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»Nun, was sagen Sie dazu?« sagte Maria Pawlowna. »Verliebt ist er, bis über die Ohren verliebt! Das hätte ich nie erwartet, daß Wladimir Simonson sich auf so törichte,, kindische Weise verlieben könnte. Das ist ja ganz sonderbar und, die Wahrheit zu sagen, geradezu traurig,« schloß sie mit einem Seufzer.
»Und sie, Katja? Wie stellt sie sich nach Ihrer Meinung zu ihm?« fragte Nechljudow.
»Sie?« sagte Maria Pawlowna und zögerte ein Weilchen, da sie die Frage offenbar möglichst erschöpfend beantworten wollte. »Sie? Sehen Sie – sie ist, trotz ihrer Vergangenheit, ihrer Anlage nach eine der sittlichsten Naturen ... und so feinfühlig ... Sie liebt Sie – liebt Sie auf eine schöne Art und ist glücklich, daß sie Ihnen wenigstens auf diese negative Weise, indem sie Ihr Schicksal nicht mit dem ihrigen verstrickt, etwas Gutes antun kann. Für sie wäre eine Ehe mit Ihnen ein furchtbarer Fehltritt, schlimmer als alle früheren, und darum wird sie nie darauf eingehen. Und zugleich beunruhigt sie Ihre Anwesenheit.«
»Wie denn – dann soll ich verschwinden?« sagte Nechljudow.
Auf Maria Pawlownas Gesichte erschien ein anmutiges, kindliches Lächeln.
»Ja, zum Teil.«
»Wie ist denn das – zum Teil verschwinden?«
»Ich rede ja Unsinn; ich wollte Ihnen nur noch von ihr etwas sagen – daß sie nämlich wahrscheinlich die Torheit seiner schwärmerischen Liebe – von der er ihr gar nichts gesagt hat – erkennt und sich dadurch wohl sehr geschmeichelt fühlt, aber sich auch davor fürchtet. Sie wissen, ich bin in diesen Dingen nicht kompetent, aber ich glaube, daß auf seiner Seite das ganz gewöhnliche sinnliche Gefühl des Mannes, wenn auch maskiert, vorliegt. Er sagt, daß diese Liebe in ihm die Energie steigert, und daß diese Liebe platonisch sei. Aber ich weiß, daß, wenn es auch eine außergewöhnliche Liebe ist, ihr doch ganz gewiß etwas Häßliches zugrunde liegt ... Es ist genau so, wie zwischen Nowodworow und der Grabez.
Maria Pawlowna war ganz in ihr Lieblingsthema hineingeraten und hatte Nechljudows Frage vergessen.
»Was soll ich also tun?« fragte Nechljudow.
»Ich denke, Sie müssen mit ihr sprechen. Es ist immer besser, daß alles geklärt ist. Reden Sie mit ihr, ich werde sie rufen. Soll ich?« sagte Maria Pawlowna.
»Bitte sehr,« sagte Nechljudow, und Maria Pawlowna ging hinaus.
Eine seltsame Empfindung bemächtigte sich Nechljudows, als er allein in der kleinen Zelle zurückblieb und auf das leise, zuweilen durch einen Seufzer unterbrochene Atmen Wjera Jefremownas und das trotz der beiden dazwischenliegenden Türen laut vernehmliche Lärmen der Kriminalgefangenen hörte.
Das, was Simonson ihm da gesagt hatte, befreite ihn von der Verpflichtung, die er auf sich genommen hatte, und die ihm in Augenblicken der Schwäche schwer und unheimlich erschien. Und doch war ihm das, was jener gesagt, nicht nur unangenehm, sondern auch schmerzlich. Es spielte dabei der Umstand mit, daß Simonsons Vorschlag das Besondere, das in seinem eigenen Verhalten gegen Katjuscha lag, aufhob und in den Augen der andern den Wert des von ihm gebrachten Opfers verringerte. Wenn ein Mann, und noch dazu ein so wackerer Mann, der ihr gegenüber keine Verpflichtungen hatte, sein Schicksal an das ihrige zu knüpfen wünschte, dann war sein, Nechljudows, Opfer nicht mehr so bedeutend. Vielleicht war auch das einfache Gefühl der Eifersucht mit im Spiele: er hatte sich so an den Gedanken gewöhnt, daß sie ihn liebe, daß er sich nicht vorstellen konnte, sie könnte einen andern liebgewinnen. Auch die Zerstörung seines einmal gefaßten Planes, in ihrer Nähe zu leben, solange sie ihre Strafe abbüßte, kam in Betracht. Wenn Simonson ihr Mann wurde, erübrigte sich seine, Nechljudows, Anwesenheit, und er mußte einen neuen Lebensplan entwerfen.
Er hatte noch nicht Zeit gefunden, sich in seinem Gefühle zurechtzufinden, als durch die geöffnete Tür der Lärm der Kriminalgefangenen, die heute etwas Besonderes vorzuhaben schienen, plötzlich lauter in die Zelle drang und Katjuscha diese betrat.
Sie näherte sich ihm mit raschen Schritten.
»Maria Pawlowna schickt mich her,« sagte sie und blieb dicht vor ihm stehen.
»Ja, ich muß mit Ihnen sprechen. Aber setzen Sie sich. Wladimir Iwanowitsch hat mit mir gesprochen.«
Sie hatte sich gesetzt und die Hände in den Schoß gelegt, und sie erschien vollkommen ruhig. Kaum hatte jedoch Nechljudow Simonsons Namen ausgesprochen, als sie purpurrot wurde.
»Was hat er denn mit Ihnen gesprochen?« fragte sie.
»Er sagte, daß er Sie heiraten wolle.«
Ihr Gesicht verdüsterte sich plötzlich und nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, doch sagte sie nichts und senkte nur die Augen.
»Er bat mich um mein Einverständnis, oder um meinen Rat. Ich sagte ihm, daß alles von Ihnen abhängt, daß Sie zu entscheiden haben.«
»Ach, was ist denn das? Was soll das?« sprach sie und sah ihm mit ihrem schielenden Blick, der auf ihn immer so seltsam und so besonders stark einwirkte, in die Augen. Einige Sekunden schauten sie einander so Aug' in Auge an, und dieser Blick sagte ihnen beiden sehr viel.
»Sie haben zu entscheiden,« wiederholte Nechljudow.
»Was soll ich entscheiden?« sagte sie. »Alles ist schon längst entschieden.«
»Nein, Sie sollen entscheiden, ob Sie Wladimir Iwanowitschs Antrag annehmen,« sagte Nechljudow.
»Was für eine Gattin kann ich ihm denn sein – in der Zwangsarbeit! Warum soll ich auch Wladimir noch unglücklich machen?« sagte sie stirnrunzelnd.
»Ja – aber wenn die Begnadigung erfolgt?« sagte Nechljudow.
»Ach, lassen Sie mich. Da ist nichts weiter zu reden,« sagte sie, erhob sich und verließ die Zelle.