Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Maria Pawlowna und Katjuscha dahin gelangten, woher der Lärm ertönte, sahen sie eine höchst aufregende Szene. Der Offizier, ein untersetzter Mensch mit starkem blondem Schnurrbart, rieb sich stirnrunzelnd mit der linken Hand die Innenfläche seiner Rechten, mit der er soeben einen Schlag gegen das Gesicht eines Arrestanten geführt hatte, und erging sich dabei in einer Flut von Schimpfworten. Vor ihm stand ein langer, magerer Arrestant mit halbrasiertem Schädel, im kurzen Arrestantenrock und noch kürzeren Beinkleidern. Er wischte sich mit der Hand das Blut vom Gesichte, während er ein in ein Tuch gewickeltes, durchdringend schreiendes kleines Mädchen in dem andern Arme hielt.
»Ich will dich lehren, hier zu widersprechen!« schrie der Offizier – »das Kind kommt zu den Weibern, und du kriegst die Handschellen an!«
Der Arrestant war ein von Gemeindewegen Verschickter, dessen Frau in Tomsk am Typhus gestorben war, und der nun sein verwaistes kleines Mädchen ganz allein auf den Armen weitergetragen hatte. Der Offizier hatte nun angeordnet, daß er Handschellen bekommen sollte, und die Bemerkung des Arrestanten, daß er mit Handschellen das Kind nicht tragen könne, hatte ihn so gereizt, daß er den Widersprechenden ohne weiteres ins Gesicht schlug.
Vor dem Geschlagenen stand ein Eskortesoldat und ein anderer, stämmiger, schwarzbärtiger Arrestant, dem bereits die Fessel an die Hand gelegt war, und der nun mit einem finsteren Blick auf den Offizier erwartete, daß der Arrestant mit dem Mädchen an ihn angeschmiedet würde. Der Offizier wiederholte seinen Befehl an den Eskortesoldaten, das kleine Mädchen dem Arrestanten wegzunehmen. Immer lauter ertönte das Murren in den Reihen der Gefangenen.
»Von Tomsk an ist er so gegangen, ohne daß man ihm die Eisen anlegte,« ertönte eine heisere Stimme in den hinteren Reihen.
»Es ist doch ein Kind, und kein junger Hund!«
»Wo soll er denn das kleine Ding lassen?«
»Das ist gegen alles Gesetz,« sagte noch jemand.
»Wer sagt das?« schrie der Offizier, wie von einer Wespe gestochen. »Ich will euch das Gesetz beibringen! Wer hat das eben gesagt? Du? Du?«
»Alle sagen es, weil das nämlich ...« sagte ein untersetzter Gefangener mit breitem Gesichte.
Er hatte noch nicht Zeit gehabt, den Satz zu Ende zu sprechen, als der Offizier mit beiden Fäusten auf sein Gesicht loszuschlagen begann.
»Was? Meutern wollt ihr? Ich will euch das Meutern lehren! Totschießen lasse ich euch alle wie die Hunde! Da, nimm ihm den Balg ab!«
Die Menge verhielt sich still. Einer der Eskortesoldaten entriß dem Arrestanten das verzweifelt schreiende Mädchen, während ein zweiter ihm, der jetzt gehorsam seine Hand hinhielt, die Fessel anlegte.
»Trag's zu den Weibern hin!« schrie der Offizier, während er das Portepee seines Säbels in Ordnung brachte.
Das kleine Mädchen suchte die Ärmchen von dem es umhüllenden Tuche zu befreien und schrie dabei unaufhörlich, daß es ganz purpurrot im Gesicht ward.
Maria Pawlowna trat aus der Menge hervor und ging an den Offizier heran.
»Gestatten Sie, Herr Offizier, daß ich das Mädchen trage?«
Der Soldat, der das Mädchen trug, machte Halt.
»Wer bist du?« fragte der Offizier Maria Pawlowna.
»Ich bin eine Politische.«
Das hübsche Gesicht Maria Pawlownas mit den schönen, großen Augen, das dem Offizier schon bei der Übernahme aufgefallen war, verfehlte anscheinend seine Wirkung nicht. Er sah sie schweigend an und schien irgend etwas zu überlegen.
»Meinetwegen tragen Sie es. Sie haben gut mitleidig sein mit dieser Gesellschaft – wen trifft aber die Verantwortung, wenn solch ein Bursche wegläuft?«
»Wie kann er denn mit dem kleinen Mädchen weglaufen?« sagte Maria Pawlowna.
»Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten. Nehmen Sie es, wenn Sie wollen.«
»Soll ich es ihr geben?« fragte der Eskortesoldat.
»Ja, gib es.«
»Komm zu mir,« sagte Maria Pawlowna und suchte die Kleine an sich zu locken.
Doch das Kind strebte vom Arme des Soldaten nur zum Vater hin, es schrie und schrie und wollte um keinen Preis zu Maria Pawlowna gehen.
»Warten Sie, Maria Pawlowna, zu mir wird sie gehen,« sagte die Maslowa und holte eine Brezel aus dem Sacke.
Die Kleine kannte die Maslowa, und als sie jetzt ihr Gesicht und die Brezel sah, ging sie sogleich zu ihr.
Alles wurde still. Das Tor ward geöffnet, die Abteilung trat hinaus und stellte sich in Reihe und Glied, die Eskortesoldaten zählten alle noch einmal durch, die Säcke wurden gepackt und auf die Wagen gelegt und die Schwachen ebendahin gebracht. Die Maslowa stellte sich mit dem kleinen Mädchen auf dem Arme zu den Frauen, neben Fedoßja. Simonson, der die Vorgänge während der ganzen Zeit aufmerksam verfolgt hatte, trat mit großen, festen Schritten auf den Offizier zu, der eben alle Anordnungen beendet hatte und sich gerade in seinen Wagen setzte.
»Sie haben schlecht gehandelt, Herr Offizier,« sagte Simonson.
»Scheren Sie sich auf Ihren Platz, das ist nicht Ihre Sache.«
»Meine Sache ist es, Ihnen zu sagen, daß Sie schlecht gehandelt haben – und ich habe Ihnen das jetzt gesagt,« versetzte Simonson und warf dem Offizier unter seinen dichten Brauen hervor einen durchdringenden Blick zu.
»Alles fertig? Abteilung – marsch!« schrie der Offizier, ohne weiter auf Simonson zu achten, und stieg, sich auf die Schulter des Kutschers, eines Soldaten, stützend, in den Wagen. Die Abteilung setzte sich in Bewegung, zog sich auseinander und marschierte auf dem zu beiden Seiten mit Gräben versehenen, zerfahrenen Wege mitten durch den dichten Wald.