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I.

Mir ist mitten in dieser öden Winterszeit, da bleigraue Wolken das Land überwölben, als sähe ich ihn noch, den kleinen Heini Tillmann mit den — ja, auch bleigrauen, aber in warmer Treuherzigkeit leuchtenden Augensternen und dem immer verstrubelten braunen Lockenschopf, wie er im Riedgras liegt und mit einem dürren Ästchen winzige feine Bächlein auf die «heiße Platte» leitet. Die «heiße Platte» nannten sie im Werlental einen anderthalb Ruten großen Gletscherschliff, der abgeschürft in der Berghalde lag. Im Frühsommer heizten die Sonnenstrahlen just während der Nachmittags­schule den kahlen Stein derart an, daß die heimkehrenden Kinder ihren Spaß daran fanden, einander die Hände auf den Fels zu drücken. Der Vögeli-Ruedi setzte seine kleinen Kolleginnen immer damit in Staunen, daß er Phosphorhölzchen an dem heißen Stein in Brand setzte — angeblich ohne zu streichen.

Für den herrlichen Sommerduft, der sich über die Wiesen des Tales und die dunklen Wälder der Hügelketten legte, hatte Heini keinen Blick, nicht einmal für die Schneeberge, die zwischen Ballenbühl und Belpberg herein den durch baumreiche Schächen in die weite Welt hinausfliehenden Gletscherwellen der Aare nachstaunten. 6 Die große Uhr drunten am käsbissenförmigen Kirchturm von Schöchwyler hatte gut mahnen; Heinis einziges Augenmerk galt den schillernden Dämpflein, die wie Elfenschleier von der «heißen Platte» in die lachende Lichtflut des Himmels entschwanden.

Plötzlich aber spürte der träumende Knabe etwas mächtig Schattendes herankommen, und noch bevor ihm klar zum Bewußtsein gekommen, was das zu bedeuten hatte, stand schwer und groß der Vater hinter dem aufgeschreckten Büblein. Jäh durchzuckte den Kleinen die Erinnerung an den neben ihm im Gras versunkenen Henkelkorb, an den Gang zum Krämer, die Schule, die längst verlaufene Kinderschar, die fernen Glockenschläge von Schöchwyler, die Heimkehr und an — die Mutter. Potz Kuckuck! Der Vater schon da und ich noch nicht daheim! — Heini beachtete auch jetzt noch nicht, daß ja die Schatten des abendwärts liegenden Amselberges noch gar nicht über die Werlen herangeschlichen waren, daß also der Vater früher als sonst heimgekommen sein mußte. Er schnellte auf, zupfte sein Röcklein herunter, wunderte sich, daß er noch keinen Bretsch auf seinem Sitzlederchen fühlte und noch mehr, daß der Vater das Sumpfgemälde auf seinen Zwilchkleidern nicht einmal zu bemerken schien, während Heini doch die Nässe bis aufs Bäuchlein herein verspürte.

Diese Empfindungen waren sich blitzschnell gefolgt und wurden alle miteinander ausgewischt durch des Vaters Frage: «Was treibst du da?»

7 Nun tat Heinis Herz einen Hupf aus der Angst. «Schau, wie das dampft,» sagte er schnell und wollte den Vater für sein Spiel interessieren. Aber der sah nicht einmal hin, hieß vielmehr durch eine Handbewegung sein Söhnchen den Korb aufnehmen und schritt ihm voran dem Wege zu. Der Weg schlängelte sich auf halber Höhe dem weiten Graben entlang, der die große Tallehne durchschneidet, kreuzte beim Kehrhüsi die Straße, die in groß hingezeichneten Serpentinen das Werlental mit dem östlichen Hochplateau verbindet und über dessen waldige Hügelzüge ins Emmental sich verliert. Vom Kehrhüsi schlüpft der Fußsteig durch eine Verengerung des Grabens in die Känelmatt hinauf, eine weltabgeschiedene, flachgründige Mulde, die vor Zeiten ein Bergseelein geborgen haben mag. Jetzt standen da sonnenhalb ein ansehnliches Bauernhaus und etwa hundert Schritte herwärts ein Stöcklein. Hier wohnten Tillmanns. Das Heimet war anzuschauen wie der leibhaftige Friede auf Erden, in Sonderheit das Stöcklein. Vor seiner weißgetünchten, durch dunkelbraune Balken in drei- und viereckige Felder geteilten und von einem gewalmten Bernerdach gekrönten Fassade lag ein mit niedrigen Buchshecken ebenso ordentlich abgeteiltes Gemüsegärtlein, aus dessen Zierbeeten schlanke Rosenstämmchen ihre duftströmenden Maien emporhielten. Zu beiden Seiten bauschte sich das dunkelgrüne und elfenbeinfarbene Gescheck üppiger Hollunderbüsche, und etwas abseits standen in einem offenen Häuschen zwei 8 Reihen altmodischer Bienenkörbe, umschwärmt von honigschweren Völkern. Gegen Morgen rankten sich blühende Bohnenstauden in einem stattlichen Wäldchen von hochragenden Sticheln empor, und daneben grinste in farbenfreudiger Zugskolonne eine Kompagnie Kohlköpfe zu der silberig flimmernden Pappel hinauf, die wie ein Kampanile das Stöcklein behütete.

Wenn trotz alledem den Bewohnern des Stöckleins in diesem Paradies nicht ganz so wohl war, wie man meinen sollte, so waren daran nicht etwa die kleinen Verhältnisse oder die Einsamkeit schuld, auch nicht die harte Pflicht, welche den arbeitsamen Vater Tillmann an jedem Werktag in die brausende Welt hinausrief, sondern etwas, worüber jeder Weltweise hellauf lachen müßte. Da guckte nämlich über den schön abgerundeten Hügelwalm, der wie ein mütterlicher Arm die Känelmatt von der übrigen Welt abschloß, etwas wie eine versteinerte Riesenknospe, und das war der stilvolle Firstknauf des Schlosses Prankenau. Ja, dieser seit mehr als hundert Jahren an den mächtigen Firstbalken geschmiedete guirlanden­geschmückte Topf drohte, weiß Gott, zur Aschenurne von Hans Tillmanns Seelenruhe zu werden. So oft er morgens aus dem obern Stock auf die Laube hinaustrat, warf ihm der Knauf den ersten Sonnenstrahl entgegen, und abends, wenn er noch sein Pfeifchen auf der Laube schmauchen wollte, um den letzten Sonnenhauch auszukosten, saß ihm der kokette Schattenriß mit seinem ganzen hohlköpfigen Rokoko-Übermut 9 mitten im schönsten Abendrot. «Hans,» hatte Frau Tillmann schon oft gesagt, wenn sie ihn von Kanonen, Herunterschießen und dergleichen Dingen knurren hörte, «ich wollte, mir täte niemand mehr zu leid, als der taubstumme Knopf da drüben.» — «Frau,» pflegte dann Tillmann zu poltern: «Red’ nicht von Dingen, die du nicht verstehst. Taubstumm! — Der Hallunke ist so wenig taubstumm als ich. Der redet von seinem Dach herunter wie ein geschliffener Advokat. Wenn er sich noch begnügte mit dem, was er wider Willen aus seinem dicken Bauch herausgluckst von vergangenem Wohlleben und gottlosem Übermut! Dann könnte unsereiner noch lachen, wenn eine Krähe sich auf seinen Hut setzt und triumphiert: ’s war, ’s war. Aber der hält ja ganze Reden zur Verteidigung derer, die ihn auf diese Warte gestellt haben, ein Geflunker von berechtigter Lebenslust und besänftigender Anmut.» Ja, von seidenen Stöckelschuhen und wunderlichen Frisuren, von betäubendem Parfum und schnörkeligen Komplimenten surrte die Blechurne, wenn Hans Tillmann in redlichem Schweißdunst seine kotbeschwerten Schuhe müde von sich warf.

Heini hatte schon hin und wieder seinen Vater etwas wider den Knauf brummen gehört. Was es damit für eine Bewandtnis hatte, war ihm unklar. Einmal hatte er danach gefragt; aber er tat’s nie wieder. Das war sicher. Ärgerte sich die Mutter über das Gepolter, so tröstete sie Heini: «Wart nur, wenn ich einmal groß bin!»

10 Heute war Heini hingegen mit Trost nicht so schnell bei der Hand, als er abends, auf der Laube spielend, die Mutter aufbegehren hörte.

«Was ist jetzt das wieder?» schalt sie in der Küche. «Heini, wo bist?» Der Kleine wollte sich treppab stehlen; aber der Mutter Befehl, hereinzukommen, kreuzte seinen Schleichweg. Da half nichts. Hinein mußte Jung-Heinrich, in die Küche, wo — o Schreck — das Körblein ausgepackt auf dem Tische stand.

«Wo bist mit dem Körbli gewesen?»

Da war weder Stimme noch Antwort. Bange Ahnung erstickte jeden Entschuldigungs­versuch. Es hätte auch der väterlichen Aufklärung nicht bedurft, als die Mutter den mit Zuckerwasser getränkten Boden des Korbes zeigte und schimpfte, auch das Mehlsäcklein sei «drecknaß» bis halb hinauf.

«Dir will ich das Koseln austreiben,» sagte der Vater, und auf einmal schwebte Heini Tillmann in des Vaters linker Hand, wie weiland Ganymed in den Klauen des Adlers, auf die Laube hinaus, und tat vor Angst genau dasselbe wie der kleine Ganymed, der vor Heini nur den Vorzug genoß, keine netzbaren Höslein anzuhaben. Der Vater — das war Erfahrungs­tatsache — kriegte den herzförmig geflochtenen Möbelklopfer immer verkehrt zu fassen, wenn’s an lebende Wesen ging. Seiner im Garten arbeitenden Schwester Röseli vermochte Heini mit Aufbietung aller Energie das Wehegeschrei vorzuenthalten; aber das wupp — 11 wupp — wupp der Meerrohrgerte hörte sie doch, und sie schwankte zwischen Mitleid und Schadenfreude, da der Knirps eben noch unartig mit ihr gewesen. So war nun natürlich bei der Schwester auch kein «Heile, heile Segen...» zu erwarten. Heini verkroch sich deshalb mit einem furchtbaren Groll wider die Menschheit im Kaninchenstall. War auch aus den runden Achataugen seiner Insaßen kein eigentliches Mitleid zu lesen, so tat’s doch dem Büblein unsäglich wohl, daß so ein harmloses flaumiges Wesen seine Liebkosungen sich bedingungslos gefallen ließ.


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