Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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5.

Nach dem Frühstück kam Lewin nicht wieder an seinem früheren Platz in der Reihe, sondern zwischen einen launigen Alten, der ihn in seine Nachbarschaft gebeten hatte, und einen jungen Bauern, der erst seit dem Herbst verheiratet und das erste Jahr mit Heumähen gegangen war.

Der Alte ging in aufrechter Haltung voran, gleichmäßig die gespreizten Beine vorwärts setzend und in ruhiger Bewegung, die bei ihm offenbar nicht mehr Arbeit war, als vielmehr eine Bewegung mit den Armen im Gehen, – wie spielend ganz allein eine hochgewachsene Reihe niederstreckend, als ob nicht er, sondern nur seine haarscharfe Sense in das saftige Gras schnitte.

Hinter Lewin schritt der junge Mischka. Das freundliche, jugendliche Gesicht desselben, mit den von frischem Gras umwundenen Haaren, arbeitete selbst mit vor Anstrengung, aber sobald ihn einer anblickte, lächelte er. Offenbar war er bereit, lieber zu sterben, als einzugestehen, daß es ihm sauer werde.

Lewin ging zwischen den beiden; gerade in der höchsten Hitze erschien ihm das Mähen nicht so anstrengend. Der Schweiß, welcher ihn überströmte, kühlte ihn, die Sonne, welche auf seinen Rücken, seinen Kopf und den bis zum Ellbogen entblößten Arm brannte, verlieh ihm Kraft und Ausdauer in der Arbeit; öfter und öfter kamen jene Minuten des Zustandes der Selbstvergessenheit, in denen man nicht an das zu denken braucht, was man thut.

Die Sense schnitt wie von selbst. Dies waren ihm glückselige Augenblicke. Noch glückseliger aber waren die, wenn der Alte, an den Fluß gelangend, an welchem die Reihen aufhörten, mit dem dichten nassen Grase seine Sense abrieb und ihren Stahl in dem frischen Wasser des Flusses badete, alsdann Wasser zu seinem Preißelbeerschnaps mischte und Lewin damit regalierte.

»Das ist Kwas von mir,« sagte er, »er ist wohl gut?« sagte er und seine Augen zwinkerten dabei.

Und in der That hatte Lewin noch niemals ein solches Getränk gekostet, wie dieses laue Wasser mit dem darauf schwimmenden Grün und seinem rostigen Blechgeschmack von den Preißelsbeeren.

Gleich darauf begann wiederum der langsame Gang, die Hand an der Sense, während dessen man den strömenden Schweiß abwischen konnte, mit voller Brust aufatmete und die weithin sich dehnende ganze Reihe der Schnitter überschaute, wie alles, was sich ringsum, im Walde und auf der Haide, ereignete. Je länger Lewin mähte, um so häufiger wurden die Momente der Selbstvergessenheit, in welcher die Hände schon nicht mehr die Sense schwangen, sondern diese selbst die Hand bewegte, als sei sie ein Ding mit Bewußtsein, ein lebensvoller Körper, und wie durch Zauberei ohne sein eigenes Zuthun, wurde die Arbeit durch sich selbst recht und sorgsam. Dies waren für ihn die schönsten Augenblicke.

Schwierig aber wurde die Sache dann, wenn man diese unbewußt gewordene Bewegung zu regeln hatte und denken mußte, wenn es galt, über einen Maulwurfshügel oder einen Fleck mit nichtgejätetem Sauerampfer zu mähen.

Der Alte vollbrachte dies mit Leichtigkeit. Kam ein solcher Erdhaufen, so veränderte er seine Bewegung und wo sein Absatz war, mit dem Ende der Sense, da umschnitt er denselben von beiden Seiten mit kleinen kurzen Streichen. Indem er dies aber that, schaute er vorsichtig auf und beobachtete alles, was sich vor ihm im Grase zeigte. Bald nahm er einen kleinen Pilz auf und verspeiste ihn, oder gab ihn Lewin zu essen, bald beseitigte er mit der Spitze der Sense ein Gestrüpp, bald erblickte er ein Wachtelnest, von welchem erst dicht vor der Schneide die Mutter aufflog, bald fing er eine Schlange, die ihm über den Weg kam und hob sie wie auf eine Gabel gespießt auf der Sense empor, sie Lewin zeigend und dann beiseite schleudernd. Für diesen und den jungen Bauern dahinter, waren diese Bewegungen schwierig. Beide, die nur das Augenmerk auf ihre Bewegungen richten mußten, befanden sich unter dem Zwange der Arbeit und besaßen nicht die Kraft, ihre Bewegungen zu ändern, und zu gleicher Zeit auch zu beobachten, was um sie her vor sich ging.

Lewin merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Hätte man ihn gefragt, wie lange er schon gemäht habe, so würde er geantwortet haben, eine halbe Stunde – und doch war es schon Mittag geworden. Bei dem Anfang einer Reihe lenkte der Alte Lewins Aufmerksamkeit auf einige kleine Mädchen und Knaben, welche von verschiedenen Gegenden, kaum sichtbar, im hohen Grase und auf dem Wege daher auf die Schnitter zukamen. Sie trugen kleine Päckchen in den Händen mit Brot, und mit Tüchern oben zugebundene Schüsseln voll Kwas.

»Da kommen unsere Käferchen herangekrochen!« sagte er, auf die kleinen weisend und unter der hochgehaltenen Hand nach der Sonne hinaufblickend. Noch zwei Reihen wurden zurückgelegt, dann hielt der Alte inne.

»Nun, Herr, wollen wir essen!« sagte er kurz. Er ging zum Flusse, die Schnitter kamen durch die Schwaden zu ihren Röcken, bei denen die Kinder, welche die Mittagsmahlzeit gebracht hatten, ihrer harrend, saßen. Die Landleute sammelten sich – die weiter ab Arbeitenden unter die Wagen, die näher Befindlichen unter einem Gebüsch, welches mit Gras gedeckt worden war.

Lewin setzte sich zu ihnen: er verspürte keine Lust, heimzufahren.

Alle Befangenheit vor dem anwesenden Herrn war längst verschwunden, die Bauern rüsteten sich zu ihrer Mahlzeit. Die einen wuschen sich, die Kleinen badeten im Flusse, andere suchten einen Ort zur Ruhe, lösten die Beutel mit dem Brot und öffneten die Kwasschüsseln.

Der Alte brockte Brot in seine Schüssel, stampfte es mit dem Löffelstiel, goß Preißelsbeersaft darüber, schnitt noch mehr Brot, salzte es und begann hierauf, nach Osten gewendet sein Gebet zu verrichten.

»Nun, Herr, wollt Ihr von meiner Tjurka?« frug er dann, sich auf die Kniee vor seiner Schüssel niederhockend. Die Tjurka war so schmackhaft, daß Lewin es aufgab, heimzureiten um Mittag zu essen. Er speiste mit dem Alten und unterhielt sich mit demselben über dessen häusliche Verhältnisse, an denen er lebendiges Interesse bekundete. Er teilte ihm selbst alle seine eigenen Geschäfte mit, alle Umstände, welche den Alten zu interessieren vermochten. Er fühlte sich diesem viel näher, als seinem Bruder, und lächelte unwillkürlich über die herzliche Neigung, die er zu diesem Greise fühlte. Als dieser sich wieder erhob und abermals gebetet hatte, streckte er sich unter das Gebüsch, sich Gras unter sein Kopfkissen legend; Lewin that das Nämliche und schlief sogleich ein, ungeachtet der klebrigen, zudringlich in der Sonne schwärmenden Fliegen und Käfer, welche sein schweißbedecktes Gesicht und den Körper umschwirrten, um erst wieder aufzuwachen, als die Sonne schon auf der anderen Seite des Strauches stand und ihn stach. Der Alte schlief schon lange nicht mehr; er saß und flocht den Kindern die Zöpfe.

Lewin schaute im Kreise um sich; er erkannte den Ort nicht wieder, so hatte sich alles verändert. Die Wiese in ihrer weiten Ausdehnung war gemäht und glänzte jetzt von einem eigenartigen, neuen Schimmer in ihren schon duftenden Schwaden unter den abendlich schrägfallenden Strahlen der Sonne. Auch um das Gebüsch und am Flusse war gemäht, und dieser selbst, der vorher nicht sichtbar gewesen war, glänzte jetzt wie Stahl mit seinen Windungen; er sah das sich regende, sich erhebende Volk der Mäher, die steile Wand des noch nicht geschnittenen Grasbestandes der Wiese, die Habichte, die sich über der entblößten Fläche tummelten – und alles das war ihm neu.

Als er zu sich gekommen war, begann er zu berechnen, wie viel bereits geschnitten war, und wie viel noch am heutigen Tage gearbeitet werden konnte.

Es war für die Zahl von zweiundvierzig Arbeitern ungewöhnlich viel geleistet worden. Eine ganze große Wiese, die sonst wohl von dreißig Sensen in zwei Tagen gemäht wurde, war jetzt schon fertig, und noch nicht geschnitten waren nur die Ecken mit ihren kurzen Reihen. Aber Lewin wünschte heute soviel als möglich zu mähen und war auf die Sonne ungehalten, die sobald schon hinunterging. Er fühlte keine Ermüdung; er wollte nur soviel als möglich und so schnell als möglich arbeiten.

»Nun, wie denkst du, können wir noch den ›Maschkin Werch‹ mähen?« frug er den Alten.

»Wie Gott will; die Sonne steht allerdings nicht mehr hoch. Ein Schnaps wird den wackeren Burschen recht sein.«

Während des Vesperbrotes, als man sich wiederum niedersetzte und einige rauchten, teilte der Alte den Burschen mit, daß noch der »Maschkin Werch« gemäht werden müsse und es Branntwein geben werde.

»Ha, auf das Mähen kommt es uns nicht an! Ans Zeug, Tit! Wir wollen schon schwingen.«

»Wir können zum Abend essen. Also ans Werk!« vernahm man mehrere Stimmen und den letzten Bissen kauend, gingen die Mäher wieder an die Arbeit.

»Haltet euch dazu, Jungen!« rief der alte Tit, fast im Trabe den übrigen vorangehend.

»Geh zu, geh zu!« rief der Alte, ihm folgend und ihn leicht antreibend, »oder ich schneide zu – hüte dich!« –

Die Jungen und die Alten mähten nun gleichsam um die Wette, aber so sehr sie sich auch sputeten, sie verdarben keine Reihe und die Schwaden fielen glatt und sorgfältig. Ein Winkel in der Ecke war in fünf Minuten fertig; und die hinteren Mäher gingen noch in den Reihen, als die vorderen bereits ihre Röcke über die Schultern warfen und über den Weg hinweg nach dem »Maschkin Werch« gingen.

Die Sonne senkte sich bereits über die Dörfer, als sie an die Waldschlucht, welche »Maschkin Werch« hieß, gelangten. Das Gras in der Mitte des Hohlweges stand bis an den Gürtel hoch, es war zart, weich und saftig, hier und da von Vergißmeinnicht durchsetzt.

Nach einer kurzen Beratung, ob man längs oder quer mähen solle, ging Prochor Jermilin, ebenfalls ein berühmter Mäher, ein außerordentlich großer, schwarzer Mann voran. Er ging einen Schwaden ab und begann zu mähen. Die übrigen thaten es ihm nach; die einen nach dem Berge hin in der Schlucht schreitend, die anderen auf den Abhang hinauf bis dicht an den Wald.

Die Sonne sank hinter dem Walde, der Thau begann schon zu fallen, und nur auf der Anhöhe waren die Mäher noch in der Sonne, unten aber, wo sich der Nebel erhob und jenseits gingen die Schnitter im frischen duftigen Schatten; die Arbeit war in vollstem Zuge.

Das unter sausendem Geräusch niedergestreckte Gras sank duftend in hohen Reihen und die Schnitter, von allen Seiten sich zu kurzen Zügen zusammendrängend, bald mit den Wetzsteinen klappernd, bald mit den Sensen klirrend, trieben sich unter lustigen Zurufen.

Lewin schritt noch immer zwischen dem jungen Arbeiter und dem Alten. Der letztere, welcher jetzt seine Schafwolljacke angezogen hatte, befand sich ebenfalls in lustiger aufgeräumtester Stimmung und bewegte sich mit voller Lebendigkeit. Im Walde fand man von den Sensen getroffene dicke Birkenschwämme im saftigen Grase. Der Alte bückte sich bei jedem derselben, hob ihn auf, prüfte, und steckte ihn dann in den Brustlatz. »Das ist etwas für meine Alte,« sagte er dabei.

So leicht es auch war, das nasse, dünne Gras mit der Sense zu schneiden, so schwierig war es, an den steilen Abhängen der Schlucht auf- und abzusteigen beim Mähen. Aber den Alten verdroß dies nicht; die Sense stetig schwingend, ging er mit seinen kleinen, festen Schritten, die Füße in den mächtigen Bastschuhen, langsam die Anhöhen hinan und obwohl er dabei vor Anstrengung am ganzen Körper zitterte und die Beinkleider ihm tief herabgerutscht waren, ließ er doch kein einziges Hälmchen, keinen Pilz auf seinem Wege stehen und scherzte dabei mit den Arbeitern und mit Lewin ruhig weiter.

Dieser folgte ihm und dachte oft, er würde sicher stürzen, indem er mit der Sense an einem steilen Hügel hinanstieg, an welchem es schon ohne solche schwierig war, hinaufzukommen. Aber er stieg und that seine Pflicht, und empfand dabei, daß gleichsam eine gewisse äußere Macht mit ihm wirkte.


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