Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Regenguß währte nicht lange Zeit, und als Wronskiy im vollen Trab des Rassepferdes, welches die beiden ohne Zügel beigespannten, im Morast nebenher laufenden Beipferde nach sich zog, ankam, schaute bereits die Sonne wieder hervor und die Dächer der Villen, die alten Linden in den Gärten zu beiden Seiten der Hauptstraße schimmerten in feuchtem Glanze; von den Zweigen tropfte das Wasser lustig hernieder, von den Dächern rann es herab.
Er dachte schon nicht mehr daran, daß dieser Regen die Rennbahn verderben werde, sondern er freute sich darüber, daß er dank diesem Regen sie daheim und allein antreffen würde. Wußte er doch, daß Aleksey Aleksandrowitsch, erst unlängst aus dem Bade zurückgekehrt, noch nicht von Petersburg herübergekommen war.
In der Hoffnung, Anna allein zu finden, stieg Wronskiy wie er dies stets zu thun pflegte, um weniger Aufsehen zu erregen, aus, ohne über das Brückchen vor dem Hause zu fahren, und ging zu Fuß hinein. Er schritt auch nicht von der Straße zur Freitreppe empor, sondern begab sich in den Hof.
»Ist der Herr schon angekommen?« frug er den Gärtner.
»Nein, aber die Herrin ist daheim. Wollt Ihr nicht die Freitreppe hinaufgehen, es sind dort Leute, die Euch öffnen werden,« versetzte der Gärtner.
»Nein, ich will vom Garten aus hineingehen.«
Nachdem er sich so überzeugt hatte, daß sie allein sei, schritt er, im Wunsche sie zu überraschen, da er ihr nicht versprochen hatte, heute zu ihr zu kommen, und sie infolgedessen nicht daran denken konnte, daß er noch vor den Rennen sie besuchen werde, vorsichtig den Säbel aufnehmend über den Sand des Weges der mit Blumen eingesäumt war, zur Terrasse, welche nach dem Parke hinausging.
Wronskiy hatte jetzt alles vergessen, was er unterwegs über die Schwierigkeit und Beengtheit seiner Lage gedacht hatte, er dachte jetzt nur das Eine, daß er sie im nächsten Augenblick schon sehen sollte, und zwar nicht nur im Geiste, sondern in der Wirklichkeit, so wie sie lebte, wie sie war.
Er hatte schon, so leise als möglich, um jedes Geräusch zu vermeiden, die Terrasse betreten, als ihm plötzlich etwas einfiel, was er stets vergessen hatte, das, was den peinlichsten Punkt in seinen Beziehungen zu ihr bildete – ihr Söhnchen mit seinem fragenden, ihm feindselig erscheinenden Blick.
Dieser Knabe war häufiger als alle anderen ein Hindernis in ihrem beiderseitigen Verhältnis gewesen. Wenn er anwesend war, wagte es weder Wronskiy noch Anna, irgend etwas selbst andeutungsweise zu berühren, was sie in Anwesenheit aller nicht hätten berühren können, ja sie gestatteten sich selbst nicht einmal, in Andeutungen zu sprechen, welche der Knabe noch nicht verstehen konnte.
Sie sprachen kein Wort hierüber, und alles wurde, gleichsam als wäre dies selbstverständlich, einfach unterdrückt. Hätten sie es doch für eine Beleidigung der eigenen Person angesehen, wenn sie dieses Kind täuschten und so sprachen sie in seiner Gegenwart nur, wie alte Bekannte eben zu reden pflegen.
Aber ungeachtet dieser Vorsicht, sah Wronskiy dennoch häufig den Blick des Knaben starr, aufmerksam und zweifelnd auf sich gerichtet und fühlte eine seltsame Scheu und Unsicherheit, bald Freundlichkeit, bald Kühle und Beklommenheit in den Beziehungen desselben zu sich.
Es war als ob das Kind es fühlte, daß zwischen diesem Manne und seiner Mutter eine ernste Verbindung bestehe, deren Bedeutung er nur noch nicht zu erkennen vermochte.
In der That fühlte der Knabe, daß er diese geheimen Beziehungen nicht begreifen könnte; er strengte sich an, vermochte aber nicht, sich das Gefühl klar zu machen, welches er diesem Manne gegenüber empfinden mußte.
Mit diesen Ahnungen in der Erklärung jenes Gefühles, erkannte der Knabe recht wohl, wie sein Vater, die Gouvernante, die Amme, alle um ihn herum, Wronskiy nicht nur nicht liebten, sondern vielmehr mit Abscheu und Schrecken nach ihm blickten, obwohl niemand von ihm sprach, sowie, daß seine Mutter ihn wie ihren besten Freund betrachtete.
Was bedeutet das? Wer ist dieser Mann? Wie soll ich ihn lieben? Da ich dies nicht verstehen kann, so bin ich thöricht oder schlecht, dachte das Kind, und hiervon rührte sein forschendes, fragendes, teils feindseliges Benehmen, seine Schüchternheit und Ungleichheit her, die Wronskiy so verlegen machte.
Die Gegenwart dieses Kindes rief stets wieder in Wronskiy jenes seltsame Gefühl unerklärlichen Widerwillens hervor, welches er in der letzten Zeit in sich empfunden hatte. Sie rief in ihm und in Anna ein Gefühl hervor, welches dem eines Seefahrers ähnlich war, der nach dem Kompaß schaut und sieht, daß die Richtung in der er sich schnell vorwärts bewegt, weit von der richtigen abliegt, und daß es doch nicht in seinem Vermögen steht, diese Bewegung zu hemmen, daß ihn dabei jede Minute weiter und weiter mit fortführe und er sich gestehen müsse in dieser Entfernung von der vorgeschriebenen Richtung – das alles gleichgültig sei und man sich in das Verderben fügen müsse.
Dieses Kind mit seinem naiven Blick auf das Leben war der Kompaß, der beiden den Grad ihrer Verirrung von dem zeigte, was sie genau kannten, aber nicht kennen wollten.
Heute war der kleine Sergey nicht zu Haus und Anna war vollständig allein. Sie saß auf der Terrasse, die Rückkehr ihres Kindes erwartend, welches gegangen war, um sich im Freien zu tummeln und Regentropfen zu haschen. Sie hatte einen Diener und eine Zofe es zu suchen geschickt und saß nun wartend allein.
Anna war in eine weiße Robe gekleidet und saß in einer Ecke der Terrasse hinter Blumen, ohne ihn kommen zu hören.
Das schwarzgelockte Haupt neigend, drückte sie die Stirn an die kalte Vase, welche auf dem Geländer stand und hielt sich an derselben mit ihren beiden schönen Händen, an welchen die Ringe staken, die ihm so wohlbekannt waren. Die Schönheit ihrer ganzen Erscheinung, des Hauptes, des Halses, der Hände, überraschte Wronskiy stets von neuem und berührte ihn gleichsam von neuem wie etwas Unerwartetes.
Er stand, voll Entzücken auf sie blickend. Kaum aber wollte er einen Schritt vorwärts thun, um sich ihr zu nähern, da empfand sie seine Nähe, sie ließ die Vase los und wandte ihm ihr glühendes Gesicht zu.
»Was ist Euch, fühlt Ihr Euch nicht wohl?« frug er sie auf französisch, ihr näher tretend. Er wollte auf sie zueilen, warf aber zuvor, indem er sich ins Gedächtnis rief, daß Fremde da sein könnten, einen Blick nach der Balkonthür und errötete, wie er stets errötete, wenn er fühlte, daß er in Furcht und Vorsicht handeln müsse.
»Nein; ich bin gesund,« versetzte sie, sich erhebend und seine dargereichte Hand fest drückend. »Ich erwartete dich nicht« –
»Mein Gott, wie kalt diese Hände sind!« rief er aus.
»Du hast mich erschreckt,« antwortete sie; »ich bin allein und erwarte meinen Sergey; er ist spielend fortgelaufen, sie müssen von hierher kommen.«
Obwohl sie sich bemühte, ruhig zu bleiben, bebten ihre Lippen.
»Verzeiht mir, daß ich gekommen bin, aber ich vermochte den Tag nicht zu verbringen, ohne Euch nur einmal wiederzusehen,« fuhr er französisch fort, wie er stets that, wenn er das unmöglich klingende, kalte russische »Ihr« ebenso wie das gefahrbringende russische »du« umgehen wollte.
»Weshalb verzeihen? Ich freue mich ja!«
»Aber Ihr seid doch unwohl oder verstimmt,« fuhr er fort ohne ihre Hände freizulassen und sich zu ihr herniederbeugend. »Woran dachtet Ihr?«
»Nur immer an Eins,« antwortete sie lächelnd.
Sie sagte damit die Wahrheit. Wenn es auch sein mochte, zu jeder Minute zu der man sie hätte fragen mögen, woran sie denke, konnte sie ohne einen Irrtum befürchten zu müssen, antworten, daß sie nur an das Eine, an ihr Glück und an ihr Unglück, gedacht habe.
Auch jetzt hatte sie daran gedacht, als er zu ihr kam; sie dachte daran, weshalb für die anderen, für Bezzy zum Beispiel – sie kannte deren vor der Welt geheim gehaltenes Verhältnis zu Tuschkewitsch – alles dies so leicht war, für sie selbst aber so qualvoll.
Heute quälte sie dieser Gedanke unter dem Drucke verschiedenartiger Erwägungen ganz besonders. Sie erkundigte sich nach den Rennen, er antwortete ihr, da er wahrnahm, daß sie sich in Aufregung befinde, im Bemühen sie zu zerstreuen und begann ihr in möglichst unbefangenem Tone Einzelheiten über die Anstalten zu den bevorstehenden Rennen zu erzählen.
»Soll ich es sagen oder nicht?« dachte sie hierbei, in seine ruhigen, freundlichen Augen blickend. »Er ist so glücklich, so beschäftigt mit seinen Rennen, daß er nichts verstehen wird, wie es nötig ist, daß er nie die ganze Bedeutung, die dieses Verhältnis für uns hat, erkennen wird.«
»Aber Ihr habt mir noch nicht gesagt, woran Ihr dachtet, als ich eintrat,« fuhr er fort, sein Gespräch abbrechend, »sagt mir es doch, bitte!«
Sie antwortete nicht, sondern blickte nur, den Kopf ein wenig neigend, verstohlen und fragend mit ihren schimmernden Augen unter den langen Wimpern nach ihm empor. Ihre Hand, mit einem abgepflückten Blatte spielend, zitterte. Er gewahrte dies und sein Gesicht drückte wieder jene Ergebenheit, jene knechtische Hingebung aus, die sie dereinst so sehr gewonnen hatte.
»Ich sehe, daß etwas vorgefallen ist. Kann ich aber eine Minute ruhig sein, wenn ich weiß, daß Ihr ein Leid tragt, welches ich nicht teilen soll? Sprecht zu mir, um Gottes willen,« sprach er in beschwörendem Tone.
»Ich würde es ihm nie verzeihen, wenn er nicht die ganze Bedeutung der Sache erfassen könnte. Es ist daher besser, ich spreche gar nicht; weshalb eine solche Probe machen,« dachte sie bei sich selbst, ihn beständig anblickend und fühlend, wie ihre Hand mit dem Blatte mehr und mehr zu zittern begann.
»Bei Gott beschwöre ich Euch,« wiederholte er, ihre Hand ergreifend.
»Soll ich sprechen?«
»Ja, ja!«
»Ich bin gesegnet,« sprach sie leise und langsam.
Das Blatt in ihrer Hand bebte noch stärker, sie aber ließ ihn nicht aus den Augen, um zu ergründen, wie er die Nachricht aufnehme.
Er war bleich geworden, wollte etwas antworten, hielt aber inne. Dann ließ er ihre Hand frei und senkte den Kopf.
»Ja, er hat sie erfaßt, die Bedeutung dieses Ereignisses,« dachte sie und drückte ihm dankbar die Hand.
Aber sie irrte in der Annahme, daß er die Tragweite dieser Nachricht so begriffen hätte wie sie, das Weib, sie erfaßte.
Mit verzehnfachter Macht empfand er bei derselben die Wirkung jenes seltsamen, ihn öfter überkommenden Gefühls des Ekels vor etwas ihm Unbekannten, zugleich aber erkannte er auch, daß jene Krise, die er ersehnt hatte, jetzt herbeikam, daß jetzt vor dem Gatten nichts mehr verheimlicht werden könne und daß es notwendig werde, so oder so, möglichst schnell dieser unnatürlichen Situation ein Ende zu machen.
Nichtsdestoweniger aber teilte sich auch ihm ihre physische Erregung mit. Er schaute mit mildem ergebenen Blick auf sie, küßte ihre Hand, erhob sich und begann langsam auf der Terrasse umherzugehen.
»Ja wohl;« sagte er, entschlossen zu ihr hintretend. »Weder ich noch Ihr haben auf unser Verhältnis so geblickt, daß wir es etwa als Spielerei aufgefaßt hätten. Heute aber hat sich unser Geschick entschieden. Wir müssen unfehlbar ein Ende machen,« sagte er, sich umblickend, »mit dieser Lüge, in der wir leben.«
»Ein Ende machen? Inwiefern denn, Aleksey?« frug sie leise.
Sie hatte sich jetzt beruhigt und ihr Gesicht strahlte in zärtlichem Lächeln.
»Den Mann verlassen und unser Leben vereinigen.«
»Es ist ja ohnehin schon vereinigt,« bemerkte sie kaum vernehmbar.
»Ja, indessen ganz, vollständig muß dies geschehen.«
»Aber wie denn, Aleksey, wie denn, belehre mich doch!« frug sie, mit traurigem Lächeln über die hoffnungslose Verwickelung ihrer Lage. »Giebt es denn einen Ausweg aus solcher Lage? Bin ich nicht das Weib meines Gatten?« –
»Es giebt Auswege aus jeder Lage. Man muß nur einen Entschluß fassen,« sagte er. »Alles wird besser sein, als diese Situation, in welcher du dich befindest. Ich sehe ja, wie du dich mit allem selbst peinigst, mit der Welt, deinem Sohne und deinem Manne.«
»O, nur nicht mit dem Manne,« versetzte sie mit treuherzigem Lächeln. »Ich weiß nichts von ihm und denke seiner nicht. Er ist für mich nicht da.«
»Du sprichst nicht aufrichtig. Ich kenne dich. Du machst dir ein Gewissen über ihn.«
»Aber er weiß es doch nicht,« sagte sie und eine helle Röte stieg ihr plötzlich in das Gesicht; Wangen, Stirn und Hals erröteten und Thränen der Scham traten ihr in die Augen. »Wir wollen nicht mehr von ihm sprechen.«