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XII.

Ein schwüler Maientag neigte sich seinem Ende zu. Noch lag seine öde Helle über brütenden Gassen und ließ ohne Uhr die Stunde nicht erraten. Aus der Türe des alten Rathauses vom Äußern Stand traten ab und zu Leute, die es in der Stickluft des überfüllten Schwur­gerichts­saales nicht mehr ausgehalten hatten. Andere standen schon lange auf den gegenüber­liegenden Trottoirs herum. Sie erwarteten mit wachsender Ungeduld das Urteil in der Totschlags-Verhandlung Tillmann, welche den ganzen letzten Winter hindurch an allen Wirtshaustischen und auf zahllosen Ofentritten des Werlentales erörtert worden war. In den Gesellschafts­schichten, denen die Familie Guldwang angehörte, verfolgten nur wenige Leute den Prozeß mit Spannung. Sie hatten sich aufgeregt an den Einzelheiten des Verbrechens. Heute gab schon der Verkauf des Schlosses an den Staat mehr zu reden.

Kopf an Kopf drängten sich hinten im Zuhörerraum die Neugierigen. Wie eine Schulklasse im Examen saßen die Geschworenen da. Ihre Augen hingen an der 216 Gestalt des Verteidigers, der von seinem Pult aus über den Angeklagten hinweg an das Mitgefühl der zum Klumpen zusammen­gedrängten Volksmenge appellierte. Aus diesem hundertköpfigen Ungetüm wollte er die Schwingungen herauslocken, denen die Geschworenen erliegen mußten. Die Richter lehnten, scheinbar gleichgültig, in ihren Fauteuils. Niemand kam ihnen nahe genug, um in ihren Augen die Belustigung über die Trapezkünste des Anwaltes zu bemerken. Ab und zu, wenn ein Murren oder ein beifälliges Gemurmel jenseits der Schranke vernehmbar wurde, wandte der Präsident sein Haupt mit abmahnendem Blick dem Volke zu.

Hans Tillmann hatte den Gerichtssaal als gebrochener Mann betreten. Mehr noch als alles, was hier zu seinen Gunsten in berechneten Worten vorgebracht wurde, hatte sein Mitleid erweckendes Aussehen bei Volk und Geschworenen ausgerichtet. Er war sich dessen nicht bewußt. In den qualvollen Tagen und Nächten seiner Untersuchungs­haft hatte die Reue vollständig die Oberhand gewonnen über alles, was er sich zu seiner Rechtfertigung mit Hilfe des Advokaten zurechtgelegt. Dieser hatte ihm vieles von seinem Schuldbewußtsein hinweggeredet; aber die Erinnerung an gewisse Worte seiner verstorbenen Frau, an Warnungen von Frau Schraner und den Gedanken an die Zukunft der Kinder vermochte niemand und nichts zum Schweigen zu bringen. Und auch jetzt wieder war es ihm, als 217 stünde seine Frau irgendwo im Saal und verhüllte weinend ihr Haupt. Wenn nur um Gottes willen keines seiner Kinder zugegen war! Die Anklagen des Staatsanwaltes hatten ihn verbittert, weil sie so grausam über alle Gründe des Verstehens seiner Tat hinweg den ungeheuerlichen Hergang des Totschlages ans grelle Licht stellten und Zweifel aufkommen ließen, ob nicht sogar Mord vorliege. Da schon hatte das Bedauern mit sich selbst die Bußfertigkeit auf die Seite gedrängt. Und nun donnerten vom Pult des Verteidigers Worte über seinen gesenkten Scheitel hinweg, die ihm erlaubten, die Hände vom Gesicht wegzunehmen und fragende Blicke in das Publikum zu werfen. Wie ein Baum nach dem Abschmelzen der Schneelast, so richtete Hans Tillmanns Herz sich langsam wieder auf, als Dr. Bär ausführte:

«Wenn der Herr Staatsanwalt als mutmaßliches Motiv zu der übereilten Tat eine gewisse feindselige Stimmung des Angeklagten gegen den Herrn von Prankenau erwähnte, so deutet das nur auf ein Schuldbewußtsein der Familie von Guldwang. Wohl hätte mein Klient Grund gehabt zur Erbitterung gegenüber diesen Leuten, die den Stolz auf ihre Abstammung herausfordernd zur Schau tragen, auf die Abstammung von grausamen Volksbedrückern. Von dieser Provokation ist bisher nicht gesprochen worden. — Versetzen Sie sich in die Lage des Angeklagten, meine Herren Geschworenen! Hans Tillmann hat zwei liebe Kinder, ein Mädchen, das sein Haus mit Sonnenschein zu erfüllen 218 trachtete, und einen Jüngling, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, um so mehr, als der Vater jedes Opfer auf sich nimmt, um die glänzenden Gaben seines Sohnes durch entsprechende Bildung zur Entfaltung zu bringen. Ein grausames Schicksal entreißt dem Angeklagten die Gattin in dem Augenblick, da die Erziehung der Kinder einer Mutter am allerwenigsten entbehren kann. Der seiner Lebensgefährtin beraubte Mann arbeitet unverdrossen weiter. Gerne würde er eine zweite Ehe eingehen, um sich und seinen Kindern ein trauliches Heim zu erhalten — wahrlich ein Lebensanspruch, den ein in so harter Arbeit stehender Mann wohl hegen darf, um so mehr, als ihn seine Berufspflichten wochen-, ja monatelang vom Hause fernhalten. Eine junge Witwe von trefflichem Charakter findet sich bereit, ihm die Hand zu reichen, seinen Kindern eine Mutter zu sein. Er versagt sich dieses Glück, weil er um der Kinder willen seine Familien­verhältnisse nicht komplizieren will. Er verzichtet darauf, weil seine Kinder ihn zur Hoffnung berechtigen, daß sie bald mit ihrer eigenen Arbeitskraft ihm zur Seite treten und das Werk mit Erfolg krönen werden, das er ihnen zulieb auf sich genommen.

Was tun nun seine vornehmen Nachbarn? — In heuchlerischem Erbarmen für die Halbwaisen benützen sie die häufige Abwesenheit des Vaters, um sich in die Familien­angelegenheiten einzumischen und den Sohn im Augenblick, da er die Fachstudien beginnen soll, die 219 ihn an des Vaters Seite führen würden, hiervon abwendig zu machen. Beinahe wäre ihnen dieser Eingriff gelungen.

Und mehr noch! Die pietistisch selbstgerechte Herrschafts­familie findet es auch notwendig, ihr Seelenheil zu erkaufen mit einem ‹guten Werk› an Vater Tillmann selber. Sie hält ihn für einen Trunkenbold und will ihn retten. Sie schickt ihm einen Arzt auf den Leib, um ihm ein Abstinenz­gelübde abzuringen.

Der in allen Sätteln der Finanzwelt gerechte Neffe des Schloßherrn von Prankenau weiß die Projekte des mühsam um sein Vorwärtskommen ringenden Mannes zu hintertreiben. Nicht genug daran, daß er den Schloßbesitz von Prankenau, der ohnehin veräußert werden soll, in eines andern Käufers Hände spielt, um den Angeklagten eines möglichen Gewinnes zu berauben, warnt er diesen hinterdrein noch vor gewagten Spekulationen. Aus Christenpflicht will er gehandelt haben. Hören Sie, meine Herren Geschworenen, was man in diesen frommen Kreisen unter Christenpflicht versteht!»

Nachdem der Advokat dem glotzenden Saal jenen Brief des Herrn Fernand vorgelesen, fuhr er fort:

«Glauben Sie aber nicht, der alte Herr auf Prankenau sei an diesen Heraus­forderungen unbeteiligt geblieben. Nicht imstande, sich auf dem Rechtswege der Drainierung der Zelg zu widersetzen, deren Versumpfung er durch den mangelhaften Unterhalt seiner hoch­herrschaftlichen Wasserkünste verschuldet, macht sich der 220 eigensinnige alte Mann ein Vergnügen daraus, dem Angeklagten die Arbeit zu erschweren, indem er sich hartnäckig weigert, seine Teiche entleeren zu lassen.

Hat auch der Angeklagte durch all diese Schikanen, die geeignet waren, ihm das Leben zu verbittern, sich zu keiner feindseligen Handlung bestimmen lassen, so erklären sie doch zur Genüge die Gemütsverfassung, welche die Voraussetzung zu der übereilten Tat eines so rechtschaffenen ruhig seinem Beruf lebenden Mannes bildet.

In dieser überreizten Stimmung sehen wir ihn am verhängnisvollen 10. November seine Arbeit antreten. Sie war hart und unerfreulich, diese Arbeit, das Wetter kalt und feucht. Dies veranlaßte ihn, wie die Zeugen übereinstimmend aussagen, seiner Feldflasche öfter zuzusprechen, als ihm bekömmlich war. Meine Herren Geschworenen, ich bitte Sie, das nicht außer acht zu lassen. Wäre der Angeklagte der rettungs­bedürftige Alkoholiker gewesen, um den die Familie Guldwang sich bemühen zu müssen glaubte, so würden ihn die paar Schlücke gebrannten Wassers nie und nimmer in jenen Zustand verminderter Selbst­beherrschung versetzt haben.

Man hätte selbst bei raffiniert ausgesonnener Provokation eines Raufhandels nicht erfolgreicher gegen Tillmann vorgehen können. Als der Tag sich neigte, ohne ein befriedigendes Resultat der Arbeit gezeitigt zu haben, muß es sich der Angeklagte gefallen lassen, daß das überflüssigste Geschöpf der ganzen Umgegend, der 221 zu keinem rechten Dienst mehr fähige, zum Schoßhund degradierte, verwöhnte und, wie es scheint, doch hungrige Jagdhund des Schloßherrn die Provianttaschen der Arbeiter nach Resten ihres kärglichen Mahles durchschnuppert.

Wer von Ihnen, meine Herren, würde sich da enthalten haben, dem herrschaftlichen Hundevieh einen Fußtritt zu versetzen? Und nun erfolgte die letzte Provokation, die — allein schon schwer genug — nur noch den Tropfen darstellt, der das Maß voll machen mußte. Darf sich ein rechtschaffener Mann in leitender Stellung vor seinen Untergebenen um eines überflüssigen Hundes willen von einem notorischen Nichtstuer beschimpfen lassen, unter dessen Launen die ganze Gemeinde zu leiden hat? Ich glaube, wir alle würden uns zur Wehr gesetzt und vielleicht nicht einmal, wie Hans Tillmann es tat, die tätliche Bedrohung mit der geladenen Schußwaffe abgewartet haben. — Erst auf diese hin, entreißt der Angeklagte seinem Gegner die Waffe, nicht um sich zu rächen, wozu er Grund genug gehabt hätte, nicht um einen lästigen Störer und Feind seiner nützlichen Arbeit zu beseitigen — das alles nicht, trotz seines erregten Zustandes und der durch Alkoholgenuß verminderten Selbst­beherrschung — sondern nur, um sich gegen den Angriff eines ganz unberechenbaren ehemaligen Troupiers und aristokratischen Abenteurers zu schützen, um seinen Kindern den Vater zu erhalten.

Zugunsten Tillmanns spricht auch sein ganzes Verhalten 222 nach dem Unglück. Er läßt den Verwundeten heimschaffen, er holt selbst den Arzt. Die Landjäger finden ihn auf dem Gottesacker zu Schöchwyler, hingestreckt neben dem Grabe seiner Frau, der er sein furchtbares Unglück klagen wollte. Ergreifend ist der Ausbruch seiner Reue im Gefängnis.»

Während dergestalt Berni Bärs Vater Hans Tillmanns Bußfertigkeit erfolgreicher niederkämpfte als die Gegenargumente des Staatsanwaltes, bemühte sich Mirabeau, seinen düster blickenden Freund Heini durch die Versicherung aufzuheitern, daß es seinem Vater gelingen werde, eine Freisprechung zu erwirken. Beide warteten in der Schreibstube des Anwalts auf den Bureaudiener, der ihnen Bericht bringen sollte. Entweder würde der Freigesprochene selbst Heini abholen kommen oder dann wollte Dr. Bär ein kurzes Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn auswirken. Die Qual des Nachmittags wollte kein Ende nehmen. Als es vom nahen Turme sieben Uhr schlug, trat Heinz Tillmann wieder einmal an das offene Fenster, um nach dem Gerichtsgebäude zu spähen. Ihn dünkte, es stünden etwas mehr Leute herum als vor einer halben Stunde — es waren erst zehn Minuten verstrichen, seitdem er das letztemal hinausgeschaut. Aber es mochten nur solche sein, die zum Nachtessen heim sollten, und im Weggehen lauschten, ob nicht vielleicht jetzt gerade die Beratung zu Ende ging. Nun wollte Heinz nicht mehr vom Fenster weg. Er setzte sich auf das Gesimse und 223 ließ seine Blicke gaßauf und gaßab schweifen. Plötzlich schien ihn etwas da drunten zu fesseln. Berni trat ans Fenster und fragte: «Kommt er?»

Heinz überhörte die Frage. Seine fieberigen Blicke folgten drei Gestalten, die sich die Straße hinunterbewegten: Antoinette von Guldwang zwischen ihrem Vater und — ja ja, das war er — Marcel Delierre. Und am Ende der Gasse wartete der Guldwangsche Wagen. Heinz kannte die Pferde und den Kutscher. Durch seine Brust wühlte etwas, das noch stärker angriff als die Spannung auf das Urteil. Nie und nimmer hätte Heinz das irgendwem zugegeben; aber es war da und brachte in seine Seele neue Gärung und Verwirrung. Er verfolgte Delierre und Antoinette mit solch gespannter Schärfe, daß ihm der Bureaudiener entging, der beflügelten Schrittes die sich mehrende Menge durchschritt.

Berni riß seinen Freund los mit dem Ruf: «Da ist er. Komm!» Er zog den erschreckten Heinz vom Fenster und reichte ihm den Hut. Heinz war wie betäubt. — Also nicht der Vater selbst kam. — Das bedeutete...

Mit zitternden Knien stieg er hinter Berni die Treppe hinunter. Im Hausgang begegneten sie dem Diener, der Heinz meldete, Dr. Bär erwarte ihn im Vestibül des Gerichtshauses. Hinauseilend hörte er den Diener zu seinem.Freunde sagen: «Achtzehn Monate.» Heinz bohrte sich durch den summenden Menschenstrom, 224 der auf die Gasse herausflutete. Er hörte nicht, wie da und dort einer sagte: «Der junge Tillmann!» Er sah weder die verblüfften, noch die mitleidigen Blicke. Er stürmte durch das dunkle Gewirr, drängte wider lebende Hindernisse, schob, ohne ihn zu kennen, den Bankier Ryter auf die Seite, sah Uniformknöpfe vor sich und wußte kaum, was mit ihm geschah, als der Landjäger­korporal und Dr. Bär ihn in ein Hofzimmer mit vergitterten Fenstern schoben. — Aber da — da saß der Vater in sich zusammen­gebrochen. Er hob nicht einmal den Kopf, als Heinz auf ihn zutrat, ihn wortlos umarmte und ihm mit seinen Tränen den Scheitel benetzte.

Dr. Bär war ein gewaltiger Redner und bot, wenn es galt, einer tobenden Volksmenge die Stirne; aber wo der Schmerz aus Abgründen schrie, versagte sein Mut. Er ließ die zwei mit dem Landjäger allein, den die Amtspflicht zwang, einem Erlebnis standzuhalten, das ihm die blinkenden Tränen über die wetterharten Wangen jagte.

Als Heinz Tillmann das Gebäude verließ, bemerkte er kaum, daß die Menge sich so ziemlich verlaufen hatte. Er war sich überhaupt nicht recht klar, was mit ihm vor sich ging. Zwei Menschen hatten ihn in ihre Mitte genommen und führten ihn langsam über die Straße. Der eine redete mit lieber Stimme auf ihn ein. Worte wie: sich nicht unterkriegen lassen, auf die treuen Freunde zählen, mit frischem Mut den Beruf ergreifen, den einzig 225 richtigen für ihn, Theologie, aller Sorgen enthoben sein, klangen Heinz in den Ohren. Erst allmählich ward ihm bewußt, daß er zwischen Mirabeau und Delierre schritt und stand. Mit allmählich wiederkehrender Stille des Gemütes hörte er ungläubig staunenden Blickes dem eindringlichen Anerbieten Delierres zu. Und auf einmal stand dicht vor ihm mit groß aufgerissenen ängstlich drängenden Augen Antoinette von Guldwang. «Heini!» sagte sie, als wollte sie ihn beschwören, «nicht wahr, Sie folgen dem Rat Ihres Freundes? Tun Sie das! — Jetzt nur nicht verzagen! Jetzt müssen Sie ein neues Leben anfangen.» Flüsternd fügte sie bei: «Lassen Sie mich nicht im Stich!» Delierre warf einen staunenden Blick auf Antoinette. Da zerriß jählings ein mark­erschütternder Schrei die Luft. Aller Augen richteten sich nach der Türe des Gerichtsgebäudes, wo, von zwei Landjägern gehalten, Vater Tillmann die Faust freizubekommen suchte. Seine Züge waren flammendes Blut, blinkende Kiesel die Augen. Und mit dem ganzen Leibe ringend, schrie er gegen die Gruppe der jungen Leute, hinter welcher Herr Fernand von Guldwang stand: «Das nicht! Euer verfluchtes Erbarmen soll mir mein Kind nicht stehlen! — Heini! Hörst du?»

Die Landjäger zerrten den Widerstrebenden durch den sich neu bildenden Auflauf hinweg.

Die jungen Leute standen starr, bis Heini mit erstickender Simme zu Antoinette sagte: «Ich kann nicht!» und, sich losreißend, davonstürmte.


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