Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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16.

In allen Zimmern der Villa liefen nun die Hausleute, die Gärtner und Lakaien, Sachen schleppend hin und wieder. Schränke und Kommoden wurden geöffnet, zweimal wurde in die Kaufläden geschickt; auf dem Boden türmte sich Zeitungspapier.

Zwei Koffer, Reisesäcke und zusammengeschnürte Plaids wurden ins Vorzimmer gebracht. Die Equipage und zwei Mietkutscher hielten vor der Treppe.

Anna, welche bei der Arbeit des Einpackens ihre innere Unruhe vergessen hatte, packte, in ihrem Kabinett am Tische stehend, ihren Reisesack, als Annuschka ihre Aufmerksamkeit auf das Geräusch einer heranrollenden Equipage lenkte.

Anna blickte durchs Fenster und sah an der Freitreppe den Kurier Aleksey Aleksandrowitschs, welcher an dem Eingangsthor läutete.

»Geh und erkundige dich, was es giebt,« sagte sie und legte, ruhig und auf alles gefaßt, die Hände gefaltet auf die Kniee, nachdem sie sich in einen Sessel niedergelassen hatte.

Der Diener brachte ihr ein starkes Couvert, welches von der Hand ihres Gatten adressiert war.

»Der Kurier ist beordert, Antwort zu bringen,« meldete er.

»Gut,« versetzte Anna, und riß mit bebenden Fingern, sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, das Schreiben auf. Ein Paket in Bänder eingeklebten glattliegenden Papiergeldes fiel heraus. Sie machte das Schreiben frei und begann es vom Ende her zu lesen.

»Ich habe die Vorbereitungen zur Übersiedelung getroffen und messe der Erfüllung meiner Bitte alles Gewicht bei,« las sie. Sie las weiter, rückwärts, las alles, und dann den ganzen Brief nochmals von Anfang an. Nachdem sie geendet hatte, fühlte sie, daß es ihr kalt war und daß über ihr ein Unglück hereingebrochen sei, so furchtbar, wie sie es nimmermehr erwartet hatte.

Sie hatte am Morgen Reue darüber empfunden, daß sie ihrem Manne alles gestanden hatte und nur das Eine gewünscht, diese Worte möchten nie gesprochen, worden sein. Das Schreiben da erkannte nun ihre Worte als nicht gesprochen an und gab ihr, was sie wünschte. Jetzt aber erschien ihr dasselbe furchtbarer, als alles, was sie sich nur denken konnte.

»Er hat recht, hat recht,« sprach sie, »natürlich, er hat stets recht, er ist ein Christ, er ist großmütig. Ha, ein niedriger, abscheulicher Mensch ist er! Und dies kennt niemand weiter, als ich, niemand erkennt das und wird es je erkennen! Ich selbst vermag das nicht ganz zu erklären. Man sagt, er sei religiös, moralisch, ein ehrenhafter und kluger Mensch, aber man sieht dabei nicht, was ich gesehen habe. Man weiß nicht, wie er acht Jahre hindurch mein Leben erstickt hat, alles erstickt hat, was in mir lebendig gewesen ist, – daß er auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hat, daß ich ein lebendiges Weib bin, das Liebe braucht. Man weiß nicht, daß er mich auf jedem Schritte gekränkt hat und mit sich selbst zufrieden dabei war. Habe ich mich nicht bemüht, mit allen Kräften bemüht, eine Rechtfertigung für mein Dasein zu finden? Habe ich es nicht versucht, ihn zu lieben, seinen Sohn zu lieben, als er selbst schon der Liebe nicht mehr teilhaft werden konnte? Aber die Zeit ist gekommen und ich habe erkannt, daß ich mich nicht länger täuschen kann, daß ich lebe, daß ich nicht schuldig bin, weil Gott mich so geschaffen hat, daß ich lieben und leben muß. Und was ist jetzt? Hätte er mich – und ihn getötet – alles würde ich ertragen, alles verziehen haben, aber mit nichten – er! – Wie konnte ich nur nicht im voraus erraten, was er thun würde? Er thut doch nur, was seinem niederen Charakter eigen ist! Er wird recht behalten, und mich, die Verlorene, mich wird er in noch verhängnisvollerer Weise, noch tiefer stürzen.« – – »Ihr selbst könnt Euch vorstellen, was Eurer und Eures Sohnes harrt,« rief sie sich aus dem Briefe ins Gedächtnis zurück. »Dies ist die Drohung, daß er mir den Sohn nehmen will – und nach ihren thörichten Gesetzen wird das wohl auch möglich sein! Aber weiß ich etwa nicht, weshalb er das sagt? Er glaubt einfach nicht an meine Liebe zu meinem Kinde; oder er verachtet dieses Gefühl in mir – wie er ja stets nur gehöhnt hat, – und dennoch weiß er, daß ich mein Kind nicht aufgebe, nicht aufgeben kann, daß es ohne mein Kind für mich kein Leben giebt, selbst nicht mit demjenigen, den ich liebe, daß ich, sollte ich den Sohn verlassen und von ihm gehen, handeln würde wie das niedrigste abscheulichste Weib. Dies weiß er, aber er weiß auch, daß ich nicht die Kraft habe, das zu vollbringen.« »Unser Leben soll sein wie es früher war,« rief sie sich weiter aus seinem Briefe ins Gedächtnis zurück. »Dieses Leben war ein peinvolles schon früher, es war ein entsetzliches in letzter Zeit. Was soll es da jetzt erst werden? Und er weiß doch das alles, weiß, daß ich nicht Reue darüber empfinden kann, zu atmen und zu lieben; er weiß, daß außer Lüge und Trug nichts aus diesem Leben hervorgehen wird, und dennoch muß er mich weiter foltern. Ich kenne ihn und weiß, daß er sich, so wie der Fisch im Wasser umherschwimmt, an der Lüge ergötzt. Aber nein, ich werde ihm diesen Genuß nicht gewähren, und werde dieses sein Spinnennetz von Heuchelei zerreißen, in welches er mich verstricken will; mag kommen, was da kommen will; alles ist besser, als Lug und Trug! Aber wie, mein Gott, mein Gott, ist denn je auf Erden ein Weib so unglücklich gewesen, wie ich? Nein; ich werde es zerreißen!« schrie sie auf, emporspringend und ihre Thränen zurückdrängend.

Sie trat an ihren Schreibtisch, um ihm einen anderen Brief zu schreiben, aber auf dem Grunde ihres Herzens fühlte sie schon, daß sie nicht die Kraft haben würde, etwas zu zerreißen, nicht die Kraft habe, aus den alten Verhältnissen sich loszuwinden, so erheuchelt und entehrend sie auch waren.

Sie ließ sich an dem Schreibtisch nieder, aber anstatt zu schreiben, faltete sie die Hände auf demselben, legte das Haupt auf sie und brach in Thränen aus, und ihre Brust zuckte und bebte; sie weinte, wie Kinder weinen.

Sie weinte darüber, daß ihr Wahn von einer Abklärung und Bestimmung ihrer Lage auf immer vernichtet war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben würde und noch bei weitem schlimmer werden müsse, als früher. Sie fühlte, daß die Stellung in der Welt, welche sie einnahm, und die ihr heute morgen so nichtig erschienen war, daß ihr diese Stellung wertvoll sei, daß sie nicht die Macht besitze, sie zu verwandeln in die schmachvolle Stellung eines Weibes, welches Mann und Kind verlassen, und sich mit dem Liebhaber verbunden hat, daß sie, soviel sie sich auch anstrengen mochte, nicht mehr Kräfte besaß, als sie eben hatte.

Nie sollte sie die Freiheit der Liebe kennen lernen, sondern für immer ein verbrecherisches Weib bleiben, einer jeden Augenblick drohenden Überführung unterworfen, da sie ihren Gatten hinterging, um ein sündhaftes Verhältnis mit einem unabhängigen Fremden zu unterhalten, mit welchem sie nicht ein geeintes Leben führen darf.

Sie wußte, daß es so kommen würde und dabei wurde es ihr furchtbar zu Mut, daß sie sich nicht vorzustellen vermochte, wie das alles enden sollte. Sie weinte, ohne sich halten zu können; sie weinte, wie gestrafte Kinder weinen.

Schritte des Dieners, welche hörbar wurden, ließen sie zur Besinnung kommen. Indem sie ihr Gesicht bergend zur Seite vor ihm wandte, stellte sie sich als ob sie schriebe.

»Der Kurier bittet um Antwort,« meldete der Diener.

»Antwort? Ja« – sagte Anna Karenina, »er soll warten, ich werde schellen.« –

»Was kann ich schreiben?« sann sie, »was soll ich ganz allein entscheiden? Was weiß ich? Was möchte ich? Was liebe ich?«

Wiederum empfand sie, wie ihre Seele sich zu spalten begann. Sie erschrak von neuem über dieses Gefühl und klammerte sich an den ersten besten Vorwand, nur etwas zu thun, welcher sie von den Gedanken über sie selbst abziehen könnte.

»Ich muß Aleksey sehen,« – so nannte sie Wronskiy in Gedanken, – »er allein kann mir sagen, was ich zu thun habe. Ich will zu Bezzy fahren, vielleicht sehe ich ihn dort,« sagte sie zu sich selbst, vollständig übersehend, daß ihr Wronskiy erst gestern, als sie ihm sagte, sie würde nicht zur Fürstin Twerskaja fahren, geantwortet hatte, dann würde er auch nicht hinkommen.

Sie trat an den Tisch und schrieb an ihren Mann: »Ich habe Euer Schreiben erhalten. A.« – Hierauf schellte sie und übergab den Brief dem Diener.

»Wir werden nicht reisen,« sagte sie der eintretenden Annuschka.

»Gar nicht?«

»Nein, doch packt bis morgen nicht aus und auch der Wagen bleibt. Ich will zur Fürstin!« –

»Welches Kleid befehlen Sie?« –


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