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10.

Der Raum für die Politischen bestand aus zwei kleinen Zellen, deren Türen auf einen durch eine Querwand abgesonderten Teil des Korridors hinausgingen. Als Nechljudow den abgesonderten Teil des Korridors betrat, erblickte er Simonson mit einem Scheit Kiefernholz in den Händen – er hockte in seiner Guttaperchajacke auf den Fersen vor dem Ofenschirm aus Eisenblech, den der in voller Glut befindliche Ofen erzittern machte.

Als er Nechljudow bemerkte, reichte er ihm, ohne sich zu erheben, die Hand und blickte ihn unter den überhängenden Brauen hervor treuherzig an.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, ich muß Sie sprechen,« sagte er mit bedeutsamer Miene.

»Was gibt es denn?« fragte Nechljudow.

»Später. Jetzt bin ich beschäftigt,« sagte Simonson.

Und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Ofen zu, den er nach seiner eigenen Methode, unter möglichster Einschränkung des Wärmeverlustes, geheizt hatte.

Nechljudow wollte bereits in die erste Tür eintreten, als aus der andern Tür die Maslowa herauskam, den Oberkörper vorgebeugt, mit einem Besen in der Hand, mit dem sie einen großen Haufen Kehricht und Staub nach dem Ofen zu schob. Sie trug eine weiße Jacke, einen Rock, den sie hochgeschürzt hatte, und Strümpfe. Um den Kopf hatte sie, zum Schutze gegen den Staub, ein Tuch gebunden, das ihr Gesicht bis an die Augen hinauf verdeckte. Als sie Nechljudow erblickte, richtete sie sich auf, legte, ganz rot und lebhaft, den Besen beiseite, wischte die Hände an dem Rocke ab und blieb gerade vor ihm stehen.

»Schaffen Sie Ordnung im Hause?« sagte Nechljudow, ihr die Hand reichend.

»Ja, meine alte Beschäftigung,« sagte sie lächelnd. »Das ist hier ein Schmutz – nicht zu sagen ist's! Wir haben schon gefegt und gefegt ... Wie steht's, ist der Plaid schon trocken?« wandte sie sich an Simonson.

»Beinahe,« sagte Simonson und sah sie dabei mit einem ganz besonderen Blicke an, der Nechljudow auffiel.

»Gut, ich hole ihn gleich und bringe die Pelze zum Trocknen. Unsere Leute sind vollzählig da,« sagte sie zu Nechljudow und zeigte auf die Tür der nächsten Zelle, während sie selbst auf die andere Tür zuging.

Nechljudow öffnete die Tür und trat in eine kleine Zelle, die von einer auf einer niedrigen Pritsche stehenden Blechlampe nur schwach beleuchtet wurde. Es war kalt in der Zelle, und es roch darin nach dem aufgewirbelten Staub, der sich noch nicht gesetzt hatte, nach Feuchtigkeit und Tabakqualm. Die Lampe warf auf diejenigen, die sich in ihrer Nähe befanden, ein helles Licht, die Pritschen jedoch lagen im Dunkeln, und an den Wänden huschten schwankende Schatten hin und her.

In dem kleinen Raume waren alle versammelt, bis auf zwei Männer, denen die Proviantbeschaffung oblag, und die sich entfernt hatten, um Eßwaren und kochendes Wasser zum Tee zu besorgen. Nechljudow traf hier seine alte Bekannte Wjera Jefremova, die noch magerer und noch gelber geworden war; die geschwollene Ader auf ihrer Stirn und die auffallend großen, erschrockenen Augen waren noch immer dieselben, das Haar trug sie ganz kurz geschoren, und den schmächtigen Oberkörper umschloß eine graue Jacke. Sie saß vor einem Zeitungsblatt, auf dem ein Häufchen Tabak lag, und war eben dabei, den Tabak mit stoßweisen Bewegungen in die daneben liegenden Zigarettenhülsen zu füllen.

Da war ferner eine Frau, die Nechljudow besonders sympathisch war – Emilia Ranzewa, die sich um die Wirtschaft bekümmerte und ihr trotz aller erschwerenden Umstände stets einen Anstrich von frauenhafter Häuslichkeit und Behaglichkeit zu geben wußte. Sie saß neben der Lampe, hatte die Ärmel an den wettergebräunten, wohlgeformten Armen aufgestreift und wischte mit den flinken Händen die Tassen und Gläser aus, die sie dann auf das über die Pritsche gebreitete Tischtuch stellte. Die Ranzewa war eine junge verheiratete Frau, nicht hübsch, doch mit einem klugen, sanften Ausdruck im Gesichte, das sich, wenn sie lächelte, plötzlich verklärte und dann von einer bezaubernden Frische und Munterkeit war. Mit einem solchen Lächeln empfing sie jetzt Nechljudow.

»Wir dachten schon, Sie seien fort, seien für immer nach Rußland zurückgekehrt,« sagte sie.

Auch Maria Pawlowna war da, weiter im Schatten, in einer entfernten Ecke, wo sie sich mit dem weißhaarigen kleinen Mädchen, dessen Vater von dem Offizier geprügelt worden war, und das mit seinem lieben Kinderstimmchen unaufhörlich plapperte, zu schaffen machte.

»Wie gut, daß Sie gekommen sind. Haben Sie Katjuscha gesehen?« fragte sie Nechljudow. »Sehen Sie doch, was für einen Gast wir haben!« – Sie zeigte nach dem kleinen Mädchen.

Auch Anatolij Krylzow befand sich in der Zelle. Zitternd, bleich und abgemagert, mit gekrümmtem Rücken, die Hände in die Ärmel des kurzen Pelzes gesteckt, hockte er mit untergeschlagenen Beinen weit hinten, ganz in einer Ecke der Pritsche, und blickte mit seinen fieberglänzenden Augen auf Nechljudow. Dieser wollte auf ihn zutreten, doch saß rechts von der Tür, in seinem Sacke kramend und mit der hübschen, ewig lächelnden Grabez plaudernd, ein Mann in einer Guttaperchajacke, mit krausem, rötlichem Haar und einer Brille. Es war der berühmte Revolutionär Nowodworow. Nechljudow beeilte sich, ihn zu begrüßen, und er beeilte sich um so mehr, dies zu tun, weil von allen Politischen des Transports dieser Mensch der einzige ihm unsympathische war. Nowodworow blitzte ihn über die Brille hinweg mit seinen blauen Augen an und reichte ihm stirnrunzelnd seine schmale Hand.

»Nun, wie verläuft Ihre Reise? Recht amüsant, wie?« fragte er mit offenbarer Ironie.

»Ja, ich erlebe viel Interessantes,« antwortete Nechljudow, indem er so tat, als merke er die Ironie nicht und nehme die Frage als eine Liebenswürdigkeit. Dann ging er auf Krylzow zu, äußerlich zwar gleichgültig, innerlich jedoch peinlich berührt durch Nowodworows Worte, die ganz offensichtlich darauf berechnet waren, ihn zu verletzen. Die gute, freudige Stimmung, in der er die Zelle betreten hatte, war fort, und er war verstimmt und traurig.

»Wie geht's mit der Gesundheit?« fragte er, während er Krylzows kalte, zitternde Hand drückte.

»Es macht sich, nur kann ich nicht recht warm werden,« sagte Krylzow und beeilte sich, seine Hand rasch wieder in die Ärmelöffnung des Pelzes zu stecken. »Ich bin unterwegs ganz durchnäßt worden, und hier drinnen ist eine Hundekälte. Die Fenster sind entzwei.« Er zeigte auf die an zwei Stellen zerschlagenen Scheiben hinter den eisernen Gittern. »Warum waren Sie so lange nicht da?«

»Man hat mich nicht hereingelassen, die Vorgesetzten waren so streng. Heute erst ließ der neue Offizier mich vor, er scheint etwas umgänglicher.«

»Ich danke für die Umgänglichkeit,« sagte Krylzow. »Fragen Sie Mascha, was er heute früh getan hat.«

Maria Pawlowna erzählte, ohne von ihrem Platz aufzustehen, wie der Offizier sich am Morgen, beim Aufbruch von der Etappe, benommen hatte.

»Nach meiner Meinung sollten wir alle einen gemeinsamen Protest einlegen,« sagte Wjera Jefremowna in entschiedenem Tone, während sie zugleich wie erschrocken bald diesem, bald jenem ins Gesicht sah. »Wladimir hat zwar protestiert, doch das genügt nicht.«

»Was für einen Protest?« versetzte Krylzow und runzelte ärgerlich die Stirn. Das Unnatürliche, Gezwungene in Wjera Jefremownas Worten und ihre Nervosität reizten ihn augenscheinlich schon seit langem. »Sie suchen wohl Katjuscha?« wandte er sich an Nechljudow. »Sie arbeitet und fegt in einem fort. Jetzt ist sie hier mit unserer Männerzelle fertig geworden, und nun kommt die Frauenzelle dran. Nur die Flöhe kann sie nicht wegbringen, die fressen einen bei lebendigem Leibe. Und Mascha – was macht denn die dort?« fragte er und nickte mit dem Kopfe nach der Ecke, in der Maria Pawlowna saß.

»Sie kämmt ihrer kleinen Pflegetochter das Haar,« sagte die Ranzewa.

»Wird sie auch keine Insekten auf uns loslassen?« sagte Krylzow.

»Nein, nein, ich halte die Augen offen. Sie ist jetzt ganz sauber,« sagte Maria Pawlowna. »Nehmen Sie sie,« wandte sie sich zur Ranzewa – »ich will mal Katjuscha rufen. Und dann will ich ihm auch den Plaid holen.«

Die Ranzewa nahm die Kleine, drückte mit mütterlicher Zärtlichkeit ihre nackten, vollen Ärmchen an sich, setzte sie auf ihren Schoß und gab ihr ein Stückchen Zucker.

Maria Pawlowna ging hinaus, und gleich darauf traten die beiden Männer, die nach Eßwaren und siedendem Wasser gegangen waren, in die Zelle.


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