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21.

Als der Wagen auf eine Anhöhe gelangt war, wandte der Kutscher sich um.

»In welchem Gasthaus belieben Sie abzusteigen?«

»Welches ist das beste?«

»Keins kann wohl besser sein als der ›Sibirische Hof‹, doch auch bei Djukow ist's gut.«

»Fahr, wohin du willst.«

Der Postillon nahm wieder die flotte Seitenhaltung ein und trieb die Pferde an. Die Stadt war ganz so wie alle andern Städte: die gleichen Häuser mit Halbgeschossen und grünen Dächern, die gleiche Hauptkirche, die gleichen Läden und Magazine auf der Hauptstraße, und sogar die gleichen Polizisten. Nur daß die Häuser hier fast alle aus Holz und die Straßen nicht gepflastert waren. In einer der belebtesten Straßen ließ der Postillon das Dreigespann an der Einfahrt eines Gasthauses halten, da jedoch alle Zimmer besetzt waren, mußte Nechljudow sich nach einem andern Gasthaus begeben. In diesem bekam er ein Zimmer, und zum erstenmal nach zwei Monaten sah er sich, was Sauberkeit und Bequemlichkeit anbelangt, wieder in den gewohnten Lebensbedingungen. Wie anspruchslos und einfach auch die Einrichtung des ihm zugewiesenen Zimmers war, der Aufenthalt darin erschien ihm nach der ewigen Fahrt im Postkarren, nach all den Ausspannungen und Etappen jedenfalls als eine große Erleichterung. Vor allem empfand er das Bedürfnis, sich von dem Ungeziefer zu reinigen, das er nach seinen Besuchen auf den Etappenplätzen nie ganz hatte loswerden können. Nachdem er seine Sachen ausgepackt hatte, fuhr er sogleich ins Bad. Dann gab er seinem Äußeren einen städtischen Anstrich, indem er ein gestärktes Hemd, ein Paar Beinkleider mit Falten, einen Gehrock und Paletot anzog, und schickte sich an, dem obersten Chef der Provinz seine Aufwartung zu machen. Der Schweizer des Gasthofs holte ihm eine Droschke, vor die ein wohlgenährtes, großes Kirgisenpferd gespannt war, und in dem klirrenden Gefährt begab er sich nach einem großen, stattlichen Gebäude, vor dem eine Schildwache und außerdem ein Polizist auf Posten stand. Das Haus lag in einem großen Garten, in dem zwischen den entlaubten Espen und Birken, deren kahle Äste in die Luft emporragten, das dichte, dunkle Grün der Fichten, Kiefern und Edeltannen hervorlugte.

Der General befand sich nicht wohl und empfing keine Besuche. Nechljudow bat gleichwohl den Lakaien, seine Karte abzugeben, und der Lakai brachte einen günstigen Bescheid: der General lasse bitten.

Das Vorzimmer, der Lakai, die Ordonnanz, die Treppe, der Saal mit dem glänzenden, gebohnten Parkett – das alles war ganz ähnlich wie in Petersburg, nur etwas schmutziger und protziger. Nechljudow wurde in das Kabinett geführt.

Der General, ein sanguinischer Mensch mit gedunsenem Gesichte, einer Kartoffelnase, vortretenden Höckern auf der Stirn, kahlem Schädel und Säcken unter den Augen, saß in einem tatarischen seidenen Schlafrock, eine Zigarette in der Hand, beim Tee, den er aus einem Glase mit silbernem Untersatz trank.

»Seien Sie willkommen, Väterchen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie im Schlafrock empfange – aber es ist immer besser, als wenn ich Sie gar nicht empfangen würde,« sagte er, den Schlafrock zuknöpfend, der seinen dicken, im Nacken wulstige Falten bildenden Hals verbarg. »Ich bin nicht ganz wohl und gehe nicht aus. Was führt Sie hierher in unsern weltverlorenen Winkel?«

»Ich bin einem Gefangenentransport gefolgt, bei dem sich eine mir nahestehende Person befindet,« sagte Nechljudow. »Und nun bin ich gekommen, um Ew. Exzellenz teils dieser Person wegen, teils noch in einer andern Angelegenheit meine Bitte zu unterbreiten.«

Der General tat einen Zug aus der Zigarette, nahm einen Schluck Tee, drückte dann die Zigarette an der Aschenschale aus Malachit aus und hörte, ohne die schmalen, verschwommenen, matt glänzenden Augen von Nechljudow abzuwenden, diesen ernsthaft an. Er unterbrach ihn nur einmal mit der Frage, ob er nicht rauchen wolle.

Der General gehörte zu dem Typus der gelehrten Militärs, die da glauben, daß eine Aussöhnung des Liberalismus und der Humanität mit ihrer Profession wohl möglich sei. Als ein von Haus aus kluger und guter Mensch jedoch hatte er sehr bald gefunden, daß eine solche Aussöhnung nicht möglich sei, und um jenen inneren Widerspruch, in dem er sich fortwährend befand, nicht zu sehen, hatte er sich mehr und mehr der unter den Militärs so verbreiteten Gewohnheit, viel Wein zu trinken, ergeben. Er hatte dieser Gewohnheit so leidenschaftlich gefrönt, daß er nach fünfunddreißigjährigem Militärdienst das geworden war, was die Ärzte einen Alkoholiker nennen. Er war förmlich durchtränkt vom Alkohol und brauchte nur irgendeine Flüssigkeit zu sich zu nehmen, um einen Rausch zu verspüren. Das Weintrinken war ihm zu einem Bedürfnis geworden, ohne dessen Befriedigung er nicht zu leben vermochte, und er war jedesmal gegen Abend vollkommen betrunken, obschon er sich diesem Zustande so sehr angepaßt hatte, daß er nicht schwankte und keine besonderen Dummheiten sprach. Begegnete ihm dies aber doch einmal, so nahm er dabei eine so stramme, imponierende Haltung an, daß die Zuhörer eine noch so große Dummheit aus seinem Munde für klug hinnahmen. Nur in den Morgenstunden, zu der Zeit, da Nechljudow ihn antraf, glich er einem verständigen Menschen und konnte verstehen, was man zu ihm sprach. Man wußte in den oberen Regionen um sein Laster, aber er war immerhin gebildeter als die meisten seinesgleichen, obschon seine Bildung mit dem Zeitpunkt Halt gemacht hatte, als er von der Trunksucht befallen worden war. Dabei war er offen, kühn, gewandt, repräsentabel und auch in betrunkenem Zustande taktvoll, so daß man ihn auf dem angesehenen und verantwortlichen Posten beließ, auf den er einmal berufen worden war.


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