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Der Ofen war geheizt, die Zelle durchwärmt, der Tee in die Gläser und Trinkbecher eingeschenkt und mit Milch weiß gemacht. Auf dem Tischtuch lagen Brezeln, frisches, helles Roggenbrot, Semmeln, hartgekochte Eier, Butter, ein gekochter Kalbskopf und Kalbsfüße. Alle rückten an die Ecke der Pritsche, die als Tisch diente, heran und aßen, tranken und unterhielten sich. Die Ranzewa saß, den Tee einschenkend, auf einer Kiste. Rings um sie drängten sich alle übrigen außer Krylzow, der seinen nassen Pelz ausgezogen und sich in den trockenen Plaid gewickelt hatte und nun im Gespräch mit Nechljudow auf seinem Platze lag.
Nach der Kälte und Nässe, die sie auf dem Marsche zur Etappe ertragen hatten, nach dem Schmutz und der Unordnung, die sie hier vorgefunden, nach all der Mühe, die es gekostet hatte, alles wieder instand zu bringen, nach dem kräftigen Mahl und dem heißen Tee waren alle in der angenehmsten, freudigsten Stimmung.
Der Umstand, daß hinter der Wand sich das Stampfen, Schreien und Schimpfen der Kriminalgefangenen vernehmen ließ und sie an ihre Umgebung erinnerte, erhöhte noch das Gefühl der Behaglichkeit. Wie auf einer kleinen Insel mitten im Meere saßen diese Menschen da und fühlten sich für ein Weilchen sicher vor den Erniedrigungen und Leiden, die sie umgaben. Sie sprachen von allem möglichen, nur nicht von ihrer Lage, und auch nicht von dem, was sie erwartete. Wie es immer zwischen jungen Männern und Frauen zu geschehen pflegt, zumal wenn sie, wie diese hier, gewaltsam vereinigt werden, hatten sich zwischen ihnen mannigfach verflochtene Neigungen und Sympathien entwickelt. Sie waren fast alle verliebt. Nowodworow war in die hübsche, ewig lächelnde Grabez verliebt. Diese Grabez war eine junge Studentin, die in ihrem Leben nur sehr wenig gedacht hatte und gegen die Politik völlig gleichgültig war. Sie hatte sich jedoch, dem Zuge der Zeit folgend, bei irgendeiner politischen Affäre kompromittiert und wurde verschickt. Wie sie in der Freiheit das Hauptinteresse ihres Lebens in Erfolgen bei den Männern gesucht hatte, so war sie auf solche Erfolge auch bei den Verhören, im Gefängnis und in der Verbannung bedacht. Jetzt, während des Marsches, war es ihr ein Trost, daß Nowodworow sich für sie interessierte, und sie verliebte sich auch selbst in ihn. Wjera Jefremowna, die eine sehr verliebte Natur war, jedoch nirgends Gegenliebe fand, trotzdem aber die Hoffnung auf solche niemals aufgab, war abwechselnd in Nabatow und in Nowodworow verliebt. Etwas der Liebe Ähnliches empfand Krylzow für Maria Pawlowna. Er liebte sie so, wie auch sonst die Männer die Frauen lieben, da er jedoch ihr Verhalten gegen die Liebe kannte, verbarg er sein Gefühl geschickt unter dem Schein der Freundschaft und Dankbarkeit dafür, daß sie ihn mit besonderer Zärtlichkeit pflegte. Auch Nabatow und die Ranzewa standen in ziemlich verwickelten Herzensbeziehungen. Wie Maria Pawlowna ein vollkommen keusches Mädchen, so war die Ranzewa eine vollkommen keusche Frau und Gattin. Mit sechzehn Jahren, noch als Gymnasiastin, hatte sie sich in Ranzew, einen Studenten der Petersburger Universität, verliebt, und mit neunzehn Jahren heiratete sie ihn, während sie selbst auf der Universität war. Im vierten Studienjahre war ihr Mann in eine Universitätsgeschichte verwickelt und aus Petersburg verwiesen worden. Er war dann in die Reihen der Revolutionäre getreten. Sie hatte das medizinische Studium, dem sie sich gewidmet, aufgegeben und sich gleichfalls den Revolutionären angeschlossen. Wäre ihr Mann nicht der Mensch gewesen, den sie für den besten und klügsten unter allen Menschen auf der Welt hielt, so würde sie ihn nicht liebgewonnen haben, und hätte sie ihn nicht liebgewonnen, so würde sie ihn nicht geheiratet haben. Nachdem sie jedoch einmal den nach ihrer Überzeugung besten und klügsten Menschen auf der Welt liebgewonnen und geheiratet hatte, faßte sie das Leben und den Zweck des Lebens folgerichtig ganz ebenso auf, wie der beste und klügste Mensch in der Welt es auffasste. Er hatte den Zweck des Lebens zunächst im Studium erblickt, und so erblickte auch sie diesen Zweck darin. Er war Revolutionär geworden, und so wurde sie Revolutionärin. Sie verstand es ausgezeichnet, den Beweis zu führen, daß die bestehende Ordnung der Dinge nichts tauge, daß es Pflicht jedes Menschen sei, diese Ordnung zu bekämpfen und eine Ordnung der Dinge herbeizuführen, die es jedem einzelnen ermöglichte, seine Individualität zu entwickeln usw. usw. Und es schien ihr, daß sie tatsächlich so denke und fühle, in Wirklichkeit jedoch dachte sie nur, daß alles das, was ihr Mann dachte, die lautere Wahrheit sei, und strebte nur nach einem Ziele: in vollkommenem Einvernehmen, völliger Seelengemeinschaft mit ihrem Manne zu leben, was ihr einzig und allein eine sittliche Befriedigung gewährte. Die Trennung von ihrem Gatten und ihrem Kinde, das ihre Mutter zu sich nahm, war ihr sehr schwer gefallen, aber sie ertrug diese Trennung standhaft und ruhig – wußte sie doch, daß sie ihr Schicksal um ihres Mannes und um der Sache willen trug, die unzweifelhaft wahr und gerecht sein mußte, da er, ihr Mann, ihr diente. Sie war in Gedanken stets bei ihrem Manne, und wie sie früher niemanden sonst geliebt hatte, so konnte sie auch jetzt niemanden lieben außer ihrem Manne. Nabatows anhängliche, reine Liebe jedoch rührte und ergriff sie. Er, der sittenreine, charaktervolle Mann, der Freund ihres Gatten, bemühte sich, mit ihr wie mit einer Schwester zu verkehren, doch mischte sich in ihre Beziehungen noch ein gewisses Etwas, das mehr war als geschwisterliche Zuneigung, und dieses Etwas ängstigte sie beide und verlieh gleichzeitig ihrem so schweren gegenwärtigen Leben seinen Reiz.
Ganz frei von aller Verliebtheit waren in diesem Kreise nur Maria Pawlowna und Kondratjew.