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Im feierlichen Halbdunkel des hohen Lesesaales der Berner Stadtbibliothek saßen viele Wissensdurstige über ihre Bücher gebeugt. Sie verwehrten mit ihren schweren Häuptern den gestrengen Herren Schultheißen, die über der Galerie aus goldenen Rahmen in die Schatzkammern des Wissens hinabschauten, den Blick 289 in die neuere Literatur. In stoischer Ruhe fing zwischen zwei mattglänzenden Himmelsgloben der marmorne Albrecht von Haller das kühle Licht der Novembersonne in seine weißen Stirnfalten auf, und wo die Fenster zu wenig der blassen Strahlen einließen, schimmerten in mystisch dämmernden Winkeln grünbeschirmte Lampen auf die traulich braunen Tischplatten. Dienstbeflissen trug der Bücherwart auf Finkensohlen schweinslederne Folianten und inhaltschwere Büchelchen mit rötlich angelaufener Goldpressung. — Leise, leise. Außer dem Knistern gewendeter Seiten durfte kein Geräusch die heilige Stille unterbrechen, über die unsichtbar das majestätische Eulenauge der Athene wacht.
Plötzlich — als wären sie alle an eine elektrische Leitung angeschlossen gewesen — hoben sich alle Köpfe. Unwillig richteten sich aller Blicke auf eine Tischecke, von der ein schweres Buch klatschend auf den Fußboden gefallen war. Sobald die Aufgestörten den Sünder festgestellt hatten, senkten sie, teils mit verzeihendem Lächeln, teils verärgert, ihre Nasen wieder in die weisheitbefruchteten Furchen ihrer Folianten. Kaum einer saß da, der den Ruhestörer nicht kannte, kaum einer, der ihm nicht verziehen hätte, noch bevor er nach etwa zwei Minuten behutsam wippenden und doch schweren Schrittes den Saal verließ. Es war jener schon nicht mehr junge Student, der, aus Amerika heimgekehrt, seinen Vater gewaltsam aus dem Armenhaus befreit und sich nun mit Feuereifer auf das Studium der 290 Gottesgelehrtheit geworfen hatte. An der ganzen Universität genoß zurzeit kein Mensch soviel Sympathie wie dieser Tillmann. Wer unter den Professoren irgend ein Türschloß unter Händen hatte, sperrte es ihm auf. Erst immatrikuliert, ging er schon dem Ebraicum entgegen. Zu der Achtung, die man dem braven Sohne zollte, kam die Teilnahme wegen der dem Vater geopferten Studienjahre und — ganz besonders bei den Theologen — eine stille Bewunderung für die Lebensreife des jungen Mannes, der unter den Arbeitern des Panamakanals die soziale Frage praktisch studiert hatte.
Diese offenen Arme hatten Heinz Tillmann in das Haus des Pfarrers Jeanmaire geführt. Bei ihm, der dem jungen Mann aus lauter Teilnahme und Bewunderung unentgeltlich Hebräisch-Unterricht angeboten, hatte Heinz sich eingemietet. Eine ideale Bude hatte er in dem alten, sonnseitigen Junkerngaßhause gefunden. Eigentlich war er nicht bei dem Pfarrer, sondern bei dessen Untermieterin im obern Stockwerk, Frau Boß, untergebracht und kam mit dem liebenswürdigen, alten Herrn nur in den Hebräischstunden in Berührung. So hatte es auch geschehen können, daß Heinz erst nach einer Woche einen Hausgenossen entdeckte, der in die ersprießliche Ruhe seines neuen Lebens störend eingriff. Schon in den ersten Tagen zwar hatte er einmal im Dunkel des innern Korridors bei Jeanmaire eine weibliche Gestalt sich bewegen sehen, die ihm ein Rätsel aufgab. Bald darauf war es gelöst. Auf der Treppe 291 war ihm, seinen etwas linkisch ausgefallenen Gruß höflich erwidernd — Lilian Merle begegnet. Blitzschnell hatte ihn die Ahnung einer romantischen Fügung gepackt. Nahte sich ihm in dieser Gestalt der Lohn für seine Bravheit? — Dummer Kerl! schalt er sich. Bravheit! Lohn! Pfui. — Aber was konnte er für das Aufflitzen dieser Vermutungen? Hatte er sie etwa ausgeklügelt?
«Frau Boß», hatte er noch gleichen Abends seine Philisterin zur Rede gestellt, «was ist’s mit der jungen Dame, die drunten bei Pfarrer Jeanmairs ein- und ausgeht?»
In den Augen der Frau Boß flackerte etwas auf. Esel! schalt sich Heinz, konntest du dich nicht enthalten? — Nun hab’ ich natürlich der Alten Neugier geweckt. Aber er ließ sichs nicht anmerken und nahm mit möglichst kaltem Gesicht den Bericht entgegen, das heimat- und elternlose Fräulein sei schon vor Jahren oft hier gewesen, sei vom Pfarrer Jeanmaire konfirmiert worden und nun nach dem Tode seiner Frau zu ihm gezogen, um dem alten Herrn die Haushaltung zu besorgen.
Seit jenen Mitteilungen der Frau Boß war Heinz Tillmann mit der Frage beschäftigt, ob er nicht besser tun würde, eine andere Wohnung zu suchen. Da es ihn aber verdroß, seine Zeit an solches zu verschwenden und er kaum irgendwo eine Behausung finden würde, die ihm besser behagte, so hatte er die Sache rutschen lassen. Heute nun, als er von einer Morgenvorlesung 292 heimgekommen, hatte er auf seinem Tisch ein Billett von Lilians Hand gefunden, worin sie ihn im Auftrag von Pfarrer Jeanmaire zum Abendessen einlud. Er hatte es rasch zu sich gesteckt und in der Bibliothek wieder gelesen, als hätte sich zwischen den harmlosen Zeilen wirklich noch etwas anderes herauslesen lassen. Darob war er in eine nervöse Aufregung geraten und hatte in seiner Zerstreutheit das Buch vom Tisch hinunter gestreift.
Jetzt lief Heinz, die Hände in den Rocktaschen, mit vor Kälte glühendem Gesicht, dem Waldsaume des Bremgartens entlang. Immer von neuem rief er sich die Erlebnisse der letzten Monate ins Gedächtnis, um nachzuprüfen, ob er seine Richtlinie genau innegehalten habe. Dabei durchzuckte sein rückwärts lauschendes Ohr immer von neuem jener Verzweiflungsruf des Vaters: «Nimm dir das Weib deiner Wahl und baue dein Glück!» In der Aufregung des Augenblicks hatte er den Schmerz dieses unbeabsichtigten Dolchstoßes nur wie in einer Betäubung empfunden. Zu seiner vollen Glut entbrannt war dieser Schmerz erst, als Heinz den Vater mit Franz Dengelers Hilfe bei einem braven Bauersmann versorgt hatte. Da — auf dem einsamen Rückweg in die Stadt war ihm das Herz in Bitterkeit versunken. Mit aller Kraft hatte er sich der Anklagen erwehren müssen, die es wider den Vater erhob, der durch seinen Starrsinn und seine unselige Rachsucht ihm den Weg zum Weibe seiner Wahl und zu seinem 293 erkorenen Lebensberuf verlegt. Auf ewig blieb ihm nun die einzige, die mit ihm litt und stritt, versagt. Seinen Lebenszielen nachzugehen freilich fühlte er sich von jener Stunde an frei, und er hatte das einst so heiß ersehnte Studium mit der Freude und dem Ernst ergriffen, wie sie nur aus wahrer Herzensnot erblühen können. Nicht Lust am wissenschaftlichen Streben trieb ihn, sondern der Jammer der Menschen, an dem er so früh und so hart mitgetragen. Für sie wollte Heinz an den Quellen des ewigen Erbarmens schöpfen und aussprengen, soviel er sein Leben lang zu fassen vermochte. Süß war ihm dabei der Gedanke, daß er damit den Wunsch seiner der Last erlegenen Mutter erfüllen konnte.
Warum mußte nun Lilian Merle, die eine der schönsten Erinnerungen seiner Jugend verkörperte, von neuem seinen Weg kreuzen? Sollte er ihr den süßen, trotzig gehegten Schmerz um Antoinette opfern? — Das wäre eine tapfere Selbsternüchterung, ein Stück Reinigung seines Strebens, so mußte sich Heinz sagen, und drum konnte er sich nicht entschließen, ihr von vornherein auszuweichen. Er nahm die Einladung für dies eine Mal an.
Bei der Nachmittagsarbeit ertappte sich Heinz über allerhand Unachtsamkeiten. Eine frohe Ungeduld plagte ihn, und er lächelte über seine wieder erwachende Gymnasianer-Eitelkeit, die ihn nötigte, endlich wieder einmal seinem Äußern Aufmerksamkeit zu schenken.
294 Erleichtert und frohgemut klopfte er abends an die Korridortüre des untern Stockes, ganz dazu aufgelegt, neue, praktische Wege einzuschlagen. Er wurde aufs Liebenswürdigste empfangen, und der Abend verlief unter lebhaften Gesprächen mit andern Studenten für Heinz um so schneller, als er selber zum Gefühl berechtigt war, er sei der Mittelpunkt der Gesellschaft. Die stille Bewunderung seiner Kommilitonen wuchs noch unter dem Eindruck dessen, was er auf immer neue Aufforderung hin von seinen amerikanischen Erlebnissen erzählte. Zu besonderen Gesprächen mit Lilian kam es nicht, doch merkte Heinz, daß er an ihr einen aufmerksamen Zuhörer hatte. Ohne irgendwelche Anknüpfungsversuche gemacht zu haben, fühlten sich die beiden jugendlichen Hausgenossen, als sie sich beim Abschied die Hand drückten, wieder näher gerückt.
Heinz stopfte auf seiner Bude noch eine Pfeife und überließ sich allerhand Streifereien in Vergangenheit und Zukunft. Lilian hatte von ihrer Anmut nichts eingebüßt. Im Gegenteil, die Reife stand ihr sehr gut. Dazu lag in ihrem Ausdruck, wie Heinz dünkte, die Teilnahme heischende Melancholie der Heimatlosen. Schon tastete da etwas nach seinem Herzen, und ihm war, als müßte er sachte Hinwegrücken, um sich nicht an einen neuen Zauber zu verlieren. Aber je mehr er sich darum bemühte, desto deutlicher und gewinnender erschien ihm Lilians liebliche Gestalt. Als ob es gestern erst gewesen wäre, ward ihm jener verliebte Abend nach 295 dem Eislauf wieder lebendig. Nur hatte sich inzwischen etwas verschoben. Damals war das feine Mädchen dem Gymnasianer nur Gegenstand sehnsüchtiger Verehrung gewesen; heute wußte Heinz, daß er mehr zu geben hatte als sie. Es keimte ganz leise ein Gefühl von Verantwortung für ihr Glück in ihm auf. — Aber, zum Kuckuck! Er stand ja erst auf der Schwelle seiner neuen Laufbahn, die er wahrlich nicht ergriffen hatte, um... Nein, er wollte kein Pfarrhausidyll. Aufspringend klopfte er die Pfeife aus und riß das Fenster auf, um die kalte Nachtluft einströmen zu lassen. Freudig und andächtig zugleich grüßten seine hellen Augen das herrlich flimmernde Heer der Sterne.
* * *
Wenige Tage später ward Heinz Tillmann auf das Advokaturbureau Bär & Sohn gerufen, wo ihn sein Kamerad Berni in seinem besondern Kabinett empfing. In dem weiß getäferten Hofzimmer standen so viele mit Aktenwust überladene Tische, Pulte, Kommoden und Gestelle herum, daß dazwischen nur noch schmale Gänglein blieben. Heinz ward auf ein Wachstuchsofa gewiesen, dessen Sitz er mit einem Berg von Zeitungen teilte, während Dr. Bär jun., eine Wolldecke über die Knie ziehend, sich in den Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch fallen ließ. Zwischen dem Chaos von Papieren hockte ein ausgehöhlter Sandsteinbär, in welchem Heinz 296 ein sinniges Geschenk aus einem Weihnachtskommers wieder erkannte. Eine Menge angebrannter Zigarrettenmundstücke, Streichhölzer und Aschenhäufchen lag drin und drum herum. Berni steckte sich, nachdem Heinz abgelehnt, eine Zigarrette an und blies ein paar Wölklein in den winterlichen Dämmer seiner Werkstatt, vor deren Fenstern die ersten Schneeflocken in einen öden Hof herniederwirbelten.
«Ja, du», begann der Advokat, «was ich dir zu sagen habe: Mir scheint, es wäre nun an der Zeit, daß du deinem Alten — ah pardon — deinem Vater klar machtest, daß in seinem Handel mit den Kuretablissements gar nichts mehr zu holen sei. Das ist gewiß ungemein schmerzlich; aber an der Tatsache ist nicht zu rütteln. Jeder weitere Schritt hat nichts mehr zur Folge als unnütze Kosten.»
«Ich dachte doch», warf Heinz staunend dazwischen, «er habe die Sache längst aufgegeben.»
Berni Bär drückte auf eine Klingel und befahl der eintretenden Schreiberin: «Bringen Sie mir doch das Dossier Tillmann kontra Kuretablissements.»
«Da, sieh mal her», sagte er dann, die Papiere entgegennehmend, «8. November, 3. November, 25. Oktober, 10. Oktober, 4. Oktober, 15. September, — wart nur, noch mehr! 1. September, und diese drei vom August, also alles seit der Befreiung aus Prankenau geschriebene Briefe, in denen er immer von neuem, aber immer auf erledigten Argumenten basierend, 297 uns zum Vorgehen drängt. Und es ist nichts zu wollen.»
Unter lebhaften Zeichen des Unwillens hörte Heinz dem wortreichen Nachweis der traurigen Sachlage zu, bis das Telephon den Vortrag unterbrach.
«Hier Bär, Sohn. — Jawohl, ich selbst. Aha. — Sehr gut, sehr gut. — Fein. — Lesen Sie mir den letzten Passus noch einmal. — Wollen Sie nicht ‹Proletariat› durch ‹Arbeiterschaft› ersetzen? — Aha. — Ganz recht. Also, meine Zustimmung haben Sie. — Als erster Votant? Meinetwegen. Gut. Zählen Sie auf mich. Adieu.»
Den Kopf auf die Sofalehne gestützt, hatte Heinz zugehört. Die nun in seinen Augen liegende Frage rasch beantwortend, sagte Berni Bär: «Ja, ja, mein Lieber. Dem wirst auch du nicht lange mehr entgehen. Heutzutage muß jeder denkende Mensch zu den sozialen Problemen Stellung nehmen. Und mich dünkt, am allerersten sollte den Theologen das Verständnis dafür aufgehen.»
«Laß mich in Ruh. Jetzt habe ich anderes zu tun.»
«Ganz recht. Studiere nur erst fertig. Aber ich meine, ein Mann wie du, der den Übermut der kapitalistischen Gesellschaft am eigenen Leibe zu spüren bekam, der durch sie aus der Bahn geworfen wurde und als Arbeiter unter Arbeitern fühlen lernte, kann unmöglich in den Tag hineinleben.»
298 «Sei nur ruhig, Berni, ich werde nach meinem Gewissen handeln.»
«Dann ist mir nicht bange. Wer es mit dem Christentum ernst nimmt, kann doch wahrhaftig nicht anders, als den Forderungen der Entrechteten zuzustimmen. — Aber weißt, Heinz, damit ist’s nicht getan. Das sind die Verabscheuenswürdigsten, die in ihres Herzens Grunde den Unterdrückten recht geben und dabei in aller Seelenruhe ihr Schifflein vom Strome der kapitalistischen Gesellschaftsordnung tragen lassen. — So bist du nicht. Das weiß ich, ich kenne dich zu gut. Wenn du, in diesem gottverlassenen Schiff sitzend, den Heiland auf den Wogen draußen wandeln siehst, so wirst du hinausspringen, und dein Glaube wird dich tragen. Du wirst die Sache der Enterbten mutig vertreten. — Im Strome treibend, würdest du mit tausend andern untergehen. Über die Wasser schreitend, wirst du Licht verbreiten. Dich brauchen wir.»
Heinz hatte, ein feines Lächeln des Wohlbehagens um den Mund, zugehört. Nun richtete er seine lautern, grauen Augen voll auf den gesprächigen Jugendfreund: « Wer braucht mich? Du gehörst doch nicht zu den Enterbten.»
«Ich erkläre mich solidarisch mit ihnen», antwortete Berni schlagfertig. «Und du dienst ihnen am besten im Rahmen der Organisation. Individueller Einsatz gehört zu den Folterwerkzeugen ins historische Museum. Das alte, christliche Barmherzigkeitsgeplänkel ist vor dem 299 Massenelend längst verpufft. Wem es ernst ist um die Liebe zum Volk. verzichtet auf die egoistische Wohltäterei und fügt sich als Rad in die große Maschine, die allein imstande ist, den Riesenklotz der Not zu zermalmen.»
«In dieser Maschine geht aber sehr viel Persönlichkeit verloren, die dem Armen zugute käme und auf die er ein Recht hat», wandte Heinz ein. Er stand auf, knüpfte seinen Überzieher zu und wollte das Gespräch abbrechen, indem er sagte: «Du mußt mir Zeit lassen, darüber nachzudenken. — Und was meinen Vater betrifft, so werde ich mein Möglichstes tun. Bis jetzt habe ich den Stahl noch nicht gefunden, der härter wäre als sein Starrsinn.»
«Das ist alles, was ich von dir verlange», drang Berni Bär von neuem auf seinen Freund ein, «daß du deiner Pflicht, dich mit den sozialen Problemen bis auf den Grund auseinanderzusetzen, nicht ausweichst. Erfüllst du diese Pflicht aufrichtig, so gibt’s nur eine Möglichkeit: mitmachen!»
Die Türklinke in der Hand, sagte Heinz: «Das beste wäre, du kämest einmal mit zu meinem Vater, dann könnten wir ja unterwegs uns über die Weltverbesserung verständigen. Adieu, Berni.»
* * *
Die Weihnachtsferien verbrachte Heinz im Pfarrhause zu Hilbligen. Mit andern Gefühlen war er diesmal 300 zu seinen Geschwistern hinausgewandert. Stand auch noch nicht alles, wie er sich’s wünschte, so war ihm doch die schwerste Last vom Herzen geschafft, mit Genugtuung durfte er zurückblicken, und vor sich sah er freie Bahn. Oft blieb er auf seinen Spaziergängen unwillkürlich stehen, um tief sinnend sich so recht zum Bewußtsein zu bringen, welches Glück ihm widerfahren sei. In dieser Stimmung fand er sich ganz gut mit dem noch vor kurzem so gründlich verschmähten Pfrundidyll ab. Er ertrug sogar die Tante Nilpferd, mit der er den Frieden des Pfarrhauses teilte. Ihre Gesellschaft war ihm lieber als die seines Schwagers. Gesund und selbstverständlich wie ein Kohlkopf im sonnigen Garten, saß sie in dem Hilbliger Glück und wehrte sich gegen das Gekrabbel der Kinder so wenig, wie der Kohlkopf gegen die Raupen. Den heiligen Abend vollends hätte Heini um allen Reichtum in dieser Welt nicht hingegeben, denn der brachte den Geschwistern, was sie seit den Tagen ihrer frühen Kindheit nicht mehr erlebt: der Vater saß in ihrer Mitte, sehr still freilich, aber der Freude seiner Kinder nicht verschlossen. Und die Rolle des Großvaters schien ihm gar nicht schlecht zu gefallen. Heinz drückte hinterm Tannenbaum seiner Schwester die Hand, und dieser traten die Freudentränen in die Augen, als Hans Tillmann im traulichen Lichterglanz mit dem kleinen Fränzi ryti ryti Rößli zu spielen begann. Keines sagte ein Wort dazu, aber in beider Augen lag es ausgesprochen: «Jetzt ist’s erstritten.»
301 Nein, wahrlich, jetzt hätte es Heinz nimmermehr über sich gebracht, den Burgfrieden anzutasten; er genoß seine Wohltat zu sehr. Und doch sollte das Jahr seiner Lebenswende nicht ganz ohne Sturm zu Ende gehen.
Es verstrich trotz Wind und Regen kaum ein Tag, an dem Heinz Tillmann nicht nach der Lorhalde hinaus gewandert wäre, seinen dort verkostgeldeten Vater aufzusuchen. Man hatte es längst aufgegeben, den alten Trotzkopf zur Übersiedelung ins Pfarrhaus zu bewegen. «Hat mir das Leben den Ausmarsch nicht freigegeben, wie ich ihn gewählt,» pflegte er zu sagen, «so will ich wenigstens den Heimweg nach meinem Sinne wählen.» Und diese Rückzugslinie steckte sich der Geometer straks durch die Einsamkeit ab. Leute, die ihm gelegentlich mit gutgemeinten Lehren zurechthelfen wollten, hielt er sich weit vom Leibe. Da war ihm der Lorbauer just recht, so ein stiller Mann, dessen Rückgrat seinen Krumb hatte und nicht mehr wider das Joch seines Loses auffederte, der mit seinem Grund und Boden umging, als wäre es Fleisch von seinem Fleische. Solch rechtschaffenem Kämpfer beizustehen, war eine Freude. Auch die Bäuerin war ihm recht. Von der Härte der Arbeit in ihrem Äußern bis zur Häßlichkeit hergenommen, ging sie ergeben ihres Weges, als predigte sie sich selber immerfort: Nur noch ein Weilchen ausgehalten, das Gute kommt schon noch. «An der Lorhalde,» sagte Heinz einmal, zu seiner Schwester heimkehrend, 302 «werden des Jahres nicht zehn überflüssige Worte gesprochen.» Der ungewöhnlich weit über die altersschwarze Front vorspringende Schindelgiebel schien ein Geheimnis zu überdachen und lugte auf die Äcker hinaus, so schweigsam wie im Herbst die Königskerzen des Gartens.
Am letzten Tage des Jahres, als Heinz den Hohlweg zum Torhaus hinaufging, hörte er den alten Bauer laut und gsatzlich reden. «Und ich tu’s nit,» sagte er. «Ich gehöre nicht zu denen, die nicht schlafen können, eh’ sie alles in ihre Gewalt gebracht.»
«Wenn man aber zusehen muß, wie die Sache in eines ungeschickten Menschen Hand zugrunde geht?» antwortete Hans Tillmanns Stimme.
«So bleibt’s dennoch seine Sache. Geh du hin und zeig ihm, wie er’s machen soll. Ich will dir nicht davor sein. Und wenn’s Gödis Gödel zum Vorteil ausschlägt, so will ich es ihm von Herzen gönnen. Ein hablicher Nachbar ist mir lieber als ein neidischer.»
Heinz war aus dem Hohlweg getreten und sah jetzt oben über der Bordkante die beiden Männer. Als er zu ihnen trat, grüßte der Bauer schicklich, ging aber alsbald weiter und verschwand im Hause.
Hans Tillmann schüttelte den Kopf und klopfte sich mit der geballten Faust sachte an die Stirne. «Ein braver Mann ist er,» sagte er zu seinem Sohn, «aber versuch’s, so einem etwas beizubringen, das ihm nicht 303 von selbst einfällt. Glaub’ mir nur, in einigen Jahren beißt der sich die Finger ab aus Ärger darüber, daß er meinen Rat verschmäht hat.»
«Nämlich?»
«Schau jetzt nur!» Hans Tillmann zog seinen Sohn ein Stück weit hügelan, bis sie über First und Hofstatt ins Feld hinausblickten. «Da siehst, wie die ganze Lorhalde gegen die Wetterseite offen liegt. Da drüben, grad als hätt’ es einer dem Haldenbauer zuleid getan, ist eine breite Lücke in den Waldgürtel gehauen. Solltest sehen, wie’s aus dieser Gasse heranfaucht, wenn der Wistelacher bläst. Eine wahre Hagelpforte ist’s. Und dort, gleich links davon — mit einer Ecke stößt es an meines Bauers Land — liegt, platt wie ein Tisch und von zwei Seiten im Waldschutz, ein prächtiges Stück Wiesland. Gödis Gödel, dem’s gehört, weiß nichts damit anzufangen, weil es nicht entwässert ist. Da hab’ ich dem Alten gesagt: Kauf’s doch. Es gilt jetzt wenig. Hernach drainieren wir’s, und du hast dein Besitztum verdoppelt oder verdreifacht. Er sieht’s ganz gut ein. Aber, was gilt’s, er will nur nicht drauf eingehen, weil ich es ihm angegeben.»
Hans Tillmann wartete vergeblich auf eine Antwort. Sein Sohn blickte nach jener Waldwiese hinüber und war doch offenbar nicht bei der Sache. Es ist doch noch nicht völlig erstritten, dachte er, und seines Gedächtnisses Auge ruhte auf den Dachknäufen von Prankenau. Um aus dem peinlichen Schweigen herauszukommen, 304 sagte er: «Ach, Vater, du magst recht haben; aber lass’ lieber die Hände davon.»
Da er ohnehin heute die Absicht gehabt, nur im Vorüberstreifen den Vater zu grüßen, verweilte sich Heinz nicht lange an der Lorhalde. Mißmutig wanderte er dem Pfarrdorfe zu. Beinah bereute er, nicht in der Stadt zu sein, wo das Silvestertreiben ihn doch ein wenig aus der ewigen Grübelei hinausgescheucht hätte. Hier war aber auch gar nichts, was an die Jahreswende erinnerte. Mattgrün lagen die Wiesen unter der träufelnden Wolkendecke. So richtig im toten Punkt zwischen Herbst und Frühling stand die Welt. Träge schlichen die Dunstschleier den Waldsäumen entlang, und wie sehr der Menschen Herz und der Gräslein müdes Heer im Sehnen nach einem Sonnenblick sich einten, nicht einen einzigen fadenscheinigen Fleck zeigte ihnen des Himmels graue Zeltdecke.
Genau so war Hans Tillmann im toten Punkt seines Lebens angelangt. Wie der Abgebrannte mit einem Stock die Asche seines Hauses durchstochert, um noch etwas Brauchbares herauszufinden, durchstöberte er, was hinter ihm lag, fand nichts und wußte auch mit der Zukunft in aller Gotteswelt nichts anzufangen, am wenigsten mit seines Sohnes neuen Wegen. Ach, daß doch ein Leichentuch sich senkte, ein reines, weißes, draußen über Halm und Scholle und auch über ihn! Aber mit unerbittlicher Ausdauer harrte das Leben vor seiner Türschwelle und wollte etwas von ihm, und 305 er wußte keinen Bescheid und wehrte sich, die Türe aufzutun.
Als Heinz ins Pfarrhaus kam, meldete ihm die Schwester, halb verdrießlich, halb lachend, es warte jemand auf ihn.
«Wer denn?»
«Geh’ nur hinauf, du wirst’s gleich sehen.»
«Ach, sag’s mir doch gleich! Ich bin so gar nicht aufgelegt.»
«Geh nur.»
Als er in den obern Flur trat, entfuhr Heinz ein aufrichtiges «o Gott im Himmel! Auch das noch!». Dann mußte er doch beinahe lachen, denn er dachte an die Tante Nilpferd. Aus des Pfarrers Studierstube scholl, gleich dem Geräusch einer Hauptbrunnstube, die Stimme Berni Bärs. Er hatte den guten Franz schon fest dran. Nicht ganz ohne Schadenfreude lauschte Heinz einen Augenblick auf der Schwelle. Dann trat er ein, von Doktor Bär mit burschikosem Geschrei empfangen. «Eigentlich,» sagte der Advokat, «bin ich auf dem Wege zu deinem Vater, Heinz. Ich wollte dich hier abholen...»
«Nur ‹eigentlich› bist du auf dem Wege dorthin. Du würdest also mit dir reden lassen, wenn...»
«Jawohl, wenn gute alte Freunde mich zu Gast laden, wie es soeben geschehen. Offen gestanden, ist’s mir heute trotz dem grämlichen Wetter mehr ums Luftschnappen als um Geschäfte zu tun. Wie wär’s, 306 wenn wir drei heute Nacht noch einen tüchtigen Bummel unternähmen? Habt ihr nicht ein Freßbädli in erreichbarer Nähe, wo man einen vernünftigen Silvesterschoppen bekäme, he?»
«Lüterswil,» sagte Heinz halblaut. «Aber mir gefiele es besser auf einem einsamen Berg. — Und der Frieswilhubel?»
«Gut, sehr gut! Dann neujahren wir drunten in Ortschwaben oder wie heißt’s doch, da, weißt, wo das Trineli herkam, da das fidele Huhn im untern ‹Jucker›.»
Franz Dengeler atmete erleichtert auf. «Ich wünsche euch beiden einen vergnügten Bummel.»
«Was?» fragte Bär, «euch beiden. — Du wirst dich doch nicht drücken wollen? Oder mußt erst deine Weibsleute fragen?»
«Guter Mann,» lächelte Franz, «du vergißt, daß morgen ein wichtiger Feiertag ist.»
«Was hat’s denn damit auf sich?»
«Ei, daß ich Predigt halten muß.»
«Daran wird dich niemand hindern.»
«Hoffentlich nicht. Aber zu einer guten Predigt gehört eine ordentliche Vorbereitung, und überhaupt...»
«Potz Donnerwetter, hört mir den an!» schrie Berni Bär. «Vorbereitung! Hab’ gemeint, so ein Mann Gottes sei Geistes voll bis zum Zerplatzen. — Du, du,» schrie er noch lauter auf Dengeler ein, «da sieht man’s ja grad, was mit euch ist, ihr Staatspfründer. Sakerment. Wenn ich Pfarrer wäre, ich wüßte, was 307 ich zu reden hätte. Mir würde das Schweigen schwerer. Du, weißt was, Fränzel, lass’ mich an deiner Stelle predigen. Dann bekommen deine Hilbliger Mastkälber einmal eine Neujahrspredigt zu hören, die bis zum 31. Dezember vorhält. Du kommst einfach mit, und wenn du einen rechtschaffenen Suff heimbringst, so kannst ihn morgen ruhig ausschlafen. Ich garantiere dir...»
«Hör auf!» wehrte Franz, ärgerlich auflachend.
«Wo hast deinen Kanzelrock?» brüllte Bär und machte Miene, den nächsten Wandschrank aufzureißen. «Lass’ sehen, wie mir das Zeug stünde!»
Franz drängte den Ungestümen auf das Sopha zurück. Der Advokat weidete sich an des Pfarrers Unbehagen, lenkte dann aber zu ruhigerem Gespräch ein und sagte: «Nein, aber Spaß beiseite! Daß euch, Theologen, die Vorbereitung einer Neujahrspredigt Bauchweh macht, beweist gerade, daß euch der Geist fehlt, von dem ihr mit einem gewissen Recht das Heil der Welt erwartet. Heißt’s nicht irgendwo: Er wehet, wo er will, du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt? — Hä, Dengeler, gelt, ich hab’ weniger vergessen als du meinst. — Dieweil ihr mit Händen und Füßen an eurem Webstühlchen klappert und ein seidenes Predigtlein mit allerhand Blümelein und Arabesken zusammenwebt, wallt’s ganz anderswo, in den Herzen der Mühseligen und Beladenen, auf und rauscht, daß es donnert 308 in den Lüften, wie Murtenschießen um Mitternacht. Und eines schönen Morgens werdet ihr euch die Augen ausreiben und glotzen und nicht verstehen, was im Dunkel der Nacht geschehen ist. Und dann — dann werdet ihr euch des Wortes erinnern: ‹Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel und erfüllte das ganze Haus, und es züngelte Feuer auf eines jeglichen Haupt.›»
«Du,» unterbrach Dengeler den Eifernden, «das Zitieren darfst du immerhin noch uns überlassen.» Mit fliegendem Schlafrock eilte er nach dem Pult, seine Bibel herunterzureißen.
Bär blieb wie angewachsen auf dem Sopha sitzen und lachte: «Laß nur, laß nur! Deine alten Schmöker brauch’ ich gar nicht erst. Was ich dem Sinne nach erfaßt habe, bleibt in mir lebendig, ob auch die Worte längst nicht mehr mit dem Kodex sich decken mögen.»
Eben stürmte Franz mit aufgeschlagener Bibel auf den lachenden Kameraden los, den blonden Schopf über der glühenden Stirn ordentlich gesträußt, als Frau Röseli eintrat. — Jetzt gefiel ihr Franz. Als brennenden Dornbusch hatte sie ihn noch nie gesehen. Gerne hätte sie dem offenbar entbrannten Zweikampf zugehört; aber ihren Schritten folgte der Küchliduft aus dem Eßzimmer und ermächtigte sie zur Mahnung, daß ein jeglich Ding seine besondere Zeit habe. Ein homerisches Gelächter sprengte die Schwierigkeit des Augenblicks, und der geistsprühende Löwe Sozialdemotrat 309 ließ sich vom einladenden Worte der Hausfrau ebenso leicht bändigen wie das Kanzellämmlein. Ohne allen Hader setzten sie sich zu Tische. Franz und Berni schienen sogar vergnüglich angeregt. Heinz verharrte in nachdenklichem Schweigen. Was Franz Dengeler besonders freute, war das nun wohlerworbene Recht, fürderhin in jedem Pfarrverein sich mit dem Hinweis darauf aufzulassen, daß er sich mit einem Führer der sozialdemokratischen Partei im Zweikampf gemessen habe — ohne zu unterliegen (daß ihn die Frau mit der Küchlipfanne vor dem Schlimmsten bewahrt, brauchte man ja nicht zu sagen).
Wer aber den Einbruch des roten Wolfes durch den Waldfriedensgürtel von Hilbligen keineswegs erbaulich fand, war die Tante Nilpferd. Nicht daß sie von dem Disput etwas gehört hätte. Aber der Gast mit den flackernden Augen und dem wirren Krausschopf hatte sich während des Tischgebetes im Stuhl zurückgelehnt, den Schnauz gestrichen und — ja, ja, sie hatte es trotz aller Andacht ganz deutlich gesehen — spöttische Blicke über die fromm gesenkten Häupter streifen lassen.
Wie atmete sie auf, als nach Tisch der wüste Geselle zum Aufbruch drängte und nach einem letzten vergeblichen Ansturm auf den standhaften Pfarrer mit Heinz allein abmarschierte. Die Tante machte aus ihrer Erleichterung kein Hehl, und als der Pfarrer ihr versicherte: «Ja weißt, Tantchen, in dem Manne steckt 310 eine Gärung, die vielleicht auch ihr Gutes hat — denk, er liest sogar die Bibel,» da meinte sie: «Mag sein, aber wozu!»
Vorerst schlugen die beiden Wanderer den Weg nach der Lorhalde ein. War der Advokat nun einmal in der Gegend, so sollte die Gelegenheit ausgenützt werden. Die Karrgeleise waren gefroren, und es lag kein Grund vor, am Straßenbord zu gehen. Dennoch tat Heinz, als müßte er sorgsam den Weg wählen. Es war ihm nur darum zu tun, nicht in einemfort reden zu müssen. Während Bär, voraus schreitend, seine Worte nicht zählte, sann Heinz schweren Herzens, wie sie am schonendsten seinem Vater die letzten Illusionen zerstören könnten — eine richtige Silvesterarbeit. Was hätte er nun um einen packenden Neujahrsgedanken gegeben! Als sie sich der Lorhalde näherten, hielt Heinz seinen Kameraden an: «Du,» sagte er, «nun bitt’ ich dich bloß um eins: Fang bei meinem Vater nicht von Politik an! Wir wollen ihm nicht, wenn die Wurzel seines Unglücks endlich ausgerissen sein wird, den Keim zu neuem Unfrieden ins Herz setzen. Ein still leuchtender Abend ist’s, was ich ihm wünsche.»
Diesen Gedanken hatte Heinz die Sonne gegeben, deren rote Glut jetzt eben aus breiten Rissen den Horizont überströmte.
Bär lachte leise. «Morgenrot wäre mir lieber,» sagte er halblaut. Und im Weitergehen raisonnierte er: «Weißt, Heinerli, Resignation darfst du bei unsereinem 311 nicht suchen. Vor einer verkrachten Existenz die Hände falten und seufzen: ‹es ist nun mal so, daran läßt sich nichts mehr ändern›, das gibt’s bei uns nicht.»
«Es ist aber hier nicht um Wiederaufbau nach außen zu tun, mein Lieber. Ich suche etwas anderes...»
«Schon recht. Lass’ mich nur machen.»
Dicht vor der Küchentüre des Bauernhauses faßte Heinz den Vorwärtsstürmenden am Ärmel und bat dringend: «Berni, nimm dich in acht!»
Bald saßen sie in der dumpfen Stube, und der Advokat erklärte vom warmen Ofentritt aus seines Freundes Vater klipp und klar die Aussichtslosigkeit seiner Rechtsansprüche. Hans Tillmann saß auf der Wandbank am Fenster und blickte starr nach dem Walde hinüber, in dessen Wipfelmeer die Sonne versank. Er sprach kein Wort, tat keinen Seufzer. Sein grauer Kopf aber war die in Erz gegossene Bitterkeit. Des Advokaten Worte polterten wie gefrorene Schollen auf einen Sarg. Als der Abendschein auf den gemalten Blumen des Wandschrankes erlosch und die drei Männer sich nur noch wie Schemen dasitzen sahen, kam Bär auch mit seinen Ausführungen zu Ende. Da war es Heinz, als müßte er dem Vater, der in sprachloser Verbitterung am Grabe seiner letzten Hoffnungen stand, mit einem lieben Wort an die Brust fallen. Aber auch das war vorbei, die Zeit der jugendlichen Zärtlichkeit, jetzt, wo ihr vielleicht der einst so harte Mann wieder zugänglicher gewesen wäre. Und da saß im Halbdunkel der 312 zu Hilfe gerufene Fremde. Der hatte nun sein Werk getan, mit berufsmäßiger Sachlichkeit. Warum ging er jetzt nicht hinaus, Vater und Sohn allein lassend? Wenn er nur nicht anfing. Heinz wollte reden und fand kein Wort. Da fing Bär wieder an, den die Grabesstille nicht minder drückte. Er verließ den Ofen und sehte sich nahe zu Hans Tillmann auf die Fensterbank. «Das ist freilich ein bitter Ding, was ich Ihnen da mitteilen mußte, Herr Tillmann,» sagte er, «und da läßt sich nichts mehr herausholen, aber seien Sie nur ruhig, eine Genugtuung werden Sie doch noch erleben. Die Stunde der Vergeltung ist nicht mehr fern. Sie sind recht eigentlich das Opfer der kapitalistischen Gesellschaft, und der wird’s an den Kragen gehen, so wahr ich da sitze.»
Berni Bär konnte nicht anders. Er mußte Feuer schlagen, wo er einen Stein dazu fand. Aber die Funken entfachten keine Glut. Hans Tillmann blieb stumm.
Heinz war um nichts gesprächiger geworden, als er bei einbrechender Nacht mit seinem Kameraden weiterwanderte. So hatte sich nun freilich der junge Advokat den Silvesterbummel nicht gedacht. Zu der bedrückenden Einsilbigkeit seines Wandergefährten gesellte sich das Schweigen der Landschaft, die mit jedem Schritt tiefer ins Dunkel versank. Da hockten links und rechts, in herausfordernder Selbständigkeit, weitauseinandergerückt, die Bauernhöfe, gleich Mutthaufen, aus denen mit glimmenden Äuglein das fette Behagen 313 blinzelte. Nichts regte sich weit und breit als etwa dann und wann ein Kettenhund, der das Behagen gegen jede Störung sichern sollte. Heinz stimmte dieses Bild satter Ruhe, dieses samtene Dunkel feierlich. Berni aber kam eine bübische Lust an, es zu stören. Es gelang ihm wenigstens insofern, als er durch Gröhlen der Arbeitermarseillaise die Hunde zum Bellen brachte. Er hörte damit nicht eher auf, als bis einer dieser Wächter glücklich seine Kette gesprengt hatte und mit wüstem Zähnegefletsch in bedrohliche Nähe von Bernis Hosenbeinen kam. Berni hieb und stach und guselte mit seinem Stock gegen den Hund, ohne ihn zu treffen, und als sie endlich außer Sprungweite von dem Tiere waren, fing er an zu schimpfen, ein Skandal sei es, daß man nicht einmal ruhig seines Weges ziehen könne, man sollte den hagels Mastbauern überhaupt das Halten von Hunden verbieten.
Er wüßte etwas besseres, meinte Heinz, auflachend, man sollte die Hofhunde alljährlich gemeindeweise einziehen und ihnen unter dem Gesang der Marseillaise Gnagi austeilen. Dann kämen alle Teile auf ihre Rechnung, die Hunde zuvorderst, dann aber auch die Bauern, die Metzger, die Viehhändler, die friedfertigen Wanderer und endlich auch diejenigen Proletarier, um derenwillen die Hofhunde gehalten würden.
«Meiner Seel,» antwortete Bär, «du hast mehr soziales Verständnis, als du zugestehen willst. Was wetten wir?»
314 «Vielleicht mehr als du, Berni.»
Heinz sagte das in einem ernsten, fast strafenden Ton, so daß sein Kamerad nähere Erklärung verlangte.
«Wenigstens ich,» sagte Heinz, nun auftauend, «könnte mich mit dem negativen Trost, mit dem du meinem Vater aufgewartet hast, nicht zufrieden geben.»
Berni Bär blieb stehen und blickte erstaunt auf Heinz, der ruhig fortfuhr: «He ja. Was nützt es einem Schiffbrüchigen, wenn du ihm sagst: ‹Dir ist nicht mehr zu helfen; aber sei getrost, deine Rivalen und Peiniger werden auch bald ersaufen›? Das ist ein Ausfluß jener kommunistischen Denkweise, die dem Stärkern das Werkzeug nimmt und es zerschlägt und deren Schlußresultat die allgemeine Lähmung ist.»
«Bitte,» protestierte Bär, «so habe ich’s nie verstanden. Ich möchte dem Starken, der es mißbraucht, das Werkzeug wegnehmen und es dem Schwachen geben.»
«Mit dem Rollentausch ist nichts gewonnen. Nichts kann dem Ganzen verhängnisvoller sein als entwaffnete Intelligenz. Lasse dem Starken seine Waffen, aber zwinge ihn, sie für das Volk zu gebrauchen, und mache den Schwachen stark, damit er frei werde!»
«Auch gut. Siehst du, wir haben im grunde genommen dasselbe Programm.»
So wanderten die beiden, bald schweigend weiterspinnend, bald disputierend, durch die Nacht. Sie 315 fühlten, daß sie einander näher kamen, daß sie beide etwas Schönes, Großes, wahrhaft Menschenwürdiges suchten. Im Wirtshaus zu Frienisberg kehrten sie ein und feierten in seliger Laune bei einem Glase purpurnen Weines die Auferstehung ihrer Jugendfreundschaft. Gerne erinnerte sich Heinz des stürmisch frohen Lebens, das einst «Mirabeau», das Sorgenkind aller Lehrer, in die Masse getragen, gerne der treuen Freundschaft, die er ihm in den dunkelsten Tagen seines Lebens bewiesen. Er mag ein Brausekopf sein, ein «Sturm» vielleicht manchmal, dachte Heinz Tillmann, aber ein guter Mensch ist er doch. Berni Bär, dem zu Zeiten selbst das Unausgeglichene seines Wesens und seiner Anschauungen zum Bewußtsein kam, ahnte, daß er an dem durch die harte Jugend ausgereiften und doch noch so lebensfrischen, jungen Gottesstreiter einen festen Halt gewinnen konnte. Verjüngt brachen sie wieder auf, um zur Mitternacht auf dem Kamme des Frieswilhubels zu sein. Es kam ihnen vor, als wären sie von der Welt weit abgerückt und noch tiefer in die Nacht getaucht, als sie auf dem Bergrücken hin- und herwanderten und nach den fernen Glockenklängen lauschten. Tief schwarz lag alles um sie her. Kein Lichtlein verriet menschliche Behausung, kein Stern des Himmels tröstliches Gezelt. Das einzige helle in der weiten Runde war der fahle Schein, der die Stelle bezeichnete, wo in des schlummernden Landes weichen Falten die Stadt fieberte. Endlich kam es, in kaum 316 hörbaren summenden Wellen herauf, der Münsterglocken feierliches Lied von Vergehen und Werden.
Sie redeten nichts mehr; aber jeder wußte vom andern, daß er entschlossen war, einer neuen Zeit, einer viel verheißenden, gläubig entgegenzugehen.
Als der letzte Ton verhallt war, trennten sie sich unter Glückwünschen, die einen ganz besondern, tiefen Klang hatten.
Dicht wirbelten die Schneeflocken um den bereits in weißer Decke schimmernden Pfarrhof, als Heinz rechtschaffen müde zu Hilbligen eintraf. So leise es ging, schlich er sich in sein Zimmer hinauf. Zu seinem Erstaunen fand er auf dem Tisch eine ansehnliche Kiste. Darauf lag ein von großzügiger weiblicher Hand adressierter Brief aus Bern. Klopfenden Herzens riß er ihn auf. Die Schriftzüge hatten ihn in einen Sturm seltsamer Gefühle versetzt. Nachdem er in atemlosem Staunen die Unterschrift gelesen, zwang er sich zu ruhigem Genießen des ganzen Briefes. Er lautete:
«Lieber Heinz! Denken Sie nicht arg von mir, weil ich mir diese Anrede vergebe. Aber es wäre wie ein falsch gegriffener Ton, wollte ich diesen Brief mit ‹Hochgeehrter Herr› einleiten. Vielleicht ist es mein letzter an Sie. Darum soll er erst recht die Freundschaft zum Ausklang haben, eine wahrhaftige Freundschaft. Sie verstehen mich, nicht wahr?
Also, ich fühle mich Ihnen tief verpflichtet, da ich Ihnen mein Glück verdanke. Durch das wahrhaft glänzende 317 Beispiel von Kindesliebe, das Sie mir mit Ihrem Verzicht auf das Theologiestudium seinerzeit gegeben, haben Sie mir geholfen, die Wünsche meines Herzens niederzuringen, deren Erfüllung mich mit meinen lieben Eltern in Zwist gebracht hätte. Ihr Beispiel vor Augen, habe ich überwunden, und habe meiner Eltern Liebe dadurch vergolten, daß ich dem Manne die Hand reichte, der nach ihrem Herzen gewachsen ist.
Nun bitte ich Gott, daß er den Segen des Verzichtes uns beiden in gleichem Maße zuteil werden lasse.
Wie ich höre, ist ja nun Ihr Herzenswunsch auch erfüllt, und Sie konnten den Beruf doch noch ergreifen, den Sie Ihrem Vater zuliebe preisgegeben. Sie glauben nicht, wie sehr wir uns darüber freuen, Marcel und ich. Es ist bei uns ausgemacht, daß Sie in Zwischenflüh Pfarrer werden, sobald der alte Herr, der dort die Kanzel inne hat, seines Amtes müde ist. Wir haben sehr viele Arbeiter dort. Da sagt Marcel immer, für die wären Sie der richtige Seelsorger, weil Sie selbst unter den Arbeitern gelebt haben. Wie freuen wir uns auf den Augenblick, da wir Jugendfreunde uns wieder die Hand reichen werden, um gemeinsam Gutes zu tun unter den Menschen.
Und nun machen Sie mir die Freude, als ein schwaches Zeichen meiner Dankbarkeit das kleine Kunstwerk anzunehmen, das ich für Sie anfertigen ließ in Erinnerung an den, der die neunundneunzig in der Wüste läßt, um das eine verlorene Schaf zu retten. 318 Ich suchte ein entsprechendes Bild. Aber all die Bilder vom guten Hirten sind mir zu süßlich, zu weltfern. Sie sagen mir nichts. Nun glaube ich in nächster Nähe das Beste gefunden zu haben, indem ich einem unsrer Schnitzler den Auftrag gab, das darzustellen in gutem, derbem Bergholz, was mir vorschwebte.
Empfangen Sie mit meinen und meines Mannes herzlichen Glückwünschen zum neuen Jahre die freundlichsten Grüße von Ihrer
Antionette Delierre.»
Heinz war, als müßte er wieder in das Schneetreiben hinaus. Aber er wußte, daß er den Aufruhr seiner Seele mit sich forttrüge, wohin immer er seine Schritte lenkte. Wieder und wieder las er den Brief, und so oft er ihn wieder hinlegte, stand er vor einem neuen Rätsel. Müde und verwirrt setzte er sich auf sein Bett. Er wollte sich zur Ruhe zwingen. Aber immer wieder klangen Antoinettes Worte gleich den Schlägen einer Sturmglocke an sein Ohr. Es war ihm, als hörte er ihre Stimme, als sähe er ihre schlanke Gestalt im Waldesdämmer vor sich. — «Da ich Ihnen mein Glück verdanke...!» — Ob sie denn nicht ahnte, was dieser Satz für ihn bedeutete? — Und «Ihr Beispiel vor Augen, habe ich überwunden...» Plötzlich sprang er auf. «Das ist eine Lüge,» rief er. «Sie lügt sich selber vor, daß sie überwunden habe, daß sie glücklich sei. Sie ist es nicht. Das beweisen die verschwommenen Zeilen da unten. — O Antoinette! Antoinette! Armes Kind!»
319 Unfähig, sich aus dem Wirrsal seiner Mutmaßungen und Schlüsse loszureißen, begann er mit seinem Sackmesser den Kistendeckel zu lösen. Es ging mühsam, und das war ihm recht. Er arbeitete sich in Schweiß, trotz der Kälte des Zimmers. Da — knacks — brach ihm die Klinge — die gleiche, mit der er am Panamakanal einst sein Leben erfolgreich gegen Aufrührer verteidigt. — Sollte er vielleicht das Angebinde der geliebten Frau gar nicht sehen wollen? Nach kurzer Pause schlich Heinz in die Küche und holte sich ein Beil. Mit wachsender Ungeduld brach er die Kiste auseinander. Sie enthielt eine lebendig empfundene Holzskulptur, einen Geißbuben, der ein Lamm den Klauen eines Adlers entreißt.
«Auch das trifft ja nicht einmal zu,» sagte sich Heinz, nachdem er das Kunstwerk eine Zeitlang betrachtet. «Ich habe ja meinen armen Vater durch den Verzicht nicht gerettet. Konnte ich ihn denn vor dem Zusammenbruch bewahren?»
Je mehr Heinz über die seltsame Verkettung all dieser Dinge nachsann, desto mehr kam es ihm vor, als hörte er das Hohngelächter eines unsichtbaren Feindes. Eine dunkle unfaßbare Nacht schien mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. War es vielleicht doch kindisch und verkehrt, an einen Segen des Verzichtes zu glauben? — Nur eines blieb in dieser Neujahrsbescherung unbestreitbar: daß Antoinette ihre Liebe zu Heinz so wenig überwunden hatte, wie er selbst seines Herzens tiefen Zug zu ihr.