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Das Luftschiff kreiste noch eine Weile über den Felsen der Heiligen Schwelle, zog dann in die Gegend von Azora und ließ sich irgendwo nieder. Icha und Gussjew konnten erst jetzt hinabsteigen. Auf dem zerstampften Plateau erblickten sie Lossj: er lag in einer Blutlache vor dem Eingange zur Grotte, das Gesicht ins Moos gedrückt.
Gussjew hob ihn auf die Arme – Lossj atmete nicht, seine Augen und sein Mund waren geschlossen, auf der Brust und auf dem Kopfe war geronnenes Blut. Von Aëlita war nichts zu sehen. Icha suchte heulend in der Grotte die Sachen ihrer Herrin zusammen. Sie vermißte nur den Mantel mit der Kapuze: man hatte wohl Aëlita tot oder lebendig in den Mantel gehüllt und aufs Luftschiff gebracht. Icha band alles, was von der »aus dem Sternenlichte Geborenen« übriggeblieben war, in ein Bündel. Gussjew nahm Lossj auf die Schulter, und sie gingen zurück über die Brücken, über den in der Finsternis siedenden See, über die über dem nebligen Abgrund hängenden Treppen: den gleichen Weg war einst der Magazitl mit dem an die Spindel gebundenen gestreiften Schurz des Mädchens der Aolen, der Kunde des Friedens und des Lebens, zurückgegangen.
Oben angelangt, brachte Gussjew das Flugboot aus der Grotte heraus, setzte den in ein Laken gehüllten Lossj hinein, zog seinen Gürtel fester zusammen, drückte sich den Helm tiefer in die Stirn und sagte ernst:
»Lebend ergebe ich mich nicht. Aber wenn ich mal die Erde erreiche, so kommen wir wieder.« Er stieg ins Boot und machte es flugbereit. »Ihr aber, Kinder, geht heim, oder wohin ihr wollt. Behaltet mich nicht im schlechten Angedenken.« Er beugte sich über Bord und drückte dem Chauffeur und Icha zum Abschied die Hand. »Ich will dich nicht mitnehmen, Ichoschka, denn ich fliege in den sicheren Tod. Ich danke dir für deine Liebe: wir Söhne des Himmels vergessen so etwas nicht. Leb' wohl.«
Er kniff die Augen vor der Sonne zusammen, nickte zum letztenmal und schwang sich ins Blau. Icha und der Junge im grauen Pelz blickten lange dem enteilenden Sohn des Himmels nach. Sie merkten nicht, wie im Süden, hinter den Mondfelsen, seinen Weg kreuzend, ein geflügelter Punkt aufstieg. Als Gussjew in den Sonnenstrahlen verschwunden war, fiel Icha auf die moosbewachsenen Steine in solcher Verzweiflung nieder, daß der Junge Angst bekam, ob sie nicht auch die traurige Tuma verlassen habe.
»Icha, Icha,« wiederholte er klagend, »cho tua murra' tua murra ...«
Gussjew hatte das Luftschiff, das ihm den Weg durchkreuzte, nicht sofort bemerkt. Er blickte bald auf die Karte, bald auf die unten entschwebenden Felsen von Lisiasira und hielt den Kurs nach Osten, zu den Kaktusfeldern, wo sie ihren Apparat zurückgelassen hatten.
Hinter ihm saß, im Flugboote zurückgelehnt, in ein im Winde klatschendes Laken gehüllt, der Körper Lossjs. Er regte sich nicht und schien zu schlafen – es war an ihm nichts von der häßlichen Sinnlosigkeit einer Leiche. Gussjew fühlte erst jetzt, wie teuer ihm der Genosse war, lieber als ein Bruder.
Das Unglück war so gekommen: Gussjew, Icha und der Chauffeur saßen in der Grotte neben dem Flugboot und lachten. Plötzlich ertönten unten Schüsse. Dann hörten sie ein wildes Geschrei. Im nächsten Augenblick flog aus der Tiefe wie ein Habicht ein Luftschiff auf: es warf den regungslosen Körper Lossjs über Bord auf das Plateau und begann herumspähend zu kreisen.
Gussjew spuckte über Bord: so ekelhaft war ihm dieser Mars geworden. »Wenn ich nur den Apparat erreichen und Lossj einen Schluck Schnaps in die Kehle gießen könnte!« Er berührte den Körper; er war kaum noch warm; seitdem ihn Gussjew auf dem Plateau aufgelesen hatte, hatte sich an ihm noch keine Leichenstarre bemerkbar gemacht. »So Gott will, erholt er sich noch.« Gussjew kannte aus eigener Erfahrung die schwache Wirkung der marsianischen Kugeln. »Dauert diese Ohnmacht nicht zu lange?« Er wandte sich unruhig zur Sonne um, die sich dem Horizont näherte, und erblickte das aus der Höhe schießende Luftschiff.
Gussjew steuerte sofort gegen Norden, um einer Begegnung auszuweichen. Auch das Luftschiff wandte um und verfolgte ihn. Ab und zu leuchteten kleine gelbe Rauchwolken der Schüsse auf. Gussjew flog immer höher: er hoffte beim Abstieg die Geschwindigkeit zu verdoppeln und so der Verfolgung zu entgehen.
Ein eiskalter Wind pfiff ihm um die Ohren, Tränen blendeten ihm die Augen und froren auf seinen Wimpern. Ein Schwarm träge die Flügel schwingender Ichas wollte sich über das Boot stürzen, schoß aber vorbei und blieb zurück. Gussjew hatte schon längst die Richtung verloren. Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen, die dünne Luft schlug ihn mit eisigen Peitschen. Nun ließ Gussjew den Motor mit der höchsten Geschwindigkeit laufen und lenkte das Boot abwärts. Das Luftschiff blieb zurück und verschwand hinter dem Horizont.
Unten dehnte sich, so weit das Auge reichte, eine kupferrote Wüste. Kein Bäumchen, keine Spur von Leben weit und breit. Nur der Schatten des Bootes bewegte sich über die flachen Hügel, über die Wellen des Sandes, über die Sprünge in dem wie Glas glänzenden steinigen Boden. Hier und da lagen auf den Hügeln, traurige Schatten werfend, Ruinen von Wohnstätten. Die ganze Wüste war von ausgetrockneten Kanälen durchfurcht.
Die Sonne näherte sich immer mehr dem geraden Rande der Sandwüste, ein kupferrotes, trübes Abendlicht ergoß sich über den Himmel. Gussjew sah aber unten noch immer nichts als die Wellen des Sandes, Hügel und Trümmer der unter dem Staube sterbenden Tuma.
Die Nacht brach schnell herein. Gussjew landete auf einer sandigen Ebene. Er stieg aus dem Boot, zog das Laken von Lossjs Gesicht weg, hob ihm die Lider, drückte das Ohr an sein Herz – Lossj saß da, weder tot noch lebendig. Gussjew entdeckte auf seinem kleinen Finger einen Ring, an dem an einem Kettchen ein offenes winziges Fläschchen hing.
»Ach, diese Wüste!« sagte Gussjew, das Boot verlassend. Im abgrundtiefen, schwarzen Himmel flammten eisige Sterne auf. Der Sand erschien in ihrem Lichte feucht. Es war so still, daß man das Rieseln des Sandes in den tiefen Fußspuren hörte. Ihn quälte der Durst. Eine schwere Trauer bemächtigte sich seiner. »Ach, diese Wüste!« Gussjew kehrte zum Boot zurück und setzte sich ans Steuer. Wohin soll er fliegen? Das Muster der Gestirne ist ihm fremd und unbekannt.
Gussjew schaltete den Motor ein, aber die Luftschraube blieb nach einigen trägen Umdrehungen stehen. Der Motor arbeitete nicht: der Behälter mit dem Explosionspulver war leer.
»Na, gut«, sagte Gussjew leise. Er stieg wieder aus dem Boot, steckte sich den Prügel rückwärts in den Gürtel, zog Lossj heraus, lud ihn sich auf die Schultern. – »Gehen wir, Mstislaw Ssergejewitsch!« – und ging, bis an die Fußknöchel im Sande versinkend. Er ging lange. Er erreichte einen Hügel, legte Lossj auf die sandverschütteten Stufen irgendeiner Treppe nieder, warf einen Blick auf die im Sternenlichte auf dem Gipfel des Hügels einsam ragende Säule und legte sich auf den Rücken. Eine tödliche Müdigkeit rauschte wie die Ebbe des Meeres in seinem Blute.
Er wußte nicht, wie lange er so unbeweglich gelegen hatte. Der Sand wurde immer kühler, sein Blut erstarrte. Gussjew setzte sich auf und hob mutlos den Kopf. Ziemlich tief über der Wüste stand ein rötlicher, düsterer Stern. Er war wie das Auge eines großen Vogels. Gussjew sah ihn mit offenem Munde an. »Die Erde!« Er packte Lossj und lief auf den Stern zu. Nun wußte er, in welcher Richtung er den Apparat zu suchen hatte.
Gussjew sprang laut atmend, in Schweiß gebadet, in großen Sätzen über die Gräben, schrie vor Wut, stolperte über Steine und rannte, rannte – der nahe, dunkle Horizont der Wüste schwebte hinter ihm her. Gussjew legte sich einigemal nieder, drückte sein Gesicht in den kalten Sand, um den ausgetrockneten Mund wenigstens mit dem feuchten Hauch zu erfrischen. Dann hob er den Genossen wieder auf und ging weiter, auf die rötlichen Strahlen der Erde blickend. Sein riesengroßer Schatten wankte einsam inmitten des Weltfriedhofs.
Die scharfe Sichel der abnehmenden Olla ging auf. Gegen Mitternacht erschien auch die runde Litcha – ihr Licht war mild und silbern, doppelte Schatten legten sich auf den Sand. Die beiden seltsamen Monde schwebten, der eine in die Höhe, der andere dem Untergange zu. In ihrem Lichte erlosch der Talzetl. In der Ferne wurden die eisbedeckten Gipfel von Lisiasira sichtbar.
Die Wüste nahm ein Ende. Der Sonnenaufgang war nicht mehr fern. Gussjew trat in die Kaktusfelder. Er warf mit dem Fuße eine der Pflanzen um und sättigte sich gierig an ihrem zitternden, wässerigen Fleische. Die Sterne verglommen. Auf dem lila Himmel zeigten sich rosa Wolkenränder. Da hörte Gussjew plötzlich ein eisernes Klopfen, ein eintöniges metallisches Klopfen, unheimlich deutlich in der Stille des Morgens.
Gussjew begriff sofort, was es bedeutete: über dem Kaktusdickicht ragten die drei durchbrochenen Maste des Militärluftschiffes, das ihn gestern verfolgt hatte. Das Klopfen kam von dort: die Marsianer zerstörten den Apparat.
Gussjew lief unter der Deckung der Kaktusse hin und erblickte gleichzeitig das Luftschiff und neben ihm den rostigen Riesenbuckel des Apparats. An die zwanzig Marsianer bearbeiteten seinen genieteten Mantel mit großen Hämmern. Die Arbeit hatte wohl erst eben begonnen. Gussjew legte Lossj auf den Sand und zog aus dem Gürtel den Prügel.
»Ich werde euch, Hundesöhne!« heulte Gussjew mit wilder Stimme, aus den Kaktussen hervorspringend. Er lief zum Luftschiff, zerschmetterte mit einem einzigen Schlag seines Prügels einen Metallflügel, zerbrach den Mast und hämmerte auf die Seitenwand wie auf ein leeres Faß. Aus dem Inneren des Schiffes sprangen Soldaten heraus. Sie warfen ihre Waffen weg, fielen wie Erbsen vom Deck und stoben nach allen Richtungen auseinander. Die Soldaten, die den Apparat zu zerstören versuchten, krochen mit leisem Heulen längs der Ackerfurchen davon und verschwanden im Dickicht. Das ganze Feld war in einem Augenblick leer – so groß war das Entsetzen vor dem allgegenwärtigen, selbst auch für den Tod unverletzlichen Sohn des Himmels.
Gussjew schraubte die Luke auf, schleppte Lossj heran, und beide Söhne des Himmels verschwanden im Innern des Eies. Der Deckel wurde zugeklappt. Nun sahen die hinter den Kaktussen lauernden Marsianer ein ungewöhnliches und erschütterndes Schauspiel:
Das riesengroße, rostige, hausgroße Ei erdröhnte, und unter ihm erhob sich eine braune Wolke von Staub und Rauch. Unter den schrecklichen Schlägen erzitterte die Tuma. Das Riesenei sprang erst heulend und donnernd über das Kaktusfeld. Dann erhob es sich, in eine Staubwolke gehüllt, und schoß wie ein Meteor in den Himmel, die rasenden Magazitlen in ihre Heimat tragend.