Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Der Gegenangriff

Lossj und Gor traten auf die Treppe unter der Kolonnade, als die zweite Explosion ertönte. Im Norden der Stadt erhob sich ein bläulicher Flammenfächer. Die aufsteigenden Wolken von Rauch und Asche waren deutlich zu sehen. Dem Donner der Explosion folgte ein Sturmwind. Rötlicher Widerschein bedeckte den halben Himmel.

Kein einziger Schrei tönte auf dem von den Truppen gefüllten sternförmigen Platze. Die Marsianer betrachteten stumm das Flammenmeer. Ihre Wohnstätten, ihre Familien gingen in Flammen auf. Ihre Hoffnungen verflogen mit den schwarzen Rauchwolken.

Gussjew gab nach einer kurzen Beratung mit Lossj und Gor den Befehl, die Luftflotte kampfbereit zu machen. Alle Luftschiffe befanden sich im Arsenal. Nur fünf von den Riesenlibellen lagen auf dem Platze. Gussjew sandte sie aus zur Rekognoszierung. Die Luftschiffe schossen in die Höhe, in ihren Flügeln spiegelten sich die Flammen.

Aus dem Arsenal kam die Antwort, daß der Befehl verstanden worden sei und daß man mit dem Einschiffen der Truppen begonnen hätte. Es verging eine unbestimmte Zeitspanne. Der Lichtschein am Himmel dehnte sich immer aus. In der Stadt war es unheimlich still. Gussjew schickte die Marsianer jeden Augenblick zum Spiegeltelephon, um die Einschiffung zu beschleunigen. Er selbst raste mit seinem Riesenschatten über den Platz, schrie mit heiserer Stimme und stellte die unordentlichen Truppen zu richtigen Marschkolonnen auf. Dann trat er mit wütender Miene vor die Treppe, sein Schnurrbart sträubte sich.

»Sagen Sie den Leuten im Arsenal,« – es folgte ein für Gor unverständlicher Ausdruck – »sie sollen sich sputen ...«

Gor ging zum Telephon. Endlich kam die Meldung, daß die Einschiffung beendet sei und die Luftschiffe aufstiegen. Ziemlich tief über der Stadt erschienen im Flammenscheine schwebende Libellen. Gussjew stand breitbeinig da, den Kopf in den Nacken geworfen, und betrachtete mit Genuß ihre an einen Kranichflug gemahnende Anordnung. In diesem Augenblick krachte die dritte und stärkste Explosion.

Bläuliche Flammenschwerter traten den Luftschiffen in den Weg – sie schwangen sich auf, begannen sich zu drehen und verschwanden. An ihrer Stelle erhoben sich Rauchsäulen und Staubwolken.

In der Kolonnade erschien Gor. Sein Kopf war zwischen die Schultern eingezogen, sein Gesicht zitterte, der Mund stand offen. Als der Widerhall der Explosion verstummt war, sagte er:

»Das Arsenal ist in die Luft gesprengt. Die Flotte ist vernichtet.«

Gussjew räusperte sich trocken und begann an seinen Schnurrbartspitzen zu kauen. Lossj stand mit dem Nacken an eine Säule gelehnt und starrte in das Flammenmeer. Gor reckte sich auf den Fußspitzen und blickte ihm in seine starren Augen.

»Wer heute am Leben geblieben ist,« sagte er, »wird es nicht gut haben. Aber wir, wir, haben wir es verschuldet? Sohn des Himmels, haben wir es verschuldet?«

Lossj gab keine Antwort. Gussjew schüttelte trotzig den Kopf und lief auf den Platz. Man hörte sein Kommando. Die Marsianer marschierten Kolonne auf Kolonne in die Tiefe der Straßen auf die Barrikaden. Der geflügelte Schatten Gussjews flog über den Platz. Er schrie von oben:

»Schneller, schneller, ihr schäbigen Teufel!«

Der Platz leerte sich. Der Riesenfächer des Brandes beleuchtete jetzt eine sich von der entgegengesetzten Seite nähernde Linie von Libellen: sie flogen Welle auf Welle hinter dem Horizonte auf und schwebten über der Stadt. Es waren die Schiffe Tuskubs.

Gor sagte:

»Fliehen Sie, Sohn des Himmels, Sie können sich noch retten.« Lossj zuckte nur die Achseln. Die Schiffe kamen näher und sanken. Aus dem Dunkel der Straßen erhob sich ihnen eine Feuerkugel entgegen, dann eine zweite, eine dritte. Die Maschinen der Aufständigen schossen nach ihnen mit Kugelblitzen. Schwärme von Flugbooten beschrieben über dem Platze Kreise, teilten sich und schwebten über den Dächern längs der Straßen. Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten ihre Flügel. Ein Flugboot stürzte und blieb mit zerbrochenen Flügeln zwischen den Dächern hängen. Andere landeten an den Ecken des Platzes, und ihnen entstiegen Soldaten in silbernen Jacken. Die Soldaten liefen in die Straßen. Es begann eine Schießerei aus den Fenstern, hinter den Straßenecken. Steine flogen durch die Luft. Es kamen immer neue Luftschiffe, blutrote Schatten glitten unaufhörlich über den Platz.

Lossj sah, wie sich in der Nähe, auf der Terrasse eines Hauses, die breitschultrige Gestalt Gussjews erhob. Fünf oder sechs Schiffe flogen sofort auf ihn zu. Er hob über dem Kopfe einen mächtigen Stein und warf ihn nach dem nächsten Flugboot. Die glänzenden Flügel deckten ihn sofort von allen Seiten zu.

Lossj rannte durch den Platz zu Gussjew, er flog fast wie in einem Traume. Über ihm kreisten, wütend mit den Luftschrauben surrend, krachend, jeden Augenblick von den Blitzen erleuchtet, die Luftschiffe. Er biß die Zähne aufeinander, seine Augen merkten sich jede Einzelheit.

Lossj durchquerte in einigen Sätzen den Platz und erblickte wieder auf der Terrasse des Eckhauses Gussjew. Marsianer klebten an ihm von allen Seiten, er bewegte sich wie ein Bär unter diesen lebendigen Haufen und arbeitete mit den Fäusten. Er riß sich einen vom Halse, schleuderte ihn in die Luft und ging, alle mit sich schleppend über die Terrasse. Dann fiel er hin.

Lossj schrie mit wilder Stimme und kletterte an den Mauervorsprüngen auf die Terrasse hinauf. Aus dem Haufen der heulenden Marsianer zeigte sich wieder der Kopf Gussjews mit verwundetem Munde. Mehrere Soldaten krallten sich in Lossj fest. Er warf sie angeekelt von sich, stürzte sich zu dem Haufen, unter dem Gussjew lag, und fing an, die Soldaten hinunterzuwerfen – sie flogen über das Geländer wie junge Hunde. Die Terrasse leerte sich. Gussjew versuchte sich aufzurichten, sein Kopf hing kraftlos herab. Lossj nahm ihn auf die Arme – er erschien ihm nicht schwerer als ein einjähriges Kind –, sprang in eine offene Tür und legte Gussjew in einem niederen, vom Widerscheine des Brandes beleuchteten Zimmer auf den Teppich.

Gussjew röchelte. Lossj ging zur Tür. An der Terrasse schwebten Luftschiffe vorbei, aus denen spitznasige Gesichter hervorlugten. Es war ein Angriff zu erwarten.

»Mstislaw Ssergejewitsch«, rief Gussjew. Er saß aufrecht, betastete sich den Kopf und spuckte Blut. »Alle Unsrigen sind umgekommen ... Mstislaw Ssergejewitsch, wie ist es nun? ... Sie kamen geflogen und fingen nur so zu mähen an ... Die einen sind tot, die andern haben sich versteckt. Ich allein bin übriggeblieben ... Ein Jammer! ...«

Er stand auf, torkelte durchs Zimmer und blieb wankend vor der Bronzestatue irgendeines berühmten Marsianers stehen. »Wart' einmal!« Er packte die Statue und stürzte sich zur Tür.

»Alexej Iwanowitsch, was wollen Sie?«

»Ich kann nicht mehr. Laß mich.«

Er erschien oben auf der Terrasse. Zwischen den Flügeln eines vorbeifliegenden Luftschiffes blitzten Schüsse auf. Dann krachte es. »Aha!« schrie Gussjew. Lossj zog ihn ins Zimmer herein und schlug die Tür zu.

»Alexej Iwanowitsch, begreifen Sie es doch, wir sind geschlagen, alles ist zu Ende ... Man muß Aëlita retten.«

»Was kommen Sie mir immer mit Ihrem Weibsbild ...«

Er hockte sich schnell hin, griff sich ans Gesicht, röchelte, stampfte mit dem Fuß und schrie, als risse man ihm die Eingeweide entzwei:

»Mag man von mir die Haut schinden. Ungerecht ist alles auf der Welt. Ungerecht ist dieser Planet, verdammt soll er sein! ›Rette uns‹ bitten sie und klammern sich an mich ... ›Wir wollen doch nur irgendwie leben ...‹ Nun, was kann ich machen ... Da hab' ich mein Blut für sie vergossen. Sie haben mich erdrückt. Mstislaw Ssergejewitsch, ich bin ja ein Hundesohn, ich kann es nicht mit ansehen ... Ich werde die Peiniger mit den Zähnen in Stücke reißen ...«

Er röchelte wieder und ging zur Tür. Lossj packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn und blickte ihm fest in die Augen.

»Alles, was geschehen ist, ist ein Fiebertraum. Kommen Sie. Vielleicht schlagen wir uns irgendwie durch. Wir wollen heim, auf die Erde.«

Gussjew wischte sich das Blut und den Schmutz übers Gesicht.

»Gut, gehen wir!«

Sie traten aus dem Zimmer auf eine ringförmige Plattform, die über der Öffnung eines Schachtes hing. Eine Wendeltreppe schlängelte sich am Innenrande des Schachtes hinab. Der trübe Widerschein des Brandes drang durch das Glasdach in diese schwindelnde Tiefe.

Lossj und Gussjew begannen die schmale Treppe hinunterzusteigen, unten war alles still. Aber oben krachten immer lauter die Schüsse und scharrten, an den Hausdächern schleifend, die Böden der Luftschiffe. Offenbar wurde eben ein Sturmangriff gegen die letzte Zuflucht der Söhne des Himmels unternommen.

Lossj und Gussjew liefen endlose Spiralen hinab. Plötzlich unterschieden sie eine kleine Gestalt. Sie kroch ihnen entgegen, blieb stehen und schrie leise auf:

»Sie werden gleich hereindringen. Beeilen Sie sich, Unten ist der Eingang zum Labyrinth.«

Es war Gor, er war am Kopfe verwundet. Er beleckte sich die Lippen und sagte:

»Gehen Sie durch die großen Tunnels. Verfolgen Sie die Zeichen an den Wänden. Leben Sie wohl. Wenn Sie auf die Erde zurückkehren, berichten Sie dort von uns. Vielleicht werden Sie auf Erden glücklich sein. Uns erwartet aber eine Eiswüste, Tod und Grauen ... Ach, wir haben die Stunde versäumt ... Wir hätten das Leben grausam und gebieterisch, gebieterisch und barmherzig lieben sollen ...«

Unten ertönte ein Geräusch. Gussjew lief hinunter. Lossj wollte Gor mit sich ziehen, aber der Marsianer biß die Zähne aufeinander und klammerte sich ans Treppengeländer.

»Gehen Sie. Ich will sterben.«

Lossj holte Gussjew ein. Sie passierten die letzte ringförmige Plattform. Die Treppe führte von hier steil auf den Grund des Schachtes. Hier entdeckten sie eine große Steinplatte mit eingeschraubtem Griff. Sie hoben sie mit Mühe auf: aus der finsteren Öffnung wehte ihnen ein trockener Wind entgegen.

Gussjew glitt als erster hinunter. Während Lossj die Steinplatte über die Öffnung schob, erblickte er auf der ringförmigen Plattform im roten Dämmerlicht kaum wahrnehmbare Gestalten von Soldaten. Sie liefen die Wendeltreppe hinauf. Gor streckte ihnen die Arme entgegen und fiel unter den Schlägen.


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