Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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26.

Swijashskiy war Kreisrichter in seinem Kreis, fünf Jahre älter, als Lewin und schon lange verheiratet. In seinem Hause lebte eine junge Schwägerin, ein junges Mädchen, welches Lewin sehr sympathisch war. Dieser wußte, daß Swijashskiy und dessen Frau das junge Mädchen gar zu gern an ihn verheiratet hätten, er wußte es zweifellos sicher, wie dies gewöhnlich junge Männer wissen, die heiratsfähig genannt werden, obwohl sich noch niemand entschlossen hat, dies zu äußern. Er wußte aber auch, daß er sie, obwohl er heiraten wollte, und allem Anscheine nach das junge, sehr anziehende Mädchen eine vorzügliche Hausfrau werden mußte, ebensowenig ehelichen würde, – selbst, wenn er nicht in Kity Schtscherbazkaya verliebt gewesen wäre, – als man zum Himmel hinauffliegen kann. Diese Erkenntnis verbitterte ihm das Vergnügen, welches er von seinem Besuch bei Swijashskiy zu haben hoffte.

Als Lewin den Brief desselben mit der Einladung zur Jagd erhalten hatte, fiel ihm dies sogleich wieder ein, aber nichtsdestoweniger urteilte er so, daß alle Absichten Swijashskiys auf ihn doch wohl nur auf einer durch nichts begründeten eigenen Mutmaßung beruhten, und er also immerhin zu ihm fahren könne. Überdies jedoch empfand er auf dem Grund seiner Seele ein Gelüst, sich wiederum einmal zu prüfen, sich wieder an diesem jungen Mädchen zu erproben.

Das häusliche Leben der Swijashskiy war ein im höchsten Grade angenehmes; Swijashskiy selbst, der reinste Typus eines Landmanns, den Lewin nur kannte, war für diesen stets außerordentlich interessant.

Swijashskiy war einer von jenen Menschen, die für Lewin ewig wunderbar blieben, deren Urteil zwar sehr logisch, nie aber selbständig war und seinen eigenen Weg ging, während ihr Leben, außerordentlich bestimmt und fest in seiner Richtung, ebenfalls seinen eigenen Weg ging, vollständig unabhängig und fast stets im Widerspruch mit dem Denken.

Swijashskiy war ein außerordentlich liberaldenkender Mensch. Er blickte auf den Adel herab und hielt die Mehrheit desselben auch nur für geheime, von der Knechtschaft nicht lange erst losgekommene Leibeigene. Er hielt Rußland für ein verlorenes Reich nach Art der Türkei und die Regierung des Landes für so schlecht, daß er sich niemals dazu herbeiließ, ihre Maßnahmen auch nur ernst zu prüfen. Gleichzeitig aber diente er amtlich als ein mustergültiger adliger Beamter und setzte unterwegs stets die Mütze mit der Kokarde und dem roten Streif auf.

Er meinte, daß ein menschenwürdiges Dasein nur im Auslande möglich sei, wohin er auch bei jeder Gelegenheit die sich bot, reiste, betrieb aber nichtsdestoweniger in Rußland eine sehr umfangreiche und vervollkommnete Ökonomie. Mit außerordentlichem Interesse verfolgte er alles, und wußte alles, was in Rußland geschah. Den russischen Bauern hielt er für ein Wesen, welches in seiner Entwickelung auf dem Übergangsstadium vom Affen zum Menschen stand, nichtsdestoweniger aber drückte er bei den Kreiswahlen lieber als jedem anderen den Bauern die Hand und hörte ihre Meinungen an. Er glaubte weder an Tod noch an Leben, war aber dennoch sehr besorgt in der Frage der Verbesserung der Lage der Geistlichkeit, und der Verkürzung ihrer Einkünfte, wobei er namentlich die Kirche in seinem Dorfe im Auge hatte.

In der Frauenfrage stand er auf seiten derjenigen, welche die volle Freiheit des Weibes und insbesondere deren Recht auf die Arbeit vertraten, aber er lebte mit seiner Gattin so, daß jedermann ihr gemütvolles, kinderloses Familienleben lieb gewann; und er hatte das Leben seiner Frau so gestaltet, daß sie nichts weiter that, nichts thun konnte, als mit ihrem Manne gemeinsam die Sorge zu teilen, wie sie am besten und angenehmsten die Zeit zubrächten.

Hätte Lewin nicht die Eigenschaft besessen, sich die Menschen nach ihrer besten Seite zu erklären, so würde der Charakter Swijashskiys für ihn keine Schwierigkeiten und keine Fragen offen gelassen haben, er würde sich betreffs derselben einfach gesagt haben: »Er ist entweder ein Narr oder ein Lump« und alles wäre ihm klar gewesen.

Aber er vermochte ihn nicht einen Narren zu nennen, weil Swijashskiy ohne Zweifel nicht nur sehr klug, sondern auch sehr gebildet war und diese Bildung in einer ungewöhnlich natürlichen Weise zur Schau trug.

Es gab nichts, was er nicht kannte, aber er zeigte seine Kenntnis nur dann, wenn er dazu genötigt war. Noch weniger hätte Lewin sagen können, daß er ein Lump sei, weil Swijashskiy ohne Zweifel ein ehrenhafter, guter, verständiger Mann war, welcher heiter und lebenslustig beständig in der Ausübung eines Berufes stand, der von seiner gesamten Umgebung hoch geschätzt wurde, und weil er wahrscheinlich noch niemals bewußt etwas Schlechtes gethan hatte oder hätte thun können.

Lewin bemühte sich, ihn zu verstehen, ohne es dahin zu bringen, und immer wieder schaute er auf ihn und sein Leben, wie auf ein lebendes Rätsel.

Beide Gatten waren befreundet mit Lewin, und dieser hatte sich daher gestattet, Swijashskiy zu prüfen, seine Lebensanschauung bis auf den Grund zu erforschen, allein stets war sein Bemühen vergeblich gewesen. Stets wenn Lewin versuchte, tiefer in die entfernter liegenden Räume des geistigen Bereichs Swijashskiys einzudringen, bemerkte er, daß dieser in eine leichte Verwirrung geriet; ein kaum bemerkbarer Schrecken drückte sich in seinem Blicke aus, gleichsam als ob er fürchtete, Lewin möchte ihn fassen – und er führte in gutmütiger und launiger Weise einen Gegenschlag.

Jetzt, nach seiner Ernüchterung in Sachen der Landwirtschaft, war Lewin ein Besuch bei Swijashskiy ganz besonders willkommen. Nicht nur, daß ihn der Anblick dieses glücklichen, mit sich selbst und allen zufriedenen liebenden Taubenpaares, und ihres wohlgegründeten Nestes in freundlichere Stimmung versetzte, verlangte es ihn, der sich von seinem eigenen Dasein so unbefriedigt fühlte, jetzt auch in Swijashskiy jenes Geheimnis zu ergründen, welches diesem solche Klarheit, Bestimmtheit und Lebenslust verlieh.

Dann aber wußte Lewin auch, daß er bei Swijashskiy benachbarte Gutsbesitzer sehen würde, und es interessierte ihn nun ganz besonders, von der Landwirtschaft zu erfahren und die Gespräche über die Ernte, das Dingen der Feldarbeiter und dergleichen hören zu können, welche ihm, wenn er auch wußte, daß man dies in gewissem Sinne als simpel bezeichnete, jetzt am allerwichtigsten schienen.

»Dies war ja vielleicht nicht nötig unter der Herrschaft des Leibeigenschaftsgesetzes, ist meinetwegen nicht von Bedeutung für England. Für beide Fälle wären Grundgesetze vorhanden; aber jetzt, wo in Rußland alles sich umwälzte, und eben erst zur Ordnung kam, zeigte sich die Frage, wie man mit diesen Grundgesetzen nun auskommen solle, als die einzig wichtige hier,« dachte Lewin.

Die Jagd zeigte sich schlechter, als Lewin erwartet hatte. Die Sümpfe waren ausgetrocknet und Vögel waren gar nicht da. Er strich einen ganzen Tag im Walde und brachte nur drei Stück, dafür aber, wie gewöhnlich von der Jagd, eine ausgezeichnete Eßlust, gute Laune und jenen Zustand geistiger Frische mit, von welchem bei ihm jede starke körperliche Bewegung begleitet war.

Auf der Jagd, während er, wie es schien eigentlich an nichts dachte, fiel ihm gleichwohl jener Alte mit seiner Familie wieder ein, und der empfangene Eindruck forderte von ihm nicht nur Aufmerksamkeit, sondern vielmehr die Ausscheidung von etwas Unbestimmtem, das damit verbunden war.

Am Abend beim Thee entwickelte sich in der Gegenwart zweier Gutsbesitzer, welche in Vormundschaftsgeschäften gekommen waren, das hochinteressante Gespräch, welches Lewin erwartet hatte.

Dieser saß neben der Hausfrau am Theetisch und mußte mit derselben und mit der jungen Schwägerin, welche ihm gegenüber saß, der Unterhaltung pflegen.

Die Hausfrau war ein Weib mit rundem Gesicht, blond und nicht groß; sie erglänzte förmlich mit ihrem Lächeln und ihren Grübchen. Lewin bemühte sich, durch sie die Lösung des ihm so wichtigen Rätsels zu erfahren, das ihr Gatte für ihn bildete; aber er hatte nicht die volle Freiheit seiner Gedanken, weil er sich in einer für ihn qualvoll peinlichen Situation befand. Qualvoll peinlich war sie ihm, weil ihm gegenüber die junge Schwägerin in einer eigens für ihn, wie ihm schien, angelegten Robe saß, mit einem eigenartigen, in Gestalt eines länglichen Vierecks angebrachten Ausschnitt auf der weißen Büste. Dieser viereckige Ausschnitt war es, der abgesehen davon, daß die Brust schneeweiß war – oder gerade eben deswegen, weil sie es war, – Lewin die Freiheit des Denkens raubte.

Er stellte sich vor – wahrscheinlich fälschlich – dieser Ausschnitt da könnte eigens für ihn gemacht sein und hielt sich nicht für berechtigt darauf zu blicken, bemühte sich vielmehr, ihn nicht zu sehen. Er fühlte aber, daß er schon damit sich etwas vorzuwerfen habe, daß der Ausschnitt überhaupt gemacht worden war.

Lewin schien, als täusche er jemand, als müsse er etwas erklären, aber als ginge diese Erklärung nicht gut an, und so kam es, daß er beständig errötete, in Unruhe war und sich in Verlegenheit befand. Seine Verlegenheit aber teilte sich auch der hübschen jungen Schwägerin mit. Die Hausfrau indessen schien das gar nicht zu bemerken, indem sie die Schwägerin absichtlich mit ins Gespräch zog.

»Ihr sagt,« fuhr die Hausfrau in der begonnenen Unterhaltung fort, »daß meinen Mann alles was russisch ist, nicht interessierte. Im Gegenteil, er befindet sich zwar recht wohl im Auslande, aber nirgends doch so, wie hier. Hier erst fühlt er sich ganz in seiner Sphäre. Er hat soviel zu thun und besitzt die Fähigkeit, sich für alles zu interessieren. Ach, waret Ihr noch nicht in unserer Schule?«

»Ich habe sie gesehen. Das Haus ist von Epheu umrankt?«

»Das ist Nastasjas Werk,« antwortete die Hausfrau, auf ihre Schwester weisend.

»Unterrichtet Ihr selbst?« frug Lewin, sich bemühend, an dem viereckigen Ausschnitt vorbeizusehen, und dabei fühlend, daß er, wohin er in dieser Richtung auch blickte, den Ausschnitt sehen müsse.

»Ja, ich habe selbst unterrichtet und unterrichte noch, wir haben aber auch eine gute Lehrerin. Selbst das Turnen wird geübt.«

– »Danke; keinen Thee weiter,« – sagte Lewin, und fühlte, daß er damit eine Unhöflichkeit beging; nicht mehr imstande, die Unterhaltung noch weiterzuführen, erhob er sich errötend. »Ich höre da ein sehr anziehendes Gespräch,« fuhr er fort und trat an das andere Ende des Tisches, an welchem der Hausherr mit den beiden Gutsbesitzern saß.

Swijashskiy saß mit der Seite am Tische, mit der einen aufgestemmten Hand die Tasse führend, mit der anderen seinen Bart in die Hand nehmend, um ihn bis an die Nase zu heben und dann wieder herabzulassen, als ob er daran riechen wollte. Mit seinen blitzenden schwarzen Augen schaute er gerade den einen der Gutsbesitzer, ein Mann mit grauem Schnurrbart, an, welcher in Erregung geraten war, und fand augenscheinlich Belustigung an dessen Rede.

Der Gutsbesitzer beklagte sich über das Volk, und Lewin war es klar, daß Swijashskiy eine Antwort auf diese Klage wisse, die mit einem Schlag den Sinn der ganzen Rede illusorisch machte, daß er aber nur in seiner Situation diese Erwiderung nicht äußern könne und nun nicht ohne Vergnügen den komischen Vortrag des Gutsbesitzers anhören müsse.

Dieser, der Mann im grauen Schnurrbart, war offenbar ein eingefleischter Vertreter der Leibeigenschaft; er war auf dem Dorfe alt geworden und ein leidenschaftlicher Dorfregent. Die Anzeichen hierfür erblickte Lewin schon an seinem Anzug, der nach alter Mode gearbeitet war, in dem abgeschabten Überrock in welchem er sich augenscheinlich nicht behaglich fühlte, und in seinen klugen, zusammengekniffenen Augen, in seiner glatten russischen Rede, in dem selbstbewußten, augenscheinlich durch lange Gewohnheit befehlerisch gewordenen Tone und den energischen Bewegungen seiner großen, geröteten und gebräunten Hände, an denen ein alter Trauring steckte.


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