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Draußen war es sternhell. Über den festgefrorenen, nur hier und da noch nachgebenden Straßenkot hinschreitend, gelangte Nechljudow nach seiner Ausspannung zurück und klopfte an das dunkle Fenster. Der breitschultrige Knecht kam barfuß heraus, schloß die Tür auf und ließ ihn in den Flur. Rechts im Flur ließ sich aus der »schwarzen« Stube das laute Schnarchen der Fuhrleute vernehmen; vom Hofe her hörte man das Geräusch einer großen Anzahl von Pferden, die ihren Hafer kauten. Nach links hin führte eine Tür nach der guten Stube. In der guten Stube roch es nach Beifuß und Schweiß; hinter einem Verschlage ertönte ein gleichmäßiges, schlucksendes Schnarchen, das offenbar aus einem mächtigen Lungenpaar kam; vor den Heiligenbildern brannte ein Lämpchen in einem roten Glase. Nechljudow zog sich aus, legte auf dem mit Wachstuch überzogenen Diwan seinen Plaid und sein Lederkissen zurecht, streckte sich zur Ruhe hin und ließ noch einmal alles, was er an diesem Tage gehört und gesehen, an seinem Geiste vorüberziehen. Von all den Bildern, die ihm heute entgegengetreten, erschien ihm als das schrecklichste der Knabe, der, mit dem Kopfe auf dem Beine seines Nachbars liegend, in der aus dem Unratkübel heraussickernden Jauche lag.
Obschon das Gespräch mit Simonson und Katjuscha ihm unerwartet gekommen war und wichtig genug erschien, verweilte er doch nicht weiter bei diesem Ereignis: die Frage, wie er sich in dieser Angelegenheit zu verhalten habe, war allzu verwickelt und zugleich unbestimmt, und darum suchte er sich die Erinnerung daran fernzuhalten. Um so lebhafter vergegenwärtigte er sich die Szene im Flur, wo jene Unglücklichen, darunter der Knabe mit dem unschuldigen Gesichte, auf dem schmutzigen Fußboden ihre Nachtruhe hielten. Drei Monate lang hatte Nechljudow nun diese Quälerei, die hier von Menschen gegen Menschen verübt wurde, mit angesehen. Er hatte sich während dieser drei Monate mehr als einmal gefragt, ob er denn von Sinnen sei und Dinge sehe, welche die andern nicht sehen, oder ob jene von Sinnen seien, die das ausübten, was er sah. Aber sie übten dieses Grauenhafte so voll ruhiger Überzeugung aus, als ob es nicht nur so sein müsse, sondern sogar sehr wichtig und richtig sei, und so schien es schwer, ihnen den klaren Verstand abzusprechen. Und da er sich der Folgerichtigkeit seines eignen Denkens bewußt war, konnte er auch sich selbst den klaren Verstand nicht absprechen, und so befand er sich beständig in einem Zustande des Schwankens und Zweifelns.
Was er in diesen drei Monaten gesehen, stellte sich ihm schließlich in folgender Weise dar. Durch das Gericht und die Administration wurden die nervösesten, leidenschaftlichsten, vielfach begabtesten und kraftvollsten, dabei jedoch an Schlauheit und Vorsicht hinter den andern zurückstehenden Individuen ausgelesen und, obschon sie durchaus nicht schuldiger oder für die Gesellschaft gefährlicher waren als die in der Freiheit Zurückbleibenden, nach den Gefängnissen, Etappenplätzen und Zwangsarbeitshäusern gebracht, um dort Monate und Jahre, lang in Müßiggängerei festgehalten zu werden. Materiell gesichert, aber von der Natur, der Familie und der Arbeit ferngehalten und somit außerhalb aller Bedingungen des natürlichen und sittlichen Lebens der Menschen gestellt, wurden sie in jenen Anstalten allerhand überflüssigen Erniedrigungen ausgesetzt. Man legte ihnen Ketten an, rasierte ihnen die Köpfe, zwang sie, eine entehrende Kleidung zu tragen, und ertötete so in ihnen die Motive, welche Menschen mit schwachem Charakter veranlassen können, sich eines guten Lebenswandels zu befleißigen: die Sorge um die Meinung der andern, das Schamgefühl, das Bewußtsein der menschlichen Würde. Man setzte sie allen möglichen Lebensgefahren aus – der Ansteckung an den Orten der Einsperrung, der Erschöpfung, der körperlichen Mißhandlung und allerhand schlimmen Zufälligkeiten. Man brachte sie mit den verdorbensten Elementen, mit Mördern, Wüstlingen und Bösewichtern aller Art zusammen, die auf alle noch nicht ganz Verdorbenen wie die Hefe auf den Teig wirken mußten. Und durch all die unmenschlichen Handlungen endlich, die man gegen sie beging – durch die Mißhandlung von Kindern, Frauen und Greisen, durch das Prügeln mit Ruten und Peitschen, durch das Aussetzen von Belohnungen für die Einbringung von entlaufenen Gefangenen, ob sie lebendig oder tot eingebracht wurden, durch die Trennung der Männer von den Frauen und die Gestattung des Zusammenlebens fremder Frauen mit fremden Männern, durch das Erschießen, das Aufhängen – brachte man ihnen die Überzeugung bei, daß alle diese Gewalttaten und Grausamkeiten nicht nur nicht verboten, sondern geradezu erlaubt sind, wenn sie dem, der sie ausübt, Vorteil bringen, und daß sie zumal denjenigen gegenüber erlaubt sind, die sich in Gefangenschaft, in Not und Elend befinden.
Alle diese Einrichtungen schienen Nechljudow vorsätzlich ausgedacht, um auf die beste und sicherste Weise möglichst viele Menschen zu verderben. Hunderttausende wurden jährlich so bis zum tiefsten Grade moralischer Verkommenheit heruntergebracht, und wenn sie dann durch und durch verdorben waren, wurden sie freigelassen, damit sie die in den Gefängnissen erworbene Verderbtheit im Volke weiter verbreiteten. In den Gefängnissen von Tjumen, Jekaterinburg, Tomsk und auf den Etappenplätzen hatte Nechljudow beobachtet, wie vollkommen dieses anscheinend planmäßig aufgestellte Ziel erreicht wurde. Diese schlichten Menschen, die in der russischen, christlichen, bäuerlichen Moral aufgewachsen waren, sagten sich von dieser letzteren los und nahmen die neuen, den Gefängnissen eigentümlichen Anschauungen an, die in der Hauptsache darin bestanden, daß jede Erniedrigung, jede Vergewaltigung und selbst Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit erlaubt ist, wenn sie dem eigenen Vorteil entspricht. Hatten sie eine gewisse Zeit im Gefängnis zugebracht, dann wußten sie, daß die von den Kirchen- und Morallehrern aufgestellten Gesetze, welche die Achtung vor dem Menschen und das Mitleid mit ihm predigen, ihnen gegenüber tatsächlich aufgehoben waren, und folgerten daraus, daß diese Gesetze auch von ihnen nicht befolgt zu werden brauchten. An allen ihm bekannten Gefangenen konnte Nechljudow das beobachten – an Fjodorow, an Makar, ja selbst an Taras, der nach zweimonatigem Verkehr mit den Gefangenen seine Anschauungen so geändert hatte, daß Nechljudow durch die Sittenlosigkeit seiner Äußerungen oft betroffen war. Man hatte Nechljudow unterwegs von den Landstreichern erzählt, die, sobald sie in die Tajga Der sibirische Urwald. entfliehen, irgendeinen Kameraden zur Mitflucht bereden, um ihn dann zu töten und sein Fleisch zu verzehren. Er hatte selbst einen Menschen gesehen, der dieses Verbrechens beschuldigt wurde und es auch zugab. Und das Entsetzlichste war, daß solche Fälle von Menschenfresserei nicht vereinzelt waren, sondern immer wieder vorkamen. Die Ausrottung des Verbrechens, die Abschreckung, die Besserung und die gesetzliche Vergeltung sollten, wie in den Büchern geschrieben stand, der Zweck aller dieser Einrichtungen sein. In Wirklichkeit jedoch wurde das Verbrechen, statt abgeschafft zu werden, nur weiterverbreitet; statt abgeschreckt zu werden, wurden die Verbrecher nur aufgemuntert, so daß viele, wie die Vagabunden, freiwillig in die Gefängnisse gingen; statt der Besserung trat eine planmäßige Ansteckung mit allen Lastern ein, und der Drang nach Vergeltung, nach Rache wurde durch die Bestrafung nicht nur nicht gemildert, sondern dort, wo er im Volke nicht existierte, ihm geradezu anerzogen.
»Warum geschieht das nun?« fragte sich Nechljudow, und er fand keine Antwort auf diese Frage.
Was ihn am meisten in Erstaunen setzte, war, daß alles dies nicht etwa bloß gelegentlich, gleichsam unbewußt, oder aus Mißverständnis verübt wurde, sondern daß es schon immer im Laufe der Jahrhunderte verübt worden war, nur daß früher statt der heutigen Strafen das Aufreißen der Nasen, das Abschneiden der Ohren, das Brandmarken eingeführt war.
Man hatte Nechljudow gesagt, daß die Unvollkommenheiten, die ihm im Gefängnis- und Verschickungswesen aufgefallen waren, durch eine bessere Einrichtung der Einsperrungsorte beseitigt werden könnten. Diese Erklärung befriedigte ihn jedoch nicht. Er hatte von modernen Gefängnissen mit elektrischen Klingeln, von Hinrichtungen durch Elektrizität und ähnlichem gelesen, diese Vervollkommnung der Gewalttätigkeiten hatte ihn jedoch nur noch mehr empört. Vor allem aber war Nechljudow über das Verhalten gewisser Leute, die in den Gerichten und Ministerien saßen, empört: diese Leute bezogen auf Kosten des Volkes ein großes Gehalt dafür, daß sie, gestützt auf gewisse Bücher, die von ebensolchen Leuten wie sie selbst geschrieben waren, andere Leute, die gegen die von ihnen geschriebenen Gesetze verstoßen hatten, bestraften, indem sie ihre Handlungen unter die Artikel dieser Gesetze brachten und die Täter diesen Artikeln gemäß an gewisse Orte schickten, wo sie sie nicht mehr zu sehen bekamen, und wo jene, der Willkür von verrohten Inspektoren, Aufsehern und Eskorteoffizieren überlassen, zu Millionen geistig und körperlich zugrunde gingen.
Nachdem Nechljudow die Gefängnisse und Etappenplätze genauer kennengelernt hatte, war er überzeugt, daß all die unter den Gefangenen verbreiteten Laster, die Trunksucht, die Spielwut, die Grausamkeit, all die schrecklichen Verbrechen, selbst die Menschenfresserei, keine zufälligen Erscheinungen, keine Zeichen der Degeneration oder Äußerungen eines bestimmten Verbrechertyps waren, wie gefällige Gelehrte es den Regierungen zuliebe ausgelegt haben, sondern daß alle diese Erscheinungen eine unvermeidliche Folge der falschen Auffassung der Menschen sind, daß ein Mensch den andern überhaupt richten und strafen dürfe. Er war der Überzeugung, daß die Menschenfresserei nicht in der Tajga beginne, sondern in den Ministerien, den Komitees und Departements, und daß sie in der Tajga nur ihren Abschluß finde.
»Sollte es wirklich möglich sein,« dachte Nechljudow, »daß alles dies nur aus Mißverständnis geschieht? Sollte man es nicht so einrichten können, daß allen diesen Beamten ihr Gehalt gezahlt, ja daß ihnen noch besondere Gratifikationen dafür bewilligt würden, daß sie alles das, was sie jetzt tun, unterließen?« Mit diesem Gedanken schlief er, erst nach dem zweiten Hahnenschrei, ein, und schlief so fest, daß er von den Flöhen, die bei der geringsten Bewegung, die er machte, wie die Tröpfchen einer Fontäne um ihn herumsprühten, gar nichts merkte.
Als Nechljudow erwachte, waren die Fuhrleute schon lange abgefahren, und die Wirtin hatte bereits Tee getrunken. Eben kam sie, sich mit einem Tuche den Schweiß von dem dicken Halse wischend, ins Zimmer, um Nechljudow zu sagen, daß ein Soldat von der Eskorte einen Zettel für ihn gebracht habe. Der Zettel war von Maria Pawlowna. Sie schrieb, der Anfall Krylzows sei ernsthafter, als sie alle gedacht hätten. »Wir wollten ihn erst zurücklassen und bei ihm bleiben, doch wurde uns das nicht gestattet, und wir nehmen ihn mit, fürchten aber das Schlimmste. Sehen Sie doch zu, ob Sie es in der Stadt vielleicht so einrichten können, daß er zurückbehalten wird und jemand von uns bei ihm bleibt. Wenn es dazu nötig sein sollte, daß ich mich mit ihm trauen lasse, bin ich natürlich auch dazu bereit.«
Nechljudow schickte den Knecht zur Poststation nach einem Wagen und begann rasch seine Sachen zu packen. Er hatte noch nicht das zweite Glas Tee getrunken, als das mit drei Pferden bespannte Postfuhrwerk unter Schellengeläut, über den hartgefrorenen Straßenkot wie über ein Steinpflaster daherrasselnd, am Hauseingang vorfuhr. Nechljudow rechnete mit der dickhalsigen Wirtin ab, trat rasch hinaus, setzte sich auf den geflochtenen Wagensitz und hieß den Kutscher so rasch wie möglich fahren, da er den Gefangenentransport einholen wollte. In kurzer Entfernung vom Dorfe traf er in der Tat schon auf die mit den Säcken und den Kranken beladenen Fuhrwerke. Der Offizier war nicht beim Zuge, er war vorausgefahren. Die Soldaten hatten anscheinend ein wenig getrunken und schritten munter plaudernd hinter dem Zuge und zu beiden Seiten der Straße daher. Der Wagenzug war sehr lang. Auf den vorderen Wagen saßen ganz eng zusammen je sechs von den maroden Kriminalgefangenen, auf den letzten Wagen fuhren die Politischen, je drei auf einer Fuhre. Den allerletzten Wagen nahmen Nowodworow, die Grabez und Kondratjew ein; auf dem vorletzten Wagen saßen die Ranzewa, Nabatow und jene schwangere Frau, der Maria Pawlowna ihren Platz abgetreten hatte. Auf dem drittletzten Wagen lag, zwischen Kissen und Heu gebettet, Krylzow, während Maria Pawlowna neben ihm auf dem Wagenrand saß. Nechljudow ließ seinen Postillon neben Krylzows Wagen halten und ging an diesen heran. Der angeheiterte Eskortesoldat winkte Nechljudow mit der Hand, dieser achtete jedoch nicht weiter auf ihn und ging, sich an der Seitenstange des Wagens festhaltend, neben diesem her. Krylzow, im Schafpelz und einer Lammfellmütze, mit dem um den Mund gebundenen Tuche, erschien ihm noch magerer und blasser als sonst. Seine schönen Augen schienen heute besonders groß und glänzend. Das Rütteln des Wagens warf ihn hin und her; er sah Nechljudow unverwandt an, und als dieser ihn nach seiner Gesundheit fragte, schloß er nur die Augen und schüttelte ärgerlich den Kopf. Seine ganze Energie war anscheinend darauf gerichtet, die Stöße des Wagens zu ertragen. Maria Pawlowna saß auf der andern Seite des Wagens. Sie wechselte mit Nechljudow einen vielsagenden Blick, der ihre ganze Angst um Krylzow zum Ausdruck brachte, und begann dann zugleich in heiterem Tone zu sprechen.
»Der Offizier schämt sich offenbar,« rief sie ganz laut, damit Nechljudow sie durch das Wagengerassel hindurch verstehen könnte. »Dem Busowkin hat er die Handschellen abnehmen lassen, er trägt seine Kleine jetzt selbst. Katja und Simonson gehen mit ihnen, und statt meiner geht Wjerotschka mit.«
Krylzow sagte irgend etwas Unverständliches und zeigte dabei auf Maria Pawlowna. Er zog die Augenbrauen zusammen, offenbar, um den Husten zurückzuhalten, und schüttelte den Kopf. Nechljudow neigte seinen Kopf vor, um ihn zu verstehen. Da steckte Krylzow den Mund aus dem Tuche heraus und flüsterte:
»Es ist jetzt viel besser. Wenn ich mich nur nicht erkälte ...«
Nechljudow nickte bejahend und wechselte einen Blick mit Maria Pawlowna.
»Was macht denn das Problem der drei Himmelskörper?« flüsterte Krylzow weiter und lächelte mühsam. »Die Lösung ist nicht leicht, wie?«
Nechljudow verstand ihn nicht, Maria Pawlowna erklärte ihm jedoch, daß Krylzow auf die Beziehungen zwischen Nechljudow, Katjuscha und Simonson anspiele, die er mit Sonne, Mond und Erde verglichen habe. Krylzow nickte mit dem Kopfe, zum Zeichen, daß Maria Pawlowna seinen Scherz richtig gedeutet habe.
»Die Lösung ist nicht meine Sache,« sagte Nechljudow.
»Haben Sie meinen Zettel bekommen? Wollen Sie es tun? ...« fragte Maria Pawlowna.
»Unbedingt,« sagte Nechljudow, und als er auf Krylzows Gesichte ein Mißbehagen bemerkte, ging er nach seinem Wagen zurück, stieg auf und fuhr, sich an den Wagenrändern festhaltend, an dem sich über eine ganze Werst erstreckenden Zuge der teils mit grauen Arrestantenröcken, teils mit kurzen Pelzen bekleideten, durch Fuß- oder Handschellen gefesselten Gefangenen vorüber. Auf der andern Seite der Straße erkannte Nechljudow das blaue Kopftuch Katjuschas, den schwarzen Paletot Wjera Jefremownas und die gehäkelte Mütze sowie die weißen, mit Schnüren umwickelten Strümpfe Simonsons. Er ging neben den Frauen her und sprach erregt auf sie ein.