Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18.

War auch das innere Leben Wronskiys gänzlich ausgefüllt von seiner Leidenschaft, so floß sein äußeres Leben unverändert und ungehindert in den alten gewohnten Geleisen der gesellschaftlichen und militärischen Beziehungen und Interessen dahin.

Die Interessen seines Regiments bildeten in Wronskiys Leben ein wichtiges Gebiet, sowohl deshalb, weil er sein Regiment liebte, als noch mehr deshalb, weil man ihn selbst liebte im Regiment.

Man liebte Wronskiy nicht nur im Regiment, sondern man achtete ihn auch und war stolz auf ihn daselbst, man brüstete sich damit, daß dieser Mann, so ungeheuer reich, mit so vorzüglicher Bildung und Fähigkeiten, so augenscheinlicher Prädestination für Carriere, Ehrgeiz und Ehrsucht, gleichwohl alles dies hintenansetzte, und von allen Interessen des Lebens, diejenigen seines Regiments und seiner Kameraden seinem Herzen am nächsten stellte.

Wronskiy kannte diese Meinung der Kameraden über ihn, und nicht genug daß er ein solches Leben liebte, fühlte er sich auch verpflichtet, jene Ansichten über ihn stets zu rechtfertigen.

Es versteht sich von selbst, daß er mit keinem seiner Kameraden von seiner Liebe gesprochen hatte; selbst in den wüstesten Gelagen that er es nicht – übrigens war er auch nie bis zu dem Grade berauscht, daß er die Beherrschung seiner selbst verloren hätte – und verstopfte den Leichtfertigen unter seinen Kameraden den Mund, welche es versuchten, auf sein Liebesverhältnis anzuspielen.

Dessen ungeachtet war dieses Verhältnis in der ganzen Hauptstadt bekannt, und jedermann wußte mehr oder weniger genau über seine Beziehungen zur Karenina zu sprechen.

Die Mehrzahl der jungen Männer beneidete ihn namentlich um das, was gerade das Schwerwiegendste in dieser Liebe war – um die hohe Stellung Karenins und daher um die Bloßstellung der Liebschaft vor der Welt.

Die Mehrzahl der jungen Frauen welche Anna mißgünstig waren, weil es ihnen schon längst unangenehm gewesen war, daß man sie »die Tugendhafte« nannte, freute sich nun auf das, was sie voraussahen. Man wartete lediglich auf den Umschlag in der gesellschaftlichen Meinung, um über sie mit der ganzen Wucht der Verachtung herfallen zu können.

Sie häuften gleichsam jene Haufen von Unrat auf, mit denen man sie werfen wollte, sobald die Zeit dazu gekommen sein würde.

Die Mehrzahl der älteren Leute endlich und die Hochgestellten waren ungehalten über diesen gesellschaftlichen Skandal, der sich hier vorbereitete.

Die Mutter Wronskiys, welche von dem Verhältnis erfahren hatte, war anfänglich nicht ungehalten darüber; einmal deshalb, weil nichts einem jungen vornehmen Manne nach ihren Begriffen den letzten Schliff so verlieh, als eine Konnexion in der höchsten Sphäre, dann aber auch deshalb, weil die Karenina, die ihr so sehr gefallen hatte und so viel von ihrem Söhnchen sprach, ganz und gar ein Weib war wie es alle schönen und echten Weiber sind – nach den Begriffen der Gräfin Wronskaja.

In letzter Zeit aber hatte sie nun erfahren, daß ihr Sohn eine ihm angetragene, für seine Carriere wichtige Stellung nur deshalb ausgeschlagen hatte, um bei seinem Regimente bleiben zu können, wo er die Karenina sehen konnte; sie hatte erfahren, daß deswegen hochgestellte Personen mit ihm unzufrieden waren – und sie änderte infolge dessen ihre Meinung.

Ihr gefiel auch nicht, daß es sich nach alledem, was sie über diese Liaison erfuhr, hier nicht um eine glänzende, feinsinnige Konnexion in der großen Welt handelte, wie sie sie gebilligt haben würde, sondern um eine Art verzweifelter Wertherscher Leidenschaft, wie man ihr erzählte, die ihn leicht zu Thorheiten hinreißen konnte.

Sie hatte ihren Sohn seit dessen unvermuteter Abreise von Moskau nicht wieder gesehen und ihn durch ihren ältesten Sohn ersuchen lassen, einmal zu ihr zu kommen. Der älteste Bruder war gleichfalls ungehalten über den jüngeren. Er machte keinen Unterschied, um was für eine Liebe es sich hier handelte, ob um eine große oder kleine, eine leidenschaftliche oder nicht leidenschaftliche, eine lasterhafte oder nicht lasterhafte – er selbst, obwohl er Kinder hatte, hielt sich eine Balleteuse und war infolge dessen sehr nachsichtig für ähnliche Dinge – aber er wußte, daß es sich hier um ein Liebesverhältnis handelte, welches denen nicht gefiel, denen man gefallen sollte, und deshalb tadelte er die Führung seines Bruders.

Außer der Beschäftigung mit dem Dienst und der Welt hatte Wronskiy noch eine weitere Zerstreuung in den Pferden; er war ein leidenschaftlicher Pferdeliebhaber.

Im laufenden Jahre sollten Offiziersrennen mit Hindernissen abgehalten werden. Wronskiy hatte sich mit zu den Rennen angemeldet, eine englische Vollblutstute angekauft und war jetzt, ungeachtet seiner Liebe, leidenschaftlich, wenn auch zurückhaltend, für die bevorstehenden Rennen eingenommen.

Diese beiden Leidenschaften störten sich also gegenseitig nicht. Im Gegenteil, er bedurfte einer Beschäftigung und Zerstreuung, die unabhängig von seiner Liebe war und an welcher er sich daher erfrischen und von den allzu mächtigen Eindrücken wieder erholen konnte.


 << zurück weiter >>