Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.

»Kity schreibt mir, daß sie nichts so sehr ersehne, als Einsamkeit und Ruhe,« sagte Dolly, nach einer eingetretenen Pause.

»Wie steht es denn mit ihrer Gesundheit, ist sie besser?« frug Lewin in Erregung.

»Gott sei Dank, sie ist vollkommen wiederhergestellt; ich habe überhaupt nie geglaubt, daß sie ein Brustleiden gehabt hätte.«

»Ach, das freut mich außerordentlich,« antwortete Lewin, und Dolly schien etwas Rührung Erweckendes, Hilfloses in seinen Zügen hervortreten zu sehen, als er dies gesagt hatte und sie nun schweigend anblickte.

»Hört doch einmal, Konstantin Dmitritsch,« begann Darja Aleksandrowna mit ihrem gutmütigen, ein wenig schelmischen Lächeln, »weshalb seid Ihr denn eigentlich auf Kity bös!«

»Ich? Ich zürne ihr nicht,« antwortete Lewin.

»Nein, Ihr zürnt ihr nicht? Weshalb seid Ihr denn dann weder zu uns, noch zu Kitys Eltern gekommen, als Ihr in Petersburg wäret?«

»Darja Aleksandrowna,« begann Lewin, bis in die Haarwurzeln errötend, »ich bin eigentlich in Verwunderung darüber, daß Ihr, mit Eurer Herzensgüte, dies nicht fühlt. Wie kommt es, daß Ihr nicht geradezu Mitleid mit mir empfindet, da Ihr doch wißt« –

»Was soll ich wissen?«

»Nun, daß ich ihr einen Antrag gemacht habe und eine Absage erhielt,« fuhr Lewin fort, und all die zarte Neigung, die er noch eine Minute zuvor für Kity empfunden hatte, verwandelte sich in seiner Seele zu einem Gefühl von Zorn über jene Kränkung.

»Woraus schließt Ihr, daß ich dies wissen müsse?«

»Daraus, weil es alle wissen.«

»Aber darin irrt Ihr; ich habe es nicht gewußt, wenngleich ich es vermutete.«

»Nun, so wißt Ihr es doch jetzt.«

»Ich wußte bisher nur das Eine, daß Etwas vorhanden war, was Kity entsetzlich quälte und daß diese mich bat, niemals hiervon zu sprechen. Wenn sie aber mit mir über die Sache selbst nicht gesprochen hat, so hat sie noch mit niemand darüber gesprochen. Doch was hattet Ihr? sagt mir's doch!«

»Ich habe Euch gesagt, was geschehen ist.«

»Wann geschah denn das Unglück?«

»Als ich das letzte Mal bei Euch war.«

»Wisset, ich muß Euch etwas sagen,« fuhr Darja Aleksandrowna fort, »Kity thut mir ganz außerordentlich leid! Ihr leidet nur aus Stolz« –

»Mag sein,« sagte Lewin, »doch« –

Sie schnitt ihm das Wort ab.

– »Doch die Arme thut mir ganz ungeheuer leid. Jetzt weiß ich alles.«

»Nun, Darja Aleksandrowna, Ihr entschuldigt mich wohl,« sagte Lewin, sich erhebend, »verzeiht, und – auf Wiedersehen.«

»Nein, nein, bleibt noch,« antwortete sie, ihn am Rockärmel fassend. »Bleibet und setzt Euch!«

»Aber ich bitte tausendmal, daß wir dann nicht mehr von jenem Thema sprechen,« bat er, sich setzend mit einer Empfindung, als rege sich und lebe in seinem Herzen eine Hoffnung wieder auf, die ihm längst begraben geschienen.

»Wenn ich Euch nicht lieb hätte,« fuhr Darja Aleksandrowna fort und die Thränen traten ihr dabei in die Augen, »und wenn ich Euch nicht kennte, wie ich Euch kenne,« –

Das scheinbar erstorben gewesene Gefühl regte sich mehr und mehr wieder in ihm, es wallte empor und nahm von dem Herzen Lewins Besitz.

»Ja, jetzt verstehe ich alles,« fuhr Darja Aleksandrowna fort, »Ihr freilich könnt es nicht begreifen; ihr Männer, die ihr frei seid und wählt, seid stets im klaren, wen ihr liebt. Aber das Mädchen in seiner Stellung als Erwartende, mit seinem weiblichen, mädchenhaften Schamgefühl, das Mädchen, welches euch, die Männerwelt nur aus der Ferne sieht, nimmt alles auf Treu und Glauben hin. Das Mädchen besitzt vielleicht sogar das Gefühl, daß sie nicht weiß was sie sagen soll.«

»Wenn das Herz nicht spricht, allerdings« –

»O, das Herz spricht wohl, aber bedenkt doch: Ihr Männer habt das Anschauen der Mädchen, ihr kommt in deren Familien, ihr nähert euch ihnen, durchschaut sie, und prüft sie, ob ihr in ihnen das findet, was ihr liebt und dann, nachdem ihr euch überzeugt habt, daß ihr liebt, macht ihr eine Erklärung« –

»Nun; ganz so ist es denn doch nicht.«

»Gleichviel; ihr kommt mit eurem Antrag, sobald eure Liebe reif geworden ist, oder wenn sich zwischen zwei Auserwählten ein Übergewicht eingestellt hat. Das Mädchen aber fragt man nicht. Man verlangt, daß es selbst wähle, aber es kann gar nicht wählen, sondern nur antworten, – ja oder nein.«

»So war es mit der Wahl zwischen mir und Wronskiy,« dachte Lewin und jener totgeglaubte Gedanke in ihm, der wieder aufgelebt war, erstarb von neuem und preßte ihm nur noch qualvoll das Herz.

»Darja Aleksandrowna,« begann er, »so wählt man wohl ein Kleid, oder ich weiß nicht was sonst für ein Kaufstück, aber nicht unsere Liebe. Ist hier die Wahl einmal geschehen, so ist es um so besser, eine Wiederholung giebt es nicht.«

»O, Stolz über Stolz,« sagte Darja Aleksandrowna, Lewin fast geringschätzend ob der Niedrigkeit seines Gefühls, im Vergleich mit demjenigen wie es nur die Frauen kennen. »Zur nämlichen Zeit, als Ihr Kity Eure Erklärung machtet, befand sie sich in jener Lage, in welcher sie keine Antwort erteilen konnte. Sie befand sich im Zustande der Unentschiedenheit, sollte sie sich für Euch oder für Wronskiy entscheiden. Ihn hatte sie täglich gesehen, Euch lange Zeit nicht. Gesetzt nun, sie wäre älter gewesen, hätte für mich an ihrer Stelle zum Beispiel kein Zweifel obwalten können. Jener Wronskiy ist mir stets zuwider gewesen, und demgemäß ist es auch gekommen.«

Lewin vergegenwärtigte sich die Antwort Kitys. Sie hatte gesagt: »nein, es kann nicht sein.«

»Darja Aleksandrowna,« begann er trockenen Tones, »ich schätze Euer Vertrauen zu mir, aber ich glaube, Ihr irrt. Mag ich indessen recht oder unrecht haben, dieser Stolz, den Ihr so an mir verachtet, bringt es mit sich, daß in mir jeder Gedanke an Katharina Aleksandrowna unmöglich geworden ist, Ihr versteht gewiß, vollständig unmöglich.«

»Ich will hierauf nur das Eine noch bemerken. Ihr versteht wohl, daß ich von meiner Schwester spreche die ich liebe, wie meine eigenen Kinder. Ich sage nicht, daß sie Euch geliebt hätte, ich wollte nur andeuten, daß ihre Abweisung damals gar nichts beweist.«

»Ich weiß das nicht,« antwortete Lewin aufspringend, »aber wüßtet Ihr nur, wie weh Ihr mir thut! Die Sache ist ebenso, wie wenn Euch ein Kind gestorben wäre, und man zu Euch spräche, so ist es nun dahin, es war so schön, und hätte leben können und Ihr hättet Freude an ihm gehabt – aber es ist tot – tot – tot« –

»Wie seid Ihr doch seltsam,« antwortete Darja Aleksandrowna, mit trübem Spott auf Lewins Bewegung blickend. »Ich verstehe jetzt immer mehr und mehr,« fuhr sie in Gedanken versunken fort. »Ihr kommt also wohl nicht zu uns, wenn Kity hier sein wird?«

»Nein. Ich werde nicht kommen. Natürlich kann ich Katharina Aleksandrowna nicht aus dem Wege gehen, aber, wo ich kann, werde ich mich bemühen, sie von dem Unangenehmen meiner Gegenwart zu entheben.«

»Ihr seid sehr, sehr seltsam,« wiederholte Darja Aleksandrowna, ihm voll Herzlichkeit ins Gesicht schauend. »Nun gut; thun wir also, als hätten wir nicht hiervon gesprochen. – Weshalb kommst du denn zu mir, Tanja?« frug Darja Aleksandrowna auf französisch ihr eintretendes Töchterchen.

»Wo ist meine Schaufel, Mama?« frug dasselbe russisch.

»Ich spreche französisch, also sprich du auch so!«

Das Kind hatte wohl französisch sprechen wollen, aber vergessen, wie Schaufel französisch heiße. Die Mutter half ihr ein und sagte ihr dann in französischer Sprache, wo sie die Schaufel suchen könne.

Auch dies erschien Lewin unangenehm. Alles überhaupt erschien ihm jetzt im Hause Darja Aleksandrownas nicht mehr so freundlich, als vorher.

»Zu welchem Zwecke spricht sie mit den Kindern französisch?« dachte er bei sich, »wie unnatürlich und falsch ist das. Sogar die Kinder fühlen es; sie erlernen das Französische und verlernen die Wahrheit,« so dachte er bei sich, ohne zu ahnen, daß Darja Aleksandrowna ganz das Nämliche wohl schon zwanzigmal gedacht, aber es gleichwohl, wenn auch der Wahrheit zum Schaden, für unbedingt nötig befunden hatte, ihre Kinder auf diese Weise zu erziehen.

»Aber wo wollt Ihr schon hin? Bleibt doch noch ein wenig.«

Lewin blieb noch bis zum Thee, aber seine heitere Stimmung war ganz dahin und es wurde ihm unbehaglich. Nach dem Thee begab er sich in das Vorzimmer, um Befehl zum Vorfahren zu geben; als er zurückkehrte, fand er Darja Aleksandrowna in hoher Erregung, mit verzweifelten Mienen, und Thränen in den Augen. Während er aus dem Salon gegangen war, hatte sich etwas ereignet, was plötzlich all ihre Glückseligkeit vom heutigen Tage, all ihren Stolz über ihre Kinder zu nichte machte – Grischa und Tanja hatten eine Rauferei miteinander gehabt.

Darja Aleksandrowna, das Geschrei in der Kinderstube vernehmend, lief hinaus und traf beide in einer entsetzlichen Verfassung.

Tanja hatte Grischa an den Haaren gepackt, während dieser mit wutverzerrtem Gesichte jene mit den Fäusten schlug, wohin er traf. Es schnitt Darja Aleksandrowna durchs Herz, als sie diese Scene gewahrte, gleichsam eine finstere Macht schien sich über ihr Leben zu bewegen. Sie erkannte, daß dieselben Kinder, auf die sie so stolz gewesen, nicht nur die außergewöhnlichsten waren, sondern sogar schlechte, übelerzogene Kinder mit rohen, brutalen Anlagen – ungezogene Rangen. –

Sie vermochte jetzt von nichts weiter mehr zu reden, an nichts mehr zu denken, konnte auch Lewin nicht ihr Unglück erzählen.

Lewin gewahrte, daß sie unglücklich war und bemühte sich, sie zu trösten, indem er sagte, daß ein solcher Vorfall noch nichts Schlechtes bedeute und alle Kinder doch miteinander rauften. Bei sich selbst aber dachte er, »ich würde niemals mit meinen Kindern französisch sprechen und dürfte auch derartige Kinder gar nicht haben. Die Kinder dürfen nur nicht mit Geflissentlichkeit verdorben und verbildet werden, dann bleiben sie vorzüglich. Und ich werde solche verbildete Kinder nie haben.«

Er verabschiedete sich und fuhr davon; sie hielt ihn jetzt nicht mehr zurück.


 << zurück weiter >>