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Eine unfaßbare Unruhe hatte sich wie eine Fieberwolke auf die Stadt gelegt. Die Spiegeltelephone blinkten und raunten. Auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Parkanlagen sammelten sich Gruppen tuschelnder Marsianer. Man erwartete Ereignisse und blickte auf den Himmel. Man erzählte sich, daß irgendwo Lager getrockneter Kakteen in Brand stünden. Um die Mittagsstunde öffnete man in der Stadt alle Wasserleitungshähne, und das Wasser versiegte, aber nicht für lange ... Viele hörten fern im Südwesten eine Explosion. In allen Häusern verklebte man die Fensterscheiben kreuzweise mit Papierstreifen.
Die Unruhe verbreitete sich aus dem im Zentrum gelegenen Hause der Ingenieure über die ganze Stadt. Man sprach, daß Tuskubs Gewalt erschüttert sei, daß Veränderungen bevorstünden. Durch die dunkle Unruhe zuckten wie Funken Gerüchte:
»Nachts wird das Licht erlöschen.«
»Die Polarstationen werden stillgelegt werden.«
»Das Magnetfeld wird verschwinden.«
»Macht euch einen Wasservorrat.«
»Im Keller des Hauses der Räte hat man irgendwelche Individuen verhaftet.«
In den Vorstädten, auf den Fabriken, in den Arbeitersiedlungen, in den öffentlichen Warenlagern wurden diese Gerüchte anders aufgenommen. Offenbar wußte man hier mehr von den Gründen ihres Aufkommens. Man erzählte sich mit unruhiger Schadenfreude, daß der große Zirkus Nr. 11 von den unterirdischen Arbeitern in die Luft gesprengt worden sei, daß die Agenten der Regierung überall nach Waffenlagern suchen, daß Tuskub die Truppen nach Soazera zusammenziehe.
Um die Mittagsstunde wurde in fast allen Fabriken die Arbeit niedergelegt. Überall sammelten sich große Volksgruppen, die auf irgendwelche Ereignisse warteten und unruhig die vielen jungen Marsianer musterten, die plötzlich von irgendwoher aufgetaucht waren und mit vielsagenden Blicken, die Hände in den Taschen, herumstanden.
Etwas später flogen über die Stadt Regierungsflugzeuge, und vom Himmel regnete es weiße Zettel. Die Regierung warnte die Bevölkerung vor den böswillig verbreiteten Gerüchten: sie seien von den Feinden des Volkes, den Anarchisten, ausgestreut. Die Regierung sei noch nie so mächtig und entschlossen gewesen wie jetzt.
Die Stadt beruhigte sich ein wenig, aber nicht für lange; wieder kamen Gerüchte auf, eines schrecklicher als das andere. Nur eines wußte man sicher: daß am Abend dieses Tages im Hause des Rates der Ingenieure die entscheidende Schlacht zwischen Tuskub und dem Führer der Arbeiterbevölkerung von Soazera, dem Ingenieur Gor, bevorstehe.
Gegen Abend war der riesengroße Platz vor dem Hause des Rates vom Volke überfüllt. Soldaten bewachten die Treppe, die Eingänge und das Dach. Ein kalter Wind trieb Nebelfetzen herbei, in dem die Straßenlaternen mit rötlichem Scheine zitterten. Die düsteren Mauern des Hauses ragten als, verschwommene Pyramide in den Nebel. Alle Fenster des Hauses waren erleuchtet.
Im runden überwölbten Saale saßen auf den amphitheatralisch angeordneten Bänken die Mitglieder des Rates. Alle Gesichter waren gespannt. Hoch oben an der Wand zogen im Spiegel in schneller Folge Bilder der Stadt vorbei: Fabriksäle, Straßenkreuzungen mit dem schnell durch den Nebel laufenden Gestalten, Umrisse der Wasserzirkusse und der elektromagnetischen Türme, die von Soldaten bewachten Lager. Der Projektionsapparat stand in dauernder Verbindung mit sämtlichen Kontrollspiegeln in der Stadt. Da erschien auf dem Schirm der Platz vor dem Hause des Rates – ein Ozean von Köpfen, über den im Lichtscheine der Laternen Nebelfetzen zogen. Der Saal füllte sich mit dem unheildrohenden Murren der Menge.
Ein leiser Pfiff lenkte die Aufmerksamkeit der Versammlung von diesen Bildern ab. Der Projektionsschirm erlosch. Auf dem mit Brokat drapierten Podium erschien Tuskub. Er war blaß, ruhig und düster.
»In der Stadt herrscht Unruhe,« sagte Tuskub, »die Stadt ist erregt durch das Gerücht, daß man hier heute abend MIR widersprechen will. Dieses bloße Gerücht genügte, um das Gleichgewicht des Staates zu stören. Eine solche Sachlage halte ich für krankhaft und unheildrohend. Man muß die Ursache dieser Erregbarkeit ein für allemal vernichten. Ich weiß, daß es unter uns Personen gibt, die meine Worte noch in dieser Nacht in der ganzen Stadt verbreiten werden. Ich sage es offen: die Stadt ist von Anarchie ergriffen. Nach den Berichten meiner Agenten in der Stadt und im Lande fehlt es uns an Muskeln, um Widerstand zu leisten. Wir stehen am Vorabend des Weltuntergangs.«
Durch das Amphitheater lief ein Murmeln. Tuskub lächelte verächtlich.
»Die Gewalt, die die Weltordnung zerstört – die Anarchie – kommt aus der Stadt. Ein Laboratorium zur Erzeugung von Säufern, Dieben, Mördern, grausamen Lüstlingen, verwüsteten Seelen – das ist die Stadt. Die Ruhe des Herzens, der natürliche Wille zum Leben, die Macht der Gefühle werden hier für zweifelhafte Vergnügungen und krankhafte Freuden verschwendet. Der Rauch des Chawri – das ist die Seele der Stadt: Rauch und Rausch. Buntheit der Straßen, Lärm, Prunk der goldenen Luftboote und Neid derjenigen, die von unten zu diesen Booten hinaufschauen. Frauen, die Rücken und Leib entblößen, Frauen, die aus Spitzen, Parfüm und Schminke bestehen – halb lebende Wesen, an denen sich die Wüstlinge berauschen. Plakate und Lichtreklamen, welche unerfüllbare Hoffnungen wecken. Die Ruhe der Seele verbrennt zu Asche. Die Persönlichkeit wird zu einem Knäuel entzündeter Nerven. Sie kennt nur eine Empfindung – den Durst. Sie durstet danach, die Asche der Seele mit Naß zu tränken. Dieses Naß ist aber immer Blut. Langweile, Langweile – ihr seht staubige Korridore mit staubigem Licht, in denen verbrannte Seelen, vor Langweile gähnend, wandeln. Nur Blut kann die Langweile stillen.
»Die Stadt will die anarchische Persönlichkeit erzeugen. Ihr Wille, ihr Durst, ihr Pathos ist die Zerstörung. Man meint, die Anarchie sei Freiheit; nein, Anarchie lechzt nur nach Anarchie. Die Pflicht des Staates ist, gegen diese Zerstörer zu kämpfen – so will es das Gesetz des Lebens. Der Anarchie müssen wir den Willen zur Ordnung entgegensetzen. Wir müssen im Lande gesunde Kräfte wecken und sie mit geringsten Verlusten in den Kampf gegen die Anarchie werfen. Wir erklären einen schonungslosen Krieg. Alle Schutzmaßregeln sind nur ein provisorisches Mittel: denn es muß die Stunde kommen, wo die Polizei ihren verwundbaren Punkt aufdeckt. Während wir die Zahl der Polizeiagenten verdoppeln, vermehren sich die Anarchisten auf das Vierfache. Wir müssen als erste die Offensive ergreifen. Wir müssen die Stadt zerstören und vernichten.«
Die Hälfte der Anwesenden sprang von den Bänken auf. Die Gesichter der Marsianer waren blaß, ihre Augen brannten.
»Die Stadt wird unvermeidlich, so oder anders zerstört werden«, fuhr Tuskub fort. »Und wir müssen diese Zerstörung selbst organisieren. Später werde ich den Plan einer Ansiedlung des gesunden Teiles der Stadtbewohner auf dem Lande darlegen. Dazu müssen wir das reiche Land jenseits des Gebirges Lisiasira ausnützen, das von der Bevölkerung nach dem Bürgerkriege verlassen worden ist. Es steht eine Riesenarbeit bevor. Aber das Ziel ist groß. Natürlich werden wir durch die Zerstörung der Stadt die Zivilisation nicht retten, nicht einmal ihren Untergang hinausschieben, aber wir werden der Welt die Möglichkeit geben, ruhig und feierlich zu sterben.«
»Was sagt er da!« riefen heisere erschrockene Stimmen auf den Bänken.
»Warum müssen wir sterben?«
»Er ist von Sinnen!«
»Nieder mit Tuskub!«
Tuskub brachte durch eine einzige Bewegung der Brauen das Amphitheater zum Schweigen:
»Die Geschichte des Mars ist zu Ende. Das Leben stirbt auf unserm Planeten aus. Ihr kennt die Statistik der Geburten und Todesfälle. Es wird nur noch ein Jahrhundert dauern, bis der letzte Marsianer mit starren Blicken den letzten Sonnenuntergang begleiten wird. Wir sind machtlos, den Tod aufzuhalten. Wir müssen mittels strenger und weiser Maßregeln die letzten Tage der Welt mit Prunk und Glück umgeben. Das erste aber ist: wir müssen die Stadt zerstören. Die Zivilisation hat sich aus ihr alles geholt; jetzt zersetzt sie die Zivilisation, sie muß untergehen.«
In der Mitte des Amphitheaters erhob sich Gor – der junge Marsianer mit breitem Gesicht, den Gussjew im Spiegel gesehen hatte. Seine Stimme klang wie heiseres Hundebellen. Er streckte die Hand gegen Tuskub aus.
»Er lügt! Er will die Stadt zerstören, um seine Macht zu erhalten. Er verurteilt uns zum Tode, um sich die Macht zu erhalten. Er weiß, daß er nur durch die Vernichtung von Millionen die Macht erhalten kann. Er weiß, wie ihn diejenigen hassen, die nicht in goldenen Luftbooten fliegen, die unter der Erde geboren werden und sterben, deren Seele von den Fabrikwänden ausgesogen ist, die an Feiertagen in den staubigen Korridoren, vor Langweile gähnend, herumirren, die in ihrer Wut Vergessen im Rauche des verfluchten Chawri suchen. Tuskub hat uns ein Sterbelager bereitet – soll er sich darauf selbst hinlegen. Wir wollen nicht sterben. Wir sind geboren, um zu leben. Wir kennen wohl die Todesgefahr: die Entartung des Mars. Aber wir haben eine Rettung. Uns wird die Erde retten – die Menschen von der Erde, die Halbwilden, eine junge, gesunde Rasse. Diese sind es, die er über alles fürchtet. Tuskub, du hältst in deinem Hause zwei Menschen versteckt, die von der Erde geflogen kamen, um uns zu retten. Du fürchtest diese zwei Menschen. Du bist nur unter Schwachen, Halbwahnsinnigen, vom Chawrirauch Berauschten stark. Wenn die Starken mit heißem Blute kommen, wirst du zu einem Schatten, zu einem Nachtalp werden, wirst wie ein Gespenst verschwinden. Das fürchtest du über alles in der Welt: dich selbst. Du hast absichtlich die Anarchisten erfunden, hast soeben diese alle Geister erschütternde Zerstörung der Stadt erdacht. Du brauchst selbst Blut zum Trinken, denn du bist ein Gespenst. Du willst die Aufmerksamkeit aller ablenken, um unbemerkt diese beiden Kühnen, unsere Retter, zu beseitigen. Ich weiß, daß du schon den Befehl gegeben hast...«
... Gor brach plötzlich ab. Sein Gesicht wurde dunkel vor Anspannung: Tuskub blickte ihm durchdringend und schwer in die Augen ...
»... Du zwingst mich nicht... Ich werde nicht schweigen ... Ich weiß, du bist in die alten Teufelskünste eingeweiht ... Ich fürchte deine Augen nicht ...«
... Gor wischte sich dennoch mit breiter Hand den Schweiß von der Stirn. Er seufzte tief auf und taumelte. Unter dem Schweigen des atemlosen Amphitheaters ließ er sich auf die Bank sinken und stützte den Kopf in die Hände. Man hörte seine Zähne knirschen.
Tuskub hob die Brauen und fuhr ruhig fort:
»Auf die Einwanderer von der Erde hoffen? Zu spät. Frisches Blut in unsere Adern gießen? Zu spät. Zu spät und zu grausam. So können wir nur die Agonie unseres Planeten verlängern. So vergrößern wir nur die Qual, weil wir dann unvermeidlich Sklaven der Eroberer werden. Statt den ruhigen und feierlichen Untergang der Zivilisation zu erleben, werden wir uns wieder in neue ermüdende Kreise der Jahrhunderte stürzen. Wozu? Warum sollen wir, eine alte und weise Rasse, für die Eroberer arbeiten? Damit die nach Leben dürstenden Wilden uns aus den Palästen und Gärten vertreiben und zwingen, neue Zirkusse zu bauen und Erz zu graben, damit die Täler des Mars wieder vom Kriegsgeschrei widerhallen? Damit unsere Städte sich wieder mit verwüsteten Seelen und Verrückten füllen?
Nein, wir müssen ruhig auf den Schwellen unserer Häuser sterben. Mögen die roten Strahlen des Talzetl uns von ferne leuchten. Wir wollen die Fremden nicht zu uns lassen. Wir werden neue Stationen an den Polen errichten und den Planeten mit einem undurchdringlichen Panzer umgeben. Wir werden Soazera, dieses Nest der Anarchie und der wahnsinnigen Hoffnungen zerstören, denn hier ist der verbrecherische Plan der Verbindung mit der Erde geboren. Wir werden die Plätze mit der Pflugschar durchziehen. Wir werden nur die lebenswichtigsten Einrichtungen und Unternehmungen übriglassen. In ihnen werden wir die Verbrecher, Alkoholiker, Verrückten, alle, die von Unerfüllbarem träumen, zu arbeiten zwingen. Wir werden sie in Ketten legen. Wir werden ihnen das Leben schenken, nach dem sie so dürsten.
Allen, die mit uns einverstanden sind, die sich unserm Willen fügen, werden wir Landgüter zuweisen und das Leben und jeden Komfort gewährleisten. Die zwanzig Jahrtausende schwerster Arbeit geben uns das Recht, endlich müßig, still und beschaulich zu leben. Das Ende der Zivilisation wird die Krone des Goldenen Zeitalters tragen. Wir werden öffentliche Feste und herrliche Vergnügungen organisieren. Vielleicht wird die von mir angegebene Lebensfrist noch um einige Jahrhunderte länger währen, denn wir werden in Glück und Ruhe leben.«
Das Amphitheater hörte schweigend, wie gebannt zu. Auf dem Gesichte Tuskubs traten rosa Flecken hervor. Er schloß die Augen, als blickte er in die Zukunft.
... Das dumpfe, vielstimmige Brausen der Menge drang von außen in den Saal. Gor erhob sich. Sein Gesicht war verzerrt. Er riß sich die Kappe vom Kopf und warf sie weit von sich weg. Mit vorgestreckten Armen stürzte er die Bänke hinunter auf Tuskub zu. Er packte Tuskub an der Gurgel und warf ihn vom brokatdrapierten Podium hinunter. Dann wandte er sich mit vorgestreckten Armen und gespreizten Fingern dem Amphitheater zu und schrie:
»Es sei! Der Tod? Also der Tod!«
Auf allen Bänken sprang man auf und schrie. Einige Anwesende liefen auf den unten liegenden Tuskub zu.
Gor stürzte zur Tür und stieß mit dem Ellbogen den Wachtposten zurück. Die Schöße seines schwarzen Mantels flatterten am Ausgang zum Platz. In der Ferne erklang seine Stimme. Durch die Menge ging ein Wutgeschrei. Plötzlich klirrte eingeschlagenes Glas.