Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Nichtsein.

»Nun, Mstislaw Ssergejewitsch, leben Sie noch?«

Etwas verbrannte ihm den Mund. Flüssiges Feuer lief durch seinen ganzen Körper, durch die Adern und Knochen. Lossj öffnete die Augen. Ein kleiner staubiger Stern leuchtete ganz tief über ihm. Der Himmel war so sonderbar: gelb und gesteppt wie eine Decke. Etwas klopfte, der kleine staubige Stern zitterte unter gleichmäßigen Schlägen.

»Wie spät ist es?«

»Die Uhr steht, dieser Jammer!« antwortete eine freudige Stimme.

»Fliegen wir schon lange?«

»Ja, schon lange, Mstislaw Ssergejewitsch.«

»Wohin denn?«

»Zum Teufel – ich kann nicht begreifen, wohin wir geraten sind.«

Lossj schloß wieder die Augen und bemühte sich, in die dunkle Leere der Erinnerung einzudringen, aber die Leere wölbte sich um ihn wie eine Schale, und er versank wieder in einen undurchdringlichen Schlaf.

Gussjew deckte ihn warm zu und kehrte zum Guckloch zurück. Der Mars erschien jetzt kleiner als eine Untertasse. Wie Mondflecken traten auf ihm die Gründe ausgetrockneter Meere und die toten Wüsten hervor. Die sandverwehte Scheibe der Tuma wurde immer kleiner, der Apparat entfernte sich von ihr immer weiter in die dichte Finsternis. Ab und zu traf der Strahl eines Sterns das Auge. Aber so gespannt Gussjew auch ausschaute, der rote Stern war nicht zu sehen.

Gussjew gähnte, daß die Kinnbacken knackten – so groß war die Langweile des leeren Raumes des Weltalls. Er untersuchte die Vorräte an Wasser, Lebensmitteln und Sauerstoff, hüllte sich in eine Decke und legte sich auf den Boden neben Lossj.

So verging eine unbestimmte Zeitspanne. Gussjew erwachte vor Hunger. Lossj lag mit offenen Augen – sein Gesicht war voller Runzeln und gealtert, die Wangen waren eingefallen. Er fragte leise:

»Wo sind wir jetzt?«

»Immer noch an der gleichen Stelle, Mstislaw Ssergejewitsch – vorne und ringsum ist alles leer.«

»Alexej Iwanowitsch, waren wir auf dem Mars?«

»Sie haben wohl Ihr ganzes Gedächtnis verloren, Mstislaw Ssergejewitsch.«

»Ja, in meinen Erinnerungen gähnt ein Loch. Ich suche mich auf alles zu besinnen, aber die Erinnerungen brechen so unbestimmt ab. Ich kann unmöglich begreifen, was in der Tat gewesen ist und was ich nur geträumt habe... Es waren so seltsame Träume, Alexej Iwanowitsch... Geben Sie mir zu trinken...«

Lossj schloß die Augen. Nach einer langen Weile fragte er mit bebender Stimme:

»War sie auch ein Traum?«

»Wer?«

Lossj antwortete nicht: er war wohl wieder eingeschlafen.

Gussjew blickte wieder durch das Guckloch in den Himmel: nichts als Finsternis. Er zog sich die Decke über die Schultern und setzte sich zusammengekauert hin. Er hatte keine Lust, nachzudenken, keine Lust, sich zu besinnen, keine Lust, zu warten. Wozu? Einschläfernd klopfte das mit schwindelnder Geschwindigkeit durch die bodenlose Wüste rasende eiserne Ei.

Es verging eine unermeßlich lange, unirdische Zeit. Gussjew saß zusammengekauert in schlafähnlicher Erstarrung. Lossj schlief. Die Kühle der Ewigkeit legte sich als unsichtbarer Staub aufs Herz, aufs Bewußtsein.

Ein schrecklicher Schrei zerriß die Stille. Gussjew sprang auf und glotzte. Es war Lossj, der schrie: er stand zwischen den abgeworfenen Decken, die Mullbinde war ihm ins Gesicht gerutscht.

»Sie lebt!«

Er hob die knochigen Arme, stürzte sich gegen die ledergepolsterte Wand und schlug auf sie mit den Fäusten, kratzte sie mit den Nägeln.

»Sie lebt! Lassen Sie mich heraus ... Ich ersticke ...

Ich kann nicht, ich kann nicht! ...«

Lange schrie er und schlug um sich. Dann sank er entkräftet in die Arme Gussjews. Dann wurde er wieder still und schlummerte ein.

Gussjew kauerte wieder unter der Decke. Alle Wünsche erloschen wie Asche, alle Gefühle erstarrten. Das Ohr gewöhnte sich an den eisernen Pulsschlag des Eies und unterschied die Töne nicht mehr. Lossj murmelte im Schlafe und stöhnte, sein Gesicht erstrahlte zuweilen vor Glück. Gussjew betrachtete den Schlafenden und dachte:

»Gut hast du es im Schlafe, lieber Freund. Brauchst auch nicht zu erwachen, schlaf nur, schlaf ... So lebst du wenigstens im Schlafe. Und wenn du erwachst, wirst du so wie ich unter der Decke hocken und wie eine Krähe auf einem erfrorenen Aste zittern. Ach, diese Nacht, diese Nacht, das letzte Ende ... Jetzt sehe ich, daß der Mensch gar nichts braucht ...«

Er hatte nicht mal Lust, die Augen zu schließen. Er saß da und starrte auf irgendeinen funkelnden Nagel ... Es begann die große Gleichgültigkeit, das Nichtsein rückte immer näher heran.

So zog eine unermeßliche Zeitstrecke vorüber.


Es ertönte ein seltsames Geräusch, ein Klopfen irgendwelcher Körper gegen den eisernen Außenmantel des Eies.

Gussjew öffnete die Augen. Sein Bewußtsein kehrte wieder, er begann zu horchen: der Apparat bewegte sich durch eine Ansammlung von Steinen und Kies. Etwas schlug gegen die Außenwand. Es polterte und rauschte. Dann schlug etwas gegen die andere Wand, so daß der Apparat erzitterte. Gussjew weckte Lossj. Sie krochen zu den Gucklöchern und schrien beide gleichzeitig auf.

Ringsum lagen in der Finsternis Felder wie Diamanten funkelnder Splitter. Steine, Blöcke, Kristalle sandten stechende Strahlen aus. Hinter der ungeheueren Ausdehnung dieser Diamantfelder hing in der schwarzen Nacht eine zottige Sonne.

»Wir passieren wohl den Kopf eines Kometen«, flüsterte Lossj. »Schalten Sie die Rheostate ein. Wir müssen aus diesen Feldern heraus, sonst wird uns der Komet zur Sonne mitziehen.«

Gussjew kroch zum oberen Guckloch, Lossj stellte sich an die Rheostate. Die Schläge gegen den Eisenmantel des Eies wurden immer häufiger und stärker. Gussjew schrie von oben: »Obacht: ein Steinblock von rechts... Volle Geschwindigkeit ... Ein Berg, ein ganzer Berg kommt geflogen ... Glücklich vorbei ... Volle Geschwindigkeit, Mstislaw Ssergejewitsch! ...«


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