg nach Hause ein.

Vor der Einfahrt hielt ein Auto. Weiße Fliegen wirbelten im Lichte der Scheinwerfer. Ein Mann im zottigen Mantel tänzelte vor Kälte mit hartgefrorenen Absätzen auf dem Trottoir.

»Ich komme Sie abholen, Mstislaw Ssergejewitsch«, rief er lustig. »Steigen Sie bitte in den Wagen.«

Es war Gussjew. Er erklärte ihm in aller Eile, um was es sich handelte: heute um sieben Uhr abends erwartete die Funkstation auf dem Marsfelde – wie an allen Abenden dieser Woche – das Eintreffen unbekannter Signale von außergewöhnlicher Stärke. Die Chiffre war unbekannt. Schon seit einer Woche beschäftigten sich die Zeitungen aller Weltteile mit Vermutungen über diese Signale; unter anderem wurde angenommen, daß sie vom Mars kämen. Der Direktor der Funkstation auf dem Marsfelde lud nun Lossj ein, an diesem Abend die geheimnisvollen Wellen aufzunehmen.

Lossj sprang schnell ins Auto. Wie toll tanzten die weißen Flocken in den Lichtkegeln. Der Schneesturm peitschte das Gesicht. Sie passierten die Brücke, die Wassilijinsel, flogen über die Nikolaibrücke über die schneeverwehte Wüste der Newa – von hier aus sah man den lila Lichtschein über der Stadt, die Laternenreihen auf dem düsteren Kai und rechts die Lichter der Fabriken. In der Ferne heulte wie besessen die Sirene eines Eisbrechers. Sie durchquerten den belebten Newskij-Prospekt mit den Tausenden erleuchteter Schaufenster, den zahllosen Flammenbuchstaben, Reklamepfeilen und rotierenden Rädern über den Dächern. Lossj hatte die Fäuste in den Ärmeln seines Pelzmantels geballt, hielt den Kopf gesenkt und klapperte mit den Zähnen.

Das Auto hielt unter den pfeifenden Bäumen des Marsfeldes vor einem kleinen Hause mit rundem Dach. Eintönig summten die gegitterten Türme und die in den Schneewolken versunkenen Drahtnetze. Lossj öffnete die schneeverwehte Tür, trat ins warme Häuschen und legte Hut und Schal ab. Ein dicker Herr mit roten Wangen begann ihm etwas zu erklären, wobei er die eiskalte Hand Lossjs in seinen weichen Händen behielt. Lossj merkte sich nur den Duft einer Zigarre und eine große Warze neben der Nase des Direktors der Funkstation. Die Uhr ging auf Sieben.

Lossj setzte sich vor den Empfangsapparat und stülpte sich die Abhörvorrichtung über die Ohren. Die Uhrzeiger rückten langsam vor. O Zeit – geheimnisvolle Fristen, Herzschläge, eisige Weltenräume, durch die diese aufgerollten Zeiten fliegen!

Da ertönte in seinen Ohren ein leises Flüstern. Lossj schloß sofort die Augen. Das ferne, erregte, langsame Flüstern wiederholte sich. Ein seltsames Wort schlug wieder an sein Ohr. Lossj spannte sein Gehör. Wie von einem lautlosen Blitz wurde sein rasendes Herz von der fernen Stimme durchbohrt, die traurig in einer unirdischen Sprache wiederholte:

»Wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?« Die Stimme verstummte. Lossj starrte mit weit geöffneten, erblaßten Augen vor sich hin ... Die Stimme Aëlitas, der Liebe, der Ewigkeit, die Stimme der Sehnsucht tönt durch das ganze Weltall und ruft, und ruft, und ruft: Wo bist du, wo bist du, Liebe ...

Ende.


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