Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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11.

Jedermann hatte an der allgemeinen Unterhaltung teil genommen, mit Ausnahme von Kity und Lewin. Als man anfangs von dem Einfluß sprach, den ein Volk auf das andere habe, kam Lewin unwillkürlich das in den Kopf, was er über den Gegenstand zu sagen hatte; aber diese Ideen, welche für ihn früher so wichtig gewesen waren, schimmerten jetzt nur noch wie Traumbilder in seinem Kopf und hatten auch nicht das geringste Interesse mehr für ihn. Es schien ihm sogar seltsam, weshalb die Leute hier sich so emsig mühten, über etwas zu reden, was niemand nützen konnte. Für Kity hätte doch ganz ebenso, wie es schien, das was man über die Rechte und die Bildung der Frauen sprach, von Interesse sein müssen; wie oft hatte sie darüber nachgesonnen, wenn sie ihrer Freundin Warenka im Ausland gedachte, und an deren drückende Abhängigkeit; wie oft hatte sie selbst daran gedacht, was mit ihr geschehen würde, wenn sie nicht heiratete und wie oft hatte sie hierüber mit der Schwester gestritten. Jetzt aber interessierte sie dies nicht im geringsten mehr. Sie hatte ihre eigene Unterhaltung mit Lewin, nicht eine eigentliche Unterhaltung, sondern eine gewisse geheime Korrespondenz, die beide mit jeder Minute mehr näherte und in ihnen die Empfindung eines süßen Erschreckens vor dem noch Unbekannten, in das sie eintraten, erzeugte.

Lewin erzählte zuerst auf die Frage Kitys, wie er sie im vergangenen Jahre hätte im Wagen sehen können, da er von der Heuernte gekommen und ihr auf der Landstraße begegnet sei.

»Es war früh, sehr früh am Morgen und Ihr waret wohl so eben erwacht. Maman schlief noch in ihrer Ecke. Es war ein wundervoller Morgen. Ich ging und dachte, wer mag denn das sein, dort im Wagen. Eine herrliche Tschetwjorka mit Schellen; – in einem Augenblick kamet Ihr vorüber; ich sah durch das Fenster – da saßet Ihr, mit beiden Händen die Bänder des Häubchens haltend und schienet über irgend Etwas in tiefem Nachdenken zu sein,« erzählte er lächelnd. »Wie gern wüßte ich, woran Ihr damals gedacht habt. An etwas Wichtiges?«

»Sollte ich nicht sehr unordentlich ausgesehen haben?« dachte Kity; als sie indessen das entzückte Lächeln gewahrte, welches die Erinnerung an diese Einzelheiten auf seinen Zügen hervorrief, da empfand sie, daß im Gegenteil der Eindruck, den sie hervorgebracht, nur ein sehr guter gewesen sei. Sie errötete und lächelte freudig.

»Ich entsinne mich wirklich nicht mehr.«

»Wie herzlich lacht doch dieser Turowzin!« sagte Lewin, freundlich dessen feuchtschimmernde Augen und den sich schüttelnden Körper betrachtend.

»Ihr kennt ihn seit langem?« frug Kity.

»Wer sollte ihn nicht kennen?«

»Ich sehe, daß Ihr glaubt, er sei ein garstiger Mensch.«

»Nicht schlecht; aber unbedeutend.«

»Das ist nicht wahr! Und Ihr dürft fortan nicht mehr so über ihn denken;« sagte Kity, »ich selbst hegte nur eine sehr geringe Meinung von ihm, aber er ist ein äußerst lieber und wunderbar gutmütiger Mensch. Sein Herz ist – wie Gold.« –

»Wie habt Ihr denn sein Herz erkennen können?«

»Ich bin mit ihm sehr befreundet und kenne ihn recht gut. Im vergangenen Sommer, bald darnach, als Ihr bei uns gewesen waret,« sagte sie mit schuldbewußtem und zugleich treuherzigem Lächeln, »lagen bei Dolly sämtliche Kinder am Scharlach darnieder und da hat er sie doch besucht. Und stellt Euch vor,« sprach sie flüsternd, »so sehr hat sie ihm leid gethan, daß er dort geblieben ist und ihr in der Pflege der Kinder beigestanden hat! Ja; drei Wochen hat er so bei uns verlebt und ist wie eine gute Wärterin mit den Kindern gewesen. – Ich erzähle Konstantin Dmitritsch von Turowzin beim Scharlachfieber,« sagte sie, sich nach ihrer Schwester hinbeugend.

»Ja; das war wunderbar, reizend!« versetzte Dolly, nach Turowzin schauend und diesem freundlich zulächelnd, welcher merkte, daß man von ihm sprach. Lewin blickte noch einmal nach Turowzin und geriet in Erstaunen, daß er vorher nicht all den Reiz dieses Mannes wahrgenommen hatte.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber ich werde niemals wieder übel über die Menschen denken,« sagte er alsdann heiter, und sprach dabei aufrichtig aus, was er jetzt fühlte.


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