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7.

Die Zwischenetappe war ebenso angelegt wie alle andern Etappen und Zwischenetappen an der sibirischen Heerstraße: der Hof war von einer aus zugespitzten Pfählen hergestellten Einfriedigung umgeben, und es standen darauf drei einstöckige Häuser, von denen das mit vergitterten Fenstern versehene größte für die Gefangenen bestimmt war, während in dem zweiten die Mannschaften der Eskorte und im dritten der kommandierende Offizier nebst der Kanzlei untergebracht waren. Alle drei Gebäude waren jetzt erleuchtet, und das Licht in den Fenstern schien, wie überall, so auch an diesem Orte etwas Gutes, Behagliches zu versprechen. Leider war dies hier eine Täuschung. Vor den Eingängen der Häuser brannten Laternen, und weitere Laternen brannten an den Mauern der Häuser und beleuchteten den Hof. Der Unteroffizier führte Nechljudow über ein schmales Brett nach dem Eingang des kleinsten der drei Häuser. Nachdem er die drei Stufen zur Haustür emporgestiegen war, ließ er Nechljudow in ein durch ein Lämpchen erhelltes, von Ofendunst angefülltes Vorzimmer treten. Neben dem Ofen stand in grobem Hemd nebst Halsbinde und schwarzen Hosen ein Soldat in einem gelbschaftigen Stiefel – mit dem Schaft des andern Stiefels blies er, über einen Samowar gebeugt, die Kohlen an. Als der Soldat Nechljudow erblickte, ließ er den Samowar stehen, nahm Nechljudow den Lederrock ab und rief in das anstoßende Zimmer hinein:

»Er ist da, Ew. Wohlgeboren!«

»Na, dann laß ihn herein,« ließ von dort eine grimmige Stimme sich vernehmen.

»Gehen Sie durch die Tür da,« sagte der Soldat und machte sich sogleich wieder an den Samowar.

In dem zweiten, von einer Hängelampe erhellten Zimmer saß an dem gedeckten Tische, auf dem noch die Reste der Mahlzeit und zwei Flaschen standen, ein Offizier mit einem großen blonden Schnurrbart und sehr rotem Gesichte, dessen breite Brust mit den kräftigen Schultern in der knappen Joppe prall hervortrat. In dem warmen Zimmer roch es außer nach Tabakrauch auch noch nach einem sehr starken, schlechten Parfüm. Als der Offizier Nechljudow erblickte, erhob er sich ein wenig und musterte ihn mit einem zugleich spöttischen und mißtrauischen Blick.

»Womit kann ich dienen?« sagte er, und ohne die Antwort abzuwarten, schrie er durch die Tür: »Bernow, den Samowar! Na, wird's bald?«

»Sofort!«

»Ich will dir dein ›sofort‹ anstreichen, daß du für lange Zeit genug hast!« schrie der Offizier, und seine Augen funkelten dabei.

»Ich bring' ihn schon!« rief der Soldat und kam auch schon mit dem Samowar herein.

Nechljudow wartete, bis der Soldat den Samowar aufgestellt hatte. Der Offizier musterte den Burschen mit seinen bösen kleinen Augen, als suche er eine Stelle, wohin er ihn schlagen könnte. Als der Samowar aufgestellt war, bereitete der Offizier den Tee. Dann holte er aus einem Behältnis eine kleine viereckige Karaffe mit Kognak und eine Büchse mit Albertbiskuits hervor. Er stellte alles auf die Tischplatte und wandte sich wieder zu Nechljudow.

»Womit kann ich also dienen?«

»Ich möchte um eine Zusammenkunft mit einer Gefangenen bitten,« sagte Nechljudow, ohne sich zu setzen.

»Mit einer Politischen? Das ist vom Gesetz verboten,« sagte der Offizier.

»Es ist keine Politische,« versetzte Nechljudow.

»So – wollen Sie gefälligst Platz nehmen,« lud der Offizier ihn ein.

Nechljudow setzte sich.

»Sie ist, wie gesagt, keine Politische,« fuhr er fort – »aber auf meine Bitte ist ihr von höherer Stelle gestattet worden, mit den Politischen zusammen zu gehen.«

»Ah, ich weiß,« unterbrach ihn der Offizier. »So eine Kleine, Brünette? Gewiß, das läßt sich machen. Rauchen Sie?«

Er schob Nechljudow eine Schachtel mit Zigaretten hin und füllte vorsichtig zwei Gläser mit Tee, von denen er eins Nechljudow hinschob.

»Darf ich bitten?« sagte er.

»Ich danke Ihnen. Ich möchte sie bald sehen ...«

»Die Nacht ist lang. Sie haben noch viel Zeit. Ich lasse sie Ihnen herausrufen.«

»Ginge es nicht vielleicht, daß ich sie dort, im Hause sehe, ohne daß sie erst herausgerufen wird?«

»Sie wollen zu den Politischen hinein? Das ist nicht erlaubt.«

»Man hat mich schon mehrfach hineingelassen. Fürchten Sie nicht, daß ich etwas hineinschmuggle – ich könnte es ja ebensogut durch sie tun.«

»Nun, doch nicht – denn sie wird untersucht,« sagte der Offizier und ließ ein unangenehmes Lachen hören.

»Dann lassen Sie mich doch durchsuchen!«

»Es wird wohl auch ohne das gehen,« sagte der Offizier, während er die Karaffe, aus der er den Stöpsel genommen, Nechljudows Glase näherte. »Gestatten Sie? Nein? Nun, wie Sie wollen. Man ist hier in Sibirien, da ist man froh, wenn man einmal einen gebildeten Menschen sieht. Sie wissen ja selbst, wie traurig unser Dienst ist. Und wenn man an etwas anderes gewöhnt ist, empfindet man es doppelt schwer. Es heißt immer von unsereinem: ein Eskorteoffizier, das ist ein roher, ungebildeter Mensch. Man vergißt eben, daß dieser Mensch vielleicht für etwas ganz anderes geboren ist.«

Das rote Gesicht des Offiziers, sein Parfüm und namentlich sein unangenehmes Lachen waren Nechljudow in hohem Maße zuwider. Er befand sich jedoch heute ebenso wie während seiner ganzen Reise in einer ernsten, zurückhaltenden Gemütsverfassung, in der er sich nicht erlaubte, irgend jemanden, wer es auch sei, nichtachtend oder gar verächtlich zu behandeln – er hielt es vielmehr für notwendig, mit jedem Menschen »treu und ehrlich« zu reden, wie er selbst es bezeichnete. Nachdem er den Offizier angehört und seinen Seelenzustand erfaßt hatte, sagte er ernst:

»Ich meine, Sie können bei Ihrem Dienste doch darin leicht einen Trost finden, daß Sie die Leiden der Menschen erleichtern,« sagte er.

»Was für Leiden? Das ist ja so ein Volk ...«

»Was für ein besonderes Volk? Sie sind nicht anders als alle andern,« sagte Nechljudow. »Es gibt auch Unschuldige darunter.«

»Gewiß, es gibt alle möglichen Sorten. Und man bedauert sie ja auch, natürlich. Andere mögen ihnen vielleicht nichts durchlassen – ich aber bin jedenfalls bemüht, ihnen Erleichterungen zu schaffen, wo ich kann. Lieber will ich selbst leiden, ehe ihnen etwas abgeht. Andere gehen gleich streng nach dem Gesetze vor, oder schießen gar, ich aber habe Mitleid mit ihnen. Darf ich? Bitte, trinken Sie noch ein Glas,« sagte er und füllte von neuem Nechljudows Glas. »Wer ist sie eigentlich – die Frau, die Sie sehen wollen?« fragte er.

»Es ist eine Unglückliche – sie war in einem öffentlichen Hause und wurde wegen Giftmordes verurteilt, ist jedoch unschuldig,« sagte Nechljudow. »Sie ist eine sehr brave Person.«

Der Offizier nickte mit dem Kopfe.

»Ja, das kommt vor. In Kasan, kann ich Ihnen sagen, war auch so eine – Emma hieß sie. Eine geborene Ungarin, aber die Augen – echt persisch!« fuhr er fort, und ein Lächeln erschien bei dieser Erinnerung auf seinem Gesichte. »Einen Schick hatte sie – wie eine Gräfin ...«

Nechljudow unterbrach den Offizier und kehrte zu dem früheren Gespräch zurück.

»Ich glaube, Sie können die Lage dieser Leute wohl erleichtern, solange sie sich in Ihrer Gewalt befinden. Und ich bin überzeugt, Sie würden eine große Freude empfinden, wenn Sie so handelten,« sagte Nechljudow, indem er sich bemühte, möglichst klar und verständlich zu sprechen, wie man etwa mit Ausländern oder mit Kindern spricht.

Der Offizier sah Nechljudow mit blitzenden Augen an und wartete offenbar mit Ungeduld, wann er zu Ende sein würde, damit er in seiner Erzählung von der Ungarin mit den persischen Augen fortfahren könnte, die anscheinend lebendig vor seiner Phantasie stand und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Ja, das stimmt – ganz richtig, ich gebe es zu,« sagte er. »Und ich habe auch alles Mitleid mit ihnen. Doch ich wollte Ihnen von dieser Emma erzählen, was die getan hat ...«

»Das interessiert mich nicht,« entgegnete Nechljudow – »und ich muß Ihnen offen sagen, daß ich, obschon ich früher selbst ein anderer war, jetzt diese Beziehungen zu den Frauen verabscheue.«

Der Offizier blickte Nechljudow ganz erschrocken an.

»Ist Ihnen vielleicht noch Tee gefällig?« sagte er.

»Nein, ich danke.«

»Bernow!« rief der Offizier laut durchs Zimmer – »führe den Herrn zu Wakulow. Sag', er solle ihn in die Sonderzelle zu den Politischen führen, der Herr darf dort bis zur Kontrolle bleiben.«


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