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Nacht war’s, eine dunkle laue Maiennacht. Unverhüllt glitzerte das Heer der Sterne. Kaum ließen sich die riesigen Walme der uralten Alleen unterscheiden, mit deren geheimnistiefem Rauschen sich stoßweise, fernem Donner ähnlich, die Brandung am nahen Ufer mischte.
Auf einem Außenposten der Kaserne von Colombier schritt ein junger Füsilier mit geschultertem Gewehr auf und nieder. Warum Heinrich Tillmann seine militärische Lehrzeit just hier absolvierte? — Es war seines Vaters Wille. Zur Infanterie! hatte sein Entscheid gelautet, weil sich in dieser Waffe der Dienst in der kürzesten Zeit ableisten ließ. Nach Colombier! Weil sich dort Gelegenheit bot, durch die Übung im Französischen praktischen Nutzen aus der unvermeidlichen «Zeitvergeudung» zu ziehen. Heini selbst hatte sich nicht widersetzt, dachte er doch, daß der längere Dienst in einer Spezialwaffe, in die ihn die Laufbahn des Technikers gewiesen hätte, erst recht verlorene Zeit geworden wäre, falls es ihm doch noch gelang, zur Theologie einzulenken. Er war ein schöner und braver Soldat, ein gutes zuverlässiges Element in der Gesellschaft der Welsch-Jurassier. Aber die Instruktoren glaubten, er habe Heimweh, weil er oft nicht bei der Sache war. Der Dienst bot Heini nur zu viel Gelegenheit, seinen 170 Gedanken nachzuhängen. Nächtliche Wachen wurden zu Stunden des Leidens. Seine Pläne waren über den Haufen geworfen; aber vernichtet waren sie nicht. Hätten sie nur in seinem Kopf gelegen, gestützt durch das Verlangen nach den Äußerlichkeiten des Pfarramtes, so hätte der junge Mann den Verzicht darauf sicher zustande gebracht. Aber jetzt fühlte er, wie tief das Sehnen nach einer Lebensarbeit in ihm wurzelte, die das, was seine Seele ausfüllte, sich fruchtbar auswirken ließe. Statt dessen mußte er nun mit auf dem Rücken gebundenen Händen gehen, die Last eines aufgezwungenen Berufes tragen. Nicht einmal aufsehen durfte er unter dieser Last. — Warum? — Weil ein Durchsetzen seines Willens heute schon ihn von seinem Vater getrennt hätte. Heini wollte und mußte an des Vaters Seite bleiben, weil in ihm die Mutter mit ihren gottwärts gerichteten Blicken fortlebte und weil der Vater am Rande eines Abgrundes schritt.
Im schwarzen Schlunde der Allee kollerten Kieselsteinchen, menschliche Tritte verratend.
Heinis Gewehr flog in die Fertigstellung, «
Halte, qui vive?
» scholl kräftig sein Ruf in das Föhnsausen.
«
Ronde!
» antwortete es zwischen den Stämmen.
«
Mot d’ordre!
»
«
Persévérance.
»
«
Passez!
»
Bald hatte das Windesrauschen die Schritte verschlungen. Heini durchlief ein seltsamer Schauer. Blitzschnell
171 reihten sich seine Gedanken. Er trat tiefer in die Allee, wollte sich überzeugen, ob ein leibhafter Mensch vorübergegangen, ihm das Paßwort zugerufen habe. War es ein Erlebnis, war es ein Traum, was seine Reflexionen unterbrochen hatte? — «
Persévérance et sincérité.
» Standen nicht diese Worte über dem Schloßtor zu Prankenau? — Deutlich sah Heini Tillmann wieder die zürnenden Blicke Antoinettes. Er hörte ihren Protest wider Frau Dorotheas Vorhaben. Kein Zweifel, Antoinette nahm Anteil an seinen Sorgen. — Vielleicht tieferen Anteil als ihre Freundin, die so rasch zu allem Guten bereit war. — Aber... da gähnte ja doch die tiefe Kluft. — Ein Mensch, der sich durch Pietätsgefühle die Hände auf den Rücken binden ließ, wie sollte der die Türen der altersgrauen Standesordnung einrennen! — Lebhafter schritt der Wehrmann aus. Ob seinem endlosen Hin- und Hergehen klärte sich immer mehr die Überzeugung, daß er verurteilt sei, sich mit dem Erreichbaren abzufinden. So nur konnte er ohne Zwiespalt an der Seite seines ringenden Vaters bleiben.
* * *
Unter dem wunderlichen Barokgiebel eben jenes Tores mit dem schönen Wahlspruch standen an einem Samstag Abend zwei Gestalten, die sehr ungleich in den feudalen, moosbewachsenen Rahmen paßten. Der Humor des Zufalls hatte die schlanke Frau Dorothea 172 von Guldwang unter die Überschrift Persévérance gelockt, den schwerfälligen Doktor Muffler unter das Wort Sincérité. Herr Scipio, der das bemerkt hatte, lächelte still in sich hinein, als er, heimkehrend, zu den beiden stieß.
«Der Herr Hauptmann scheint ja sehr vergnügt zu sein,» sagte der Arzt, der sich die heitere Miene des alten Herrn ganz anders erklärte. — Frau von Guldwang hatte nämlich den Arzt für ihren von schlaflosen Nächten gequälten Onkel rufen lassen und war sehr aufgebracht gewesen, als Onkel Scip sich dem Besuch durch einen Streifzug in den Wald entzogen hatte. — Statt auf des Arztes komische Drohgeberde zu antworten, deutete der Herr von Prankenau mit seinem Spazierstock auf die Inschrift und sagte: «Da trägt jedes von euch beiden die richtige Überschrift. Es fehlt bloß noch die gemeinsame
reservatio mentalis
: Soweit es mir konveniert.»
Frau von Guldwang und der Arzt blickten sich etwas verblüfft an, als wollte jedes das andre fragen: «Willst du ihm herausgeben?» Über das schlecht rasierte, gedunsene Gesicht des Arztes glitt eine schalkhafte Neugier. Sein schmallippiger Mund zog sich in die Breite. Falten legten sich in rundem Schwung um die Mundwinkel, und die Äuglein zwinkerten unter den wulstigen Deckeln. Er freute sich auf die Antwort seiner schönen Partnerin. Was die betraf, so gab er Herrn Scipio in seinem Herzen recht. Ob er sich zugestand, daß auf ihn selbst die boshafte Bemerkung ebenso sicher zutraf?
173 «Onkel Scip, Sie sind sehr unartig mit uns,» schmählte Frau Dorothea. «Ich gebe mir so viel Mühe mit Ihnen, und der Doktor, der doch auch kein Jüngling mehr ist, kommt von Kilchwehrlen heraufgelaufen...»
«Ist ja auch gar nicht umsonst gekommen. So unhöflich bin ich nicht, daß ich ihm das zumutete. Da, Doktor, kontrollieren Sie das alte Pumpwerk!» Herr Scipio hielt dem Arzt seine hagere Hand hin. «Und wenn meine Zunge Sie interessiert...» Damit sperrte der alte Herr seinen Mund weit auf und schnitt dem Doktor eine Grimasse, deren Wirkung er vor fünfzig Jahren im übermütigen Kreise der jungen Dienstkameraden ausprobiert hatte.
«Wenn Sie nun aber wieder nicht schlafen, Onkel, so mag ich dann keine Klage hören.»
«Klagen? — Haben Sie mich je jammern gehört, Dorothea?»
«Nun, wie Sie eben zu jammern pflegen. Richtiger wäre es schon zu sagen: aufbegehren und sogar...»
«Doktor,» unterbrach sie Herr Scipio, «lassen Sie sich auch von meiner Nichte die Zunge zeigen, aber schnell! — Übrigens, damit Sie nicht umsonst gekommen sind, sollen Sie meine Diät genehmigen. Das Rezept gegen Schlaflosigkeit weiß ich noch aus früheren Jahren auswendig: Bewegung in frischer Luft und vor dem Zubettgehen ein Glas Vittorio oder zwei, kredenzt von schöner Hand. — Kommen Sie, Doktor, es wäre mir doch lieb, wenn Sie die Mixtur zu aller 174 Sicherheit noch selber kosteten.» Der Spaßvogel bot dem Doktor den linken, seiner Nichte den rechten Arm und wollte sie ins Schloß führen; aber beide wichen ihm aus.
«Ich danke, Herr Hauptmann,» sagte der Arzt. «Da Sie meiner überhaupt nicht bedürfen, will ich wenigstens die nicht warten lassen, die sich weniger gut aufs Doktern verstehen. Und da ich ohnehin grundsätzlich...»
«Aha ja ja. Natürlich! — Sie sollen ja noch meinen lieben Nachbar, den Saufbold in der Känelmatt, retten. — Also viel Vergnügen, lieber Doktor! Hahaha — hahaha...»
Der alte Herr zog einen Zweig des üppig blühenden Fliederbusches von der Umfassungsmauer an die Nase und spazierte dann dem Schloß zu. «
Mille tonnerres
», sagte er halblaut vor sich hin, «die Welt ist doch gar nicht so, wie die meinen. Da läßt der liebe Gott solche herrliche Sachen wachsen, und nun gehn sie und gründen Vereine, um sich einzureden, daß man so was meiden soll! Hahaha. — Statt solche canailleuse Kerls ruhig ihrem Schicksal entgegenreifen zu lassen! So was korrigiert sich von selbst.»
Frau Dorothea war verstimmt. Sie hatte freilich den Arzt um ihres Oheims willen rufen lassen; aber die Hauptsache war ihr gewesen, daß er ihr über seinen Besuch bei Hans Tillmann berichten sollte. Nach längerer Beratung mit Herrn Fernand war sie nämlich zum 175 Entschluß gekommen, den alten Arzt in die Känelmatt zu senden, um, wenn möglich, den gefährdeten Nachbar zu einem Abstinenzgelübde zu bewegen. Sie hatte es damit sehr ernst genommen, war es doch ihr Vorsatz, durch ein gutes Werk an Heini ihrem Leben einen Inhalt zu geben. Sie wollte gewissermaßen diesen gut veranlagten Menschen dem lieben Gott erhalten. Und selber wollte sie das tun. Darum mied sie den Rat der erfahrenen Blaukreuzleute, die ihr vermutlich das Werk und damit auch Verdienst und Genugtuung aus der Hand gewunden hätten. Nun hatte ihr der Arzt eben erzählt, wie er vorgegangen. Vorsichtig tastend und freundschaftlich ratend hatte er sich einmal auf dem Weg von der entfernten Bahnstation nach dem Dorf Kilchwehrlen an Tillmann herangemacht, von dem hohen Nutzen des Blauen Kreuzes gesprochen und dann versucht, den Gefährdeten zum Anschluß zu bewegen. Hans Tillmann, der den Arzt sehr schätzte, war zu dessen Verwunderung mit vollem Verständnis auf die Sache eingegangen. Er bestätigte, daß die Abstinenzbewegung namentlich für die Arbeiterschaft von unschätzbarem Wert sei. Er gab sogar zu, daß das gute Beispiel der leitenden Persönlichkeiten Wunder wirken müßte, ermangelte dann aber nicht beizufügen, daß er selber vorderhand sich zu nichts verpflichten könnte, weil ihm die Enthaltsamkeit in seinen geschäftlichen Connexionen sehr hinderlich wäre. «Aber wahr bleibt es,» sagte er, bevor sie auseinandergingen, wobei er dem 176 Arzt mit einem listigen Augenzwinkern die Hand auf die Schulter legte, «das gute Beispiel der obern Zehntausend könnte sehr viel ausrichten. Sagen Sie doch das gelegentlich Ihren Freunden im Schloß Prankenau. Ich ließe sie grüßen und ihnen versichern, daß ich ihnen nie mehr Gelegenheit bieten werde, mich zu überfahren; dafür sollen sie sich aber nicht noch einmal unterstehen, Hans Tillmann retten zu wollen. Die übermütig-scheinheilige Sippschaft soll vor der eigenen Türe kehren. Dort sollen sie sich den Himmel verdienen.»
Doktor Muffler beschränkte sich darauf, Frau Dorothea von den vernünftigen Anschauungen Tillmanns zu erzählen. «Aber ich muß Sie bitten, mir das weitere ganz zu überlassen. Wir dürfen eins nicht vergessen: Ein freier Mensch läßt sich nicht gern von einem leiten, der nicht unter den gleichen Lebensbedingungen steht. Und ehe wir einen Mann gefunden haben, der wenigstens einigermaßen die Verhältnisse Tillmanns teilt, werden wir kaum zum Ziele kommen.»
Damit verabschiedete sich der Arzt, und Frau Dorothea kehrte mißvergnügt in den Schloßhof zurück.
* * *
Herr Scipio von Guldwang saß an seinem Frühstückstisch auf der Terrasse des Schlosses. Die gelb gestreifte Marquise dämpfte das Geglitzer des kostbaren Geschirrs. Draußen aber flutete das Sonnenlicht, durch 177 keine Wolke gehemmt, über das Taugeschmeide des Gartens. Im Schattengewölbe der in tausend weißen und roten Kerzen blühenden Kastanienriesen blinkte verstohlen der Teich. Aus dem in Sommerduft schwimmenden Tale herauf, riefen voll frommer Melodie die Kirchenglocken von Schöchwiler.
Frau Dorothea hatte ihr Gesangbuch auf den Tisch gelegt, stand am Rande des Perrons und knüpfte sich die Handschuhe ein, während Antoinette ihrem Großonkel auf dem Glutbecken der «Servante» Brotschnitten bähte.
«Also!» sagte Frau von Guldwang mit einem letzten prüfenden Blick auf die beiden zurückbleibenden Tischgenossen. Diese verstanden, was in dem Worte zusammengefaßt war, nämlich: «Ich verlasse mich darauf, daß ihr beiden schön brav seid.» Eine laute Antwort bekam Frau Dorothea nicht; aber vier gesenkte Augendeckel schrieen ihr ein sehr gedehntes «Ja» zu. Und weil nunmal selbst eine Siegerin kein Behagen daran findet, wenn ihre rauschende Schleppe mit dem Groll ihrer Lieben beschwert ist, so trat die Gestrenge nochmals dicht an ihren Oheim heran und blickte ihn mit dem ganzen Spielzauber ihrer dunklen Augen an, als wollte sie sagen: «Willst du wohl wieder artig sein, Brummbär?» Aber Herr Scipio zuckte mit keiner Wimper, worauf Frau Dorothea ihren Sonnenschirm mit einem dumpfen Knällchen spannte und dem Ruf der Glocken folgte.
178 Eine Weile blieb es sehr still unter der Marquise. Jedes der beiden Zurückgebliebenen sah vor sich hin. Unversehens aber fanden sich ihre Blicke. Ein erlösendes Lächeln schmiegte sich um die Mundwinkel, dann erhob sich Antoinette, ging zu dem alten Herrn hin und küßte ihn zärtlich auf beide Wangen. Herr Scipio blickte ihr tief in die blauen Augen. Und da ergriff ihn etwas. Nicht das berechnende Spiel ihrer Mutter fand er darin, das sich jetzt damit vergnügt hätte, ein kurzatmiges Komplott mit dem ältern Leidensgenossen zu schmieden, sondern ein schmerzliches Sehnen. Es dauerte auch gar nicht lange, so löste der verwunderte Ausdruck des alten Herrn dieses verhaltene Weh, und es fielen ein paar glitzernde Tropfen auf Herrn Scipios Rockärmel. Antoinette wischte sie mit dem Taschentuch ab. Dann neigte sie, in die Kniee sinkend, ihr Haupt auf die Lehne des Fauteuils. Hilflos starrte der alte Offizier auf die prachtvolle Last der schwarzen Locken, die da über seinem rechten Arme zitterte. — Solche Geschichten waren ihm fürchterlich unangenehm. Und hier war es ihm umso peinlicher, als er, die Ursache dieses Jammers ahnend, eine Pflicht zu tröstendem Beistand fühlte. Bekam er selber schon dann und wann die Kehrseite jenes Zaubers empfindlich zu fühlen, der mit graziösem Gegaukel und religiöser Würze seine einsamen Tage belebte, so mußte dies Wesen dem vollends zum Leiden werden, den Kindespflicht wehrlos machte. Seine ganze Unbeholfenheit kam ihm zum Bewußtsein, als 179 er mit der Linken den schönen Kopf zu heben suchte, um seinen rechten Arm davon zu befreien. «Was fehlt dir, mein Kind?» fragte er in verlegener Zärtlichkeit. Daß er keine Antwort erhalten würde, war ihm klar. Solches Leid konnte nur stilles Mitgefühl lindern. So ergab er sich denn, lehnte sich zurück und streichelte die dunklen Locken, bis Antoinette endlich aufblickte und, ihre Augen trocknend, sagte: «Ach, ich bin ein törichtes Geschöpf, Sie mit meinem Kummer zu plagen, Onkel. Verzeihen Sie mir, aber... glauben Sie nicht auch, daß im Grunde genommen der liebe Gott an der großen, sehr großen Frömmigkeit meiner Mama nur ein halbes Wohlgefallen haben kann? — Ich meine, wir könnten mit dem zehnten Teil unserer religiösen Nahrung recht brave Menschen werden, wenn wir dann auch mit dem ganzen Herzen dabei wären?»
Um Gottes willen! sagte sich Onkel Scip. Wie recht hat sie! Aber soll ich nun gar noch Beichtvater spielen? Seine Blicke streiften den in der Sonne liegenden Jagdhund, seinen täglichen Gefährten. Mit dem mußte man nie über Dinge reden, die einem so schlecht lagen.
«Ach,» sagte er, «deine Mama meint es herzlich gut. Vielleicht ist es besser, wir fügen uns in ihre Lau... in ihre... in ihre Wünsche. Sie will ja unser Bestes.»
Enttäuscht erhob sich Antoinette und begab sich an das andere Ende des Tisches, wo ihre Mutter die 180 Morgenandachten von Sachariä aufgeschlagen hingelegt hatte. Tassen und Teller zurückschiebend, fragte sie: «Soll ich lesen?»
«Ja, bitte,» sagte der alte Herr, der mit seinem Blick den Hund zu sich heran gelockt hatte. Während Antoinette den Tagestext las, kriegte das bettelnde Tier einen Klaps auf die Schnauze und legte sich wieder in die Sonne.
Nach einigen Minuten bemerkte die Leserin, daß ihr Zuhörer das Haupt auf die Brust sinken ließ. —
Unwillkürlich dämpfte sie ihre Stimme, und als nach ein paar weiteren Sätzen ein leises Schnarchen verriet, daß der mitleidige Tag dem Greise spenden wollte, was ihm an Erquickung die laue Sommernacht vorenthalten, ließ Antoinette den Schall ihrer Stimme vollends erlöschen. Dann stand sie geräuschlos auf und schlich sich in ihr Zimmer hinauf. Noch nie hatte das junge Mädchen so deutlich das Gefühl des Gefangenseins empfunden wie in diesem Augenblick, da der Morgenglanz des duftenden Frühsommers ihr vornehm ausgestattetes und zugleich so trauliches Gemach erfüllte, worin so zu sagen jeder Span des weißen Getäfers von der schrankenlosen Selbstherrlichkeit vergangener Tage sprach. Es fehlte nicht viel, so hätte das Heimweh nach einem ganz schlichten Menschen sie verführt, dem Mädchen, welches eben das Zimmer aufräumte, etwas von der Not ihres Herzens anzuvertrauen. Aber noch ehe sie ein Wort dafür fand, war 181 das Mädchen verschwunden. Von Neugier und Mitleid getrieben, war es mit seiner unverhofften Beute ins Revier der dienstbaren Wesen geflohen. Diese Beute bestand in der Wahrnehmung des Leides auf dem Angesichts der jungen Herrin. Also auch da, in diesem so begehrenswert erscheinenden Nest, wohnte das Weh!
Antoinette trat an das weitgeöffnete Fenster. Herrlich lag der blühende, duftende, in Springbrunnengewisper und Vogelfang jubilierende Garten vor ihr, herrlich das blaßgrün verschwimmende Hügelland. Wie Ahnung reiner Gottesfreude leuchteten durch den rosigen Dunstschleier die Hochfirne der Alpen. Und über allem dehnte sich, vom goldenen Fernschein des Horizontes ins unergründliche Blau des Zeniths sich vertiefend, der wolkenlose Himmel.
Plötzlich glitzerte in der Tiefe, wo am Waldrand ein steiler Abkürzungspfad von der Straße abzweigte, etwas in der Sonne. Ein Mann bewegte sich, energisch ansteigend, unter den Buchenzweigen. Auf hellblauem Kaput blinkten Metallknöpfe. Rote Kragenpatten leuchteten.
Antoinette eilte durch den Garten hinunter. Durch die Dämmerung des Kastanienhains flog sie, und wie aus den Wolken geworfen stand ihre leuchtende Gestalt auf dem Pfad zwischen dem bläulich wogenden Roggenfeld und den breitfächernden Ästen der Parkbäume. Heini stand verblüfft. — Antoinette durchzuckte eine 182 ihr unangenehme Empfindung: «Ein Rekrut! Ein flaumiger Bub in dem alle Individualität vernichtenden blauen Mantel, kurzgeschoren, in einer Wolke von Kommisduft, auf grobgenagelten, an Ackergaulhufen gemahnenden Schuhen!» — Und vor diesem Herdenmensch par excellente stand, unvergleichlich an adeligem Wuchs und Wesen, die Erbin von Prankenau. Aber der Glaube sagte: «Der Larve dieses wollenen, mit Kontrollnummern bedruckten, nach der Herde duftenden Kittels kann eines Tages ein werdender Held entschlüpfen.»
Mit der Frage, woher und wohin begrüßte Antoinette den aus seinen Träumen Gerissenen. Er las aber sogleich in ihren Augen, daß ihr die Auskunft über seinen Urlaub und den Besuch bei der Schwester durchaus Nebensache war. Die unerwartete Begegnung, die sich ebenbürtig an das Erlebnis auf der Mitternachtswache reihte, gab ihm zu denken. Fast gebieterisch winkte sie dem jungen Wehrmann, ihr in das Dunkel der Bäume zu folgen, wo sie ihm ebenso bestimmt den Platz auf einer Steinbank neben sich anwies.
«Ich will Sie nicht um das Zusammensein mit Ihren Angehörigen bringen,» sagte sie. «Nur das eine möchte ich wissen, Heinz: Wie steht es nun um Ihre Zukunftspläne? — Hat Ihr Vater sich entschließen können, Ihrem Wunsche zu willfahren?»
Heini ward verlegen. Nach kurzem Besinnen sagte er: «Er weiß noch nichts davon.»
183 «So ist die Entscheidung noch nicht gefallen?»
«Doch.»
«Wieso? Werden Sie bei Ihrem Entschluß bleiben?»
«Ich bitte Sie, Fräulein Antoinette,» bat Heini nach abermaligem Zögern fast unwillig, «machen Sie mir’s nicht noch schwerer, den Weg zu gehen, den ich gehen muß.»
«Sie haben also Ihr Ideal preisgegeben? — Ohne auch nur einen Versuch gemacht zu haben?»
«Es hätte nichts genützt. Ich fand aber auch nicht einmal die Gelegenheit dazu.»
Da faßte Antoinette des Soldaten Hand überm Gelenk und sagte mit eindringlichem Ernst: «Heinz Tillmann, das ist — Feigheit.»
Heini schoß auf: «Sie tun mir unrecht. Am Mute hat’s mir nicht gefehlt; aber ich weiß, warum ich an meines Vaters Seite bleiben muß.»
Noch einmal faßte sie Heinzens Rechte, diesmal mit beiden Händen. Und mit einem fast ängstlich flehenden Blick fragte sie: «Und Sie verzichten endgültig auf Ihre hohen Ziele? — Wollen Sie über ihrem Vater alle andern — leidenden Menschen vergessen?»
Schmerzlich zuckte es um des jungen Mannes Mund, als er antwortete: «Es gilt meines Vaters Wohlergehen.»
Ein weher Blick aus den herrlichen blauen Augen traf ihn. Dann wandte sich Antoinette ab und ging, das Haupt in den Nacken geworfen, langsam weg. 184 Lange noch verfolgte Heinz starren Blickes die weiße Gestalt. Als das Laub des Parks sie völlig verschlungen hatte, trat er in den Fußpfad hinaus und wanderte, seine Verwirrung niederkämpfend, der Känelmatt zu. Immer wieder hemmte etwas seinen Schritt, immer wieder wollten seine Augen die Entschwundene suchen. Aber Heinz Tillmann machte seinen Nacken steif und zwang seine Schritte heimwärts.
Lautlos war Frau Dorothea auf die Freitreppe des Schlosses hinausgetreten. Der Frühstückstisch stand mit all seinem blinkenden Durcheinander da, genau wie sie ihn verlassen hatte. Ihr aufflackernder Unwille verflog indessen ob dem Anblick des schlafenden Greises. Ein banger Gedanke durchzuckte sie. Behutsam tat sie ein paar Schritte gegen den in sich Zusammengesunkenen. Er atmete, aber nicht erquicklich. Etwas Beengendes zuckte auf seinen Zügen, und es sah aus, als ränge er nach Atem zum Reden. Ihn zu befreien, trat sie näher und rief: «Onkelchen?» Da war die Angst weg. Aber Herrn Scipios Augen blickten stier nach dem Garten, aus dessen äußerster Baumgruppe eine weiße Gestalt dem Hause zustrebte.
«Onkelchen, ist Ihnen nicht wohl?» — «Wollen Sie etwas trinken?» fragte Frau von Guldwang, und ohne eine Antwort abzuwarten, goß sie von dem kalten Kaffee in des alten Herrn Tasse. Nur um ihre Besorgtheit zu heben, tat er einen Schluck. Er bewegte sich frei und sicher, aber sein Blick blieb düster.
185 Als Frau Dorothea sich umwandte, bemerkte sie Antoinette, die sich von der andern Seite der Freitreppe näherte. Auf ihrer Mutter Frage nach Aufschluß über den seltsamen Zustand des alten Herrn, erwiderte Antoinette mit erzwungener Gelassenheit: «Er ist mir über dem Lesen eingeschlafen. Da dachte ich...»
«Man darf ihn nie allein lassen,» tadelte Frau von Guldwang.
Mit einem Ächzen, das nicht ernst genommen sein wollte, erhob sich Herr Scipio und trippelte, von seinem Hund umkreist, in den Park hinunter. Der Traum, der ihn um des Schlafes Erquickung gebracht, hatte etwas mit dem großen gelben Kuvert zu tun, das droben auf seinem Schreibtisch lag. Es enthielt neben dem Begleitschreiben seines Sachwalters zwei Kaufsangebote für die Schloßdomäne. Das eine kam von der Finanzdirektion des Staates Bern, das andere von den «Oberländischen Kuretablissements.» Beide hatten Herrn von Guldwang in Entrüstung gebracht, und er wußte schon ziemlich genau, wie seine Antwort an den Sachwalter zuhanden der Käufer lauten sollte. — Nette Auswahl! — Prankenau ein staatlicher Unterschlupf für schiffbrüchige Existenzen oder dann Batzenfalle für ein Konsortium oberländischer Fremdenmarder! — Da würde man sich denn doch noch besinnen.
* * *
186 Drüben im kleinen Gemüsegärtchen der Känelmatt saßen zur selben Stunde die Geschwister Tillmann auf der alten Bank, wo sie oft mit der Mutter geplaudert hatten. «Ist die Freundin von Antoinette nicht mehr bei Guldwangs?» fragte Heini seine Schwester, und Röseli wußte zu berichten: «Sie haben sich, wie es scheint, gar nicht mehr vertragen, Antoinette und Lilian Merle. Lilian ist nach Genf verreist.»
Der harmlos weiterplaudernden Schwester fiel auf, daß Heini ihr nur noch halb zuhörte. Den ganzen Tag blieb er zerstreut. Und als er gegen Abend wegging, lehnte er Röselis Begleitung ab. Er müsse eilen, sagte er, und schlug den Fußpfad über die Prankenauer Zelg ein. Aber gar so eilig schien er’s doch nicht zu haben, als sie ihm von der Laube aus nachblickte.