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Maria Pawlowna war die eine Persönlichkeit, die auf die Maslowa Einfluß gewonnen hatte, und zwar beruhte dieser Einfluß darauf, daß die Maslowa Maria Pawlowna liebgewonnen hatte. Die zweite Persönlichkeit, die auf sie wirkte, war Simonson – dessen Einfluß aber beruhte umgekehrt darauf, daß er selbst für die Maslowa eine Neigung gefaßt hatte. – Alle Menschen leben und handeln teils nach ihren eigenen Gedanken, teils nach den Gedanken anderer Menschen. Das Verhältnis, in dem die Menschen nach ihren eigenen Gedanken oder nach den Gedanken anderer Menschen handeln, bildet eins der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen. Die einen bedienen sich ihrer eigenen Gedanken vorwiegend als eines geistigen Spielzeugs, hantieren mit ihrem Verstande wie mit einem Schwungrad, von dem der Treibriemen abgenommen ist, und unterwerfen sich bei ihren Handlungen fremden Gedanken – dem Brauche, der Überlieferung, den Gesetzen. Bei anderen wieder sind ihre eigenen Gedanken die Haupttriebkraft ihrer Tätigkeit, sie hören fast immer auf die Forderungen ihrer Vernunft und unterwerfen sich ihr, und nur selten folgen sie, und dann erst nach sorgfältiger kritischer Erwägung, dem, was andere beschlossen haben. Solch ein Mensch war Simonson – er prüfte und entschied alles nach Maßgabe seiner Vernunft und handelte stets nach seiner eigenen Entscheidung.
Bereits als Gymnasiast hatte er entschieden, daß das von seinem Vater, einem ehemaligen Intendanturbeamten, erworbene Vermögen auf unredliche Art erworben sei, und er erklärte dem Vater, daß er dieses Vermögen dem Volke zurückgeben müsse. Als der Vater ihm nicht nur nicht gehorchte, sondern ihn obendrein gehörig ausschalt, verließ er das Vaterhaus und nahm keine Subsistenzmittel mehr von seinem Vater an. Nachdem er dann später, als Student, entschieden hatte, daß alles bestehende Übel von der Unbildung des Volkes herrühre, trat er zur revolutionären Partei der »Narodniki« über, ging als Lehrer aufs Dorf, verkündete voll Kühnheit seinen Schülern und den Bauern alles das, was er für gerecht hielt, und bekämpfte, was er für ungerecht hielt.
Er wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Während der Gerichtsverhandlung entschied er, daß die Richter kein Recht hätten, über ihn zu Gericht zu sitzen, und er sprach das offen in der Verhandlung aus. Als nun die Richter sich nicht zu seiner Auffassung bekehren wollten, sondern in der Verhandlung fortfuhren, entschied er, daß er nicht mehr antworten werde, und schwieg auf alle ihre Fragen. Er wurde ins Gouvernement Archangel verschickt. Dort bildete er sich seine besondere Religionslehre, nach der er seine gesamte Tätigkeit bestimmte. Diese Religionslehre bestand darin, daß alles in der Welt lebendig sei, daß es nichts Totes gebe, daß alle Dinge, die wir für tot, für anorganisch halten, in Wirklichkeit nur Teile eines ungeheuren organischen Körpers seien, den wir nur nicht fassen können, und daß daher die Aufgabe des Menschen, als eines Teilchens dieses Organismus, in der Erhaltung des Lebens dieses Organismus und aller seiner lebendigen Teile bestehe. Und darum betrachtete er es als ein Verbrechen, Lebendiges zu vernichten: er war gegen den Krieg, gegen die Todesstrafe, gegen jede Art der Tötung nicht nur von Menschen, sondern auch von Tieren. Bezüglich der Ehe hatte er gleichfalls seine eigene Theorie, die darauf hinauslief, daß die Fortpflanzung nur eine niedrige Funktion des Menschen sei, seine höhere Funktion bestehe darin, dem schon existierenden Lebendigen zu dienen. Eine Bestätigung dieses Gedankens fand er in dem Vorhandensein der Phagocyten, Freßzellen, im Blute. Nach seiner Meinung waren die unverheirateten Menschen ebensolche Phagocyten, deren Bestimmung es war, den schwachen, kranken Teilen des Organismus Hilfe zu leisten. Seit er dies entschieden, lebte er, als Unverheirateter, auch dementsprechend, obschon er früher, als Jüngling, sich dem Laster nicht ferngehalten hatte. Er sah in sich selbst, wie auch in Maria Pawlowna, solche Phagocyten der Gesellschaft.
Seine Liebe zu Katjuscha stand zu dieser Theorie nicht im Widerspruch, da er sie platonisch liebte, ja er meinte sogar, daß eine solche Liebe seine auf die Unterstützung der Schwachen gerichtete Tätigkeit nicht nur nicht behindere, sondern vielmehr ansporne.
Aber nicht nur die sittlichen, sondern auch die meisten praktischen Fragen entschied er auf seine eigene Weise. Er hatte für alle praktischen Angelegenheiten seine eigenen Theorien: er hatte seine Regeln, wie viel Stunden der Mensch arbeiten und wieviel er ruhen müsse, wie er sich nähren und kleiden solle, wie die Öfen zu heizen und die Zimmer zu beleuchten sind.
Bei alledem war Simonson im Verkehr mit andern überaus schüchtern und bescheiden. Hatte er jedoch eine Sache einmal entschieden, dann konnte ihn nichts in seinem Handeln beeinflussen.
Dieser Mensch nun hatte dadurch, daß er die Maslowa liebgewann, einen entscheidenden Einfluß auf sie gewonnen. Sie hatte mit weiblichem Instinkt es sehr bald erraten, welche Gefühle er für sie empfand, und das Bewußtsein, daß sie in einem so ungewöhnlichen Menschen Liebe erwecken konnte, hatte sie in ihrer eigenen Meinung sehr gehoben. Nechljudow hatte ihr die Ehe aus Großmut angeboten, und um der Beziehungen willen, die früher zwischen ihnen bestanden hatten; Simonson aber liebte sie so, wie sie jetzt war, liebte sie einfach darum, weil er sie liebte. Sie fühlte überdies, daß Simonson sie für eine ungewöhnliche, über alle andern emporragende Frau von besonders hohen sittlichen Eigenschaften hielt. Sie wußte nicht recht, was für Eigenschaften er ihr zuschrieb, um ihn jedoch nicht zu enttäuschen, war sie aus allen Kräften bemüht, in sich die allerbesten Eigenschaften, die sie nur irgend sich vorstellen konnte, zur Entfaltung zu bringen. Und das war ihr ein Ansporn, so gut zu sein, wie sie nur irgend zu sein vermochte.
Diese Beziehungen zwischen ihnen hatten bereits im Gefängnis begonnen, als sie bei der allgemeinen Zusammenkunft der Politischen bemerkt hatte, wie Simonsons unschuldige, gute, dunkelblaue Augen unter der vorspringenden Stirn und den starkgewölbten Augenbrauen hervor immer wieder mit auffallender Hartnäckigkeit sich ihr zuwandten. Damals bereits war ihr aufgefallen, daß dieser eigentümliche Mensch sie auf ganz besondere Art ansah, und die auffallende Vereinigung der rauhen Strenge, die in dem hoch emporgesträubten Haar und den finstren Brauen zum Ausdruck zu kommen schien, mit der kindlichen Güte und Unschuld seines Blickes war ihr nicht entgangen. Als sie dann in Tomsk zu den Politischen übergeführt wurde, bekam sie ihn wieder zu sehen. Und obschon sie noch kein Wort miteinander gesprochen hatten, sagte doch der Blick, den sie miteinander wechselten, ihnen beiden, daß sie für einander von Bedeutung seien. Auch fernerhin gab es zwischen ihnen weiter keine ausführlicheren Gespräche, doch merkte die Maslowa, daß, wenn er in ihrer Gegenwart mit jemandem sprach, seine Rede stets an sie gerichtet war, und daß er, um von ihr verstanden zu werden, sich bemühte, alles, was er sagte, so deutlich wie möglich auszudrücken. Ganz besonders nahe aber traten sie einander von dem Augenblick an, da er zu Fuß mit den Kriminalverbrechern ging, vor denen er nichts voraushaben wollte.