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6.

An jenem Tage, als der Zusammenstoß des Eskorteoffiziers mit dem Vater des kleinen Mädchens erfolgte, hatte Nechljudow, der in einer Fuhrmannsherberge übernachtet hatte, sich erst spät erhoben und noch eine Anzahl Briefe geschrieben, die er von der Gouvernementsstadt aus absenden wollte. So war es gekommen, daß er die Herberge später verließ, als er es sonst gewöhnt war, und daß er den Gefangenentransport nicht unterwegs überholte, wie es sonst zumeist geschehen war, sondern erst in der Dämmerung das Dorf erreichte, in dessen Nähe sich die Zwischenetappe befand. In dem Dorfe stieg Nechljudow gleichfalls in einer Herberge ab, die von einer älteren dicken Frau mit ungewöhnlich starkem weißem Halse, einer Witwe, gehalten wurde. Hier trocknete er zunächst seine Kleider, trank in dem sauberen, mit zahlreichen frommen und weltlichen Bildern geschmückten Zimmer den Tee und begab sich dann eilig nach dem Etappenhofe, um von dem kommandierenden Offizier die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft mit der Maslowa zu erbitten.

Auf den sechs vorhergehenden Etappen hatten die Offiziere der Eskorte, so oft sie auch wechselten, einmütig Nechljudow den Zutritt zu den Etappenräumen verweigert, so daß er Katjuscha über eine Woche nicht gesehen hatte. Diese Strenge hatte darin ihren Grund, daß irgendein hoher Gefängnisbeamter die Gegend passieren und unter anderem auch die Etappe revidieren sollte. Der hohe Beamte war jedoch weitergereist, ohne die Etappe zu besichtigen, und so hoffte Nechljudow, daß der Offizier, der den Gefangenentransport an diesem Morgen übernommen hatte, ihm ebenso wie die früheren Eskorteoffiziere die Zusammenkunft mit Katjuscha gestatten würde.

Die Herbergswirtin bot Nechljudow einen Wagen an, der ihn bis zu der am Ende des Dorfes befindlichen Zwischenetappe bringen sollte, aber Nechljudow zog es vor, zu Fuß zu gehen. Ein junger Knecht, ein breitschultriger, hünenhafter Bursche in ungeheuren, mit stark duftendem Teer geschmierten Stiefeln übernahm es, ihn zu führen. Vom Himmel fiel ein Nebel, und es war so dunkel, daß Nechljudow seinen Führer nicht mehr sah, wenn er sich auch nur drei Schritte von ihm entfernte und nicht zufällig aus den Fenstern eines Hauses ein Licht auf die Straße fiel. Nur das Schlurren der großen Stiefel in dem klebrigen, tiefen Straßenkot vernahm er dann und mußte sich danach richten. Über den Kirchplatz hinweg gelangte Nechljudow an den erleuchteten Häusern vorüber, hinter seinem Führer herschreitend, bis ans Ende des Dorfes, wo ihn völlige Finsternis umfing. Bald jedoch ließen sich in dieser Finsternis die gleichsam im Nebel zerfließenden Flammen der rings um den Etappenplatz brennenden Laternen unterscheiden. Die rötlichen Flecke dieser Flammen wurden immer größer und heller; bald sah man die Pfähle der Palisade, die schwarze Gestalt einer auf und ab gehenden Schildwache, den gestreiften Pfosten und das Schilderhaus.

»Wer da?« rief der auf Posten stehende Soldat den Ankömmlingen entgegen, und als es sich herausstellte, daß sie nicht zur Etappe gehörten, erwies er sich so streng, daß er ihnen nicht einmal erlauben wollte, in der Nähe des Pfahlwerks zu warten. Doch Nechljudows Führer ließ sich durch die Strenge des Wachthabenden nicht einschüchtern.

»Nun seht doch, wie böse der ist!« sagte er. »Trommle mal den Korporal heraus, wir wollen hier warten.«

Der Posten gab keine Antwort, sondern rief nur irgend etwas laut durch die Pforte in den Hof hinein. Dann stand er da und beobachtete aufmerksam, wie der breitschultrige Bursche beim Licht der Laterne Nechljudows Stiefel mit einem Span von dem anhaftenden Schmutze säuberte. Hinter dem Pfahlwerk ließ sich der Lärm von männlichen und weiblichen Stimmen vernehmen. Drei Minuten später hörte man das Klirren des eisernen Schlosses, das Pförtchen öffnete sich, und aus dem Dunkel trat der Korporal, den Mantel leicht um die Schultern gehängt, in das Licht der Laterne und fragte, was los sei. Nechljudow übergab ihm seine Karte, auf der er bereits vorher sein Anliegen niedergeschrieben hatte, und ersuchte ihn, sie dem Eskorteoffizier einzuhändigen. Der Korporal war zwar weniger streng als der Posten, dafür aber ungewöhnlich neugierig. Er wollte unbedingt wissen, weshalb Nechljudow den Offizier sprechen wolle, und wer er sei. Er witterte augenscheinlich eine Beute, die er sich nicht entgehen lassen wollte. Nechljudow sagte, es handle sich um eine ganz besondere Sache, er würde sich ihm schon erkenntlich zeigen, und bat ihn nochmals, die Karte zu übergeben. Der Korporal nahm die Karte, nickte mit dem Kopfe und ging fort. Bald darauf klirrte das Schloß an dem Pförtchen von neuem, und aus diesem trat eine Anzahl von Frauen mit Körben, Rindengefäßen, irdenen Töpfen und Säcken heraus. In ihrer eigentümlichen sibirischen Mundart plaudernd, kamen sie über die Schwelle des Pförtchens. Sie waren alle in städtischer Tracht, in Paletots und Pelzen; die Röcke hatten sie hoch aufgeschürzt und die Köpfe mit Tüchern umbunden. Neugierig betrachteten sie Nechljudow und seinen Führer beim Scheine der Laterne. Eine von ihnen war augenscheinlich sehr erfreut über die Begegnung mit dem breitschultrigen Burschen und begrüßte ihn sogleich mit einem kräftigen sibirischen Schimpfwort.

»Heda, du Waldteufel, daß dich die Pest hole – was machst du denn hier?« wandte sie sich an ihn.

»Einen Reisenden hab' ich herbegleitet,« antwortete der Bursche. »Und was hast du denn hergebracht?«

»Allerhand Fleischware, morgen früh wollen sie noch mehr haben.«

»Und zur Nacht wollten sie dich nicht behalten?« fragte der Bursche.

»Ich werde dich gleich lehren, du Schandmaul!« schrie sie lachend. »Komm mit ins Dorf, begleit' uns!«

Der Führer sagte noch irgend etwas, was nicht nur die Frauen, sondern auch den Posten zu lautem Lachen reizte, und wandte sich dann an Nechljudow:

»Wie ist's, werden Sie allein zurückfinden? Werden Sie sich nicht verlaufen?«

»Nein, nein, ich finde schon zurück.«

»Sobald Sie an der Kirche vorüber sind, ist's gleich rechts das zweite Haus, hinter dem zweistöckigen. Da, nehmen Sie den Stecken hier,« sagte er und übergab Nechljudow seinen langen Stock, der ihm bis über den Kopf reichte. Dann verschwand er, mit den riesigen Stiefeln mitten in den Kot hineinpatschend, samt den Weibern im Dunkel. Seine Stimme, wie auch das Geschwätz der Frauen, war noch aus dem Nebel zu vernehmen, als das Schloß an dem Pförtchen schon wieder rasselte und der Korporal herauskam, um Nechljudow zu dem Offizier zu geleiten.


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