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IV.

Ein Frühlingstag, der jeden geschlossenen Raum zur Folterkammer machte, lag über dem Lande. Dazu war es Samstag­nachmittag. Wer mochte sich da wundern, 56 wenn der noch kaum knospende Buchenwald am Amselberg von jungen Stimmen widerhallte? Es war nicht das ziel- und regellose Geschrei spielender Kinder. In buntem Wechsel lösten übermütig gesungene Sätze der Marseillaise, trutzig dawider geschleuderte Vaterlandslieder, aufdringliche Tiraden einzelner Redner und wildes Durcheinander­schreien einer ganzen Schar sich ab. Dieser Lärm fegte, gleich einer Windsbraut, die ihr Gewand an tausend Ästen zerfetzt, durch den Wald hin, als suchte er in die lichte Bläue hinauszukommen, welche zwischen den mattsilbernen Stämmen und den braunen Besen der Baumkronen zum Flug in die Weite lud. Aus dem raschelnden Laube, das den Boden bedeckte, guckten zu Tausenden die Anemonen, aufhorchend, was denn da für ein Heidenlärm das sehnsuchtsvolle Sausen der Wipfel so ungestüm störe. Und jetzt entdeckten die Blumen, daß es schon ganz waldwarm duftete. Am unzählbaren Heer der Stämme wallten die goldenen Sonnenfluten auf und nieder. Heraus, heraus, in die Luft, in die duftige Ferne! war des Tages Losung.

Die jugendliche Schar hatte eine der Waldlichtungen des Rautenberges erreicht, aus denen der Blick ungehemmt über die reichen Triften des Aaretals zu den Hochalpen hinüberschweift. Heute ließen sich die Schneeberge nur ahnen. Nur die im direkten Sonnenlicht liegenden Firnfelder vermochten den blassen Frühlingsdunst zu durchscheinen. Heini Tillmanns Klassenkameraden fragten auch gar nicht nach den himmelragenden 57 Zinken und Hörnern. Ja, die ganze Lenzespracht war ihnen kaum zum Bewußtsein gekommen. Das Bedürfnis, sich auszutoben, war der einzige Beweggrund ihrer Wanderung. Sie waren nämlich am Morgen in der Geschichtstunde zur französischen Revolution gekommen, und Dr. Ellenstab hatte sich in seiner Erzählung an Rouget de Lisle so erwärmt, daß sein Feuer auf die Herzen seiner Schüler übergesprungen war. Es waren etliche unter ihnen, deren erwachende Lebenssehnsucht schon einen Keim von politischem Empfinden in sich barg, allen voran Berni Bär, den sie Mirabeau nannten, ein gedrungener Kerl, der bereits wußte, auf welchen Platz er sich einst im Nationalrat setzen wollte. Auf dem ganzen Weg hatte er seine Kameraden belehrt, es müsse Seele in die schweizerische Politik kommen. Man ahnte wohl, daß Mirabeau das irgendwo aufgeschnappt habe und wahrscheinlich nicht ganz im Klaren sei über den Sinn dieser Forderung; aber er brachte sie mit solcher Überzeugung vor, daß doch entschieden etwas dran sein mußte. Da er konsequent immer der letzte im Range war, genoß Bär in der Klasse eine eigenartige demokratische Sympathie. An Anhang übertraf ihn nur Marcel Delierre, ein Tunichtgut aus dem Neuenburgischen, der mit allem ausgestattet war, was den Deutsch­schweizern an einem welschen Kameraden imponieren kann. Groß, schlank, geschmeidig und hübsch von Angesicht, gab er sich immer verdammt schick. Er trug eine baskische Nütze, die ihm verwegen übers Ohr 58 hing, und Kniehosen mit eleganten Wadenstrümpfen, was damals noch nicht allgemein Mode war. Immer war er elegant krawattiert und ließ einen sauberen Taschentuchzipfel aus der Brusttasche gucken. Delierre, der sich je nach der Gesellschaft, die er um sich hatte, auch de Lierre nannte, war in Bern bei einem Pfarrer der französischen Gemeinde in Pension gegeben. Zum geheimen Schmerz dieses braven Mannes setzte er allen Besserungs­versuchen einen still­schweigenden Widerstand entgegen. Er tat das aber mit einer gewissen Grazie, und trug eine Leichtfertigkeit zur Schau, welche die Lehrer in Verzweiflung, die Mitschüler in Bewunderung versetzte. Dabei war er frühreif und verfolgte mit leiden­schaftlichem Interesse alle möglichen technischen Fragen, war tüchtig in der Mathematik und verblüffte alt und jung mit geschickten Experimenten. Es war bei allen ausgemacht: Marcel Delierre würde ein Ingenieur ersten Ranges werden, wenn er nicht in seinem gottlosen Leichtsinn Schiffbruch litt. Seinem Pfarrherrn entronnen, riß Marcel auf dem Rautenberg all seine Kameraden in seinen Übermut hinein.

Mit ihm atmete auch Otto Tremp auf, dessen Vater mit Resignation eine Aktenmappe ins Bureau und vom Bureau wieder in die Wohnung trug und nur einen Gedanken hatte: seinem Söhnlein die große Enttäuschung des Lebens zu ersparen. Es regnete beständig Ernüchterung auf den armen Jungen, der den Eindruck einer ungeduldig aufgefingerten Knospe machte. Er litt 59 immer unter der Befürchtung, daß jede Ausgelassenheit, jedes für sein Alter irgendwie kindische Tun bei seinem Vater stöhnende Mißbilligung finden werde. Ähnliche Leiden schleppte Franz Dengeler mit auf die Ausflüge. Dem wurde jedesmal eingeschärft, daß, wenn eingekehrt sein müsse, jedenfalls nur Milch getrunken werden dürfe. Und nun hatte der gute Franz auf jedem Ausflug die schmerzlichsten Charakterproben auszustehen. Er war immer gegen das Einkehren. Ließ es sich nicht umgehen, so trank er mit den andern Bier, verdarb sich damit die Freude, spülte unter dem Spott der Kameraden beim letzten Brunnen vor der Stadt den Mund aus und log daheim, man sei nicht eingekehrt, so daß Papa Dengeler sich weidlich über das brave Gebaren der Jugend freute.

Augenblicklich waren diese Leiden und Schatten vergessen. Als müßte das Gute von allen Bergen herabströmen, aus allen Tiefen aufwallen, so war ihnen zumute, und keiner fragte, in welcher Gestalt es erscheinen würde.

Mit Singen und Schreien ging’s weiter durch das harzduftende Dickicht junger Tannen, die ihre schlanken Herzschoße ins Sonnengold tauchten. Wieder lichtete sich der Wald. Eine Wiesenmulde voll Schlüsselblümchen breitete sich vor den Füßen der Wanderer aus. Durch ihre Senkung glitt ein Sträßchen in den Osthang des Amselberges, aus dessen Flanke der schimmernde Giebel des Wirtshauses von Rautenberg sich erhob. Man hatte 60 sich durstig geschrien und folgte, als ob es etwas anderes nicht gäbe, dem Sträßlein in den Trichter. Franz Dengeler bremste. Er folgte ihnen von ferne, aber er folgte wie das Blütenblättlein auf dem Spiegel des Brunnentroges und — schwapp — hatte auch ihn der gurgelnde Trichter samt all seinen Bedenken verschluckt.

Allen voran war Mirabeau die hölzerne Treppe hinaufgestürmt. Da oben gab’s eine heimelige Laube, nach dem Werlental hinaus. Oft schon hatten sie dort gezecht und gesungen. Schade, daß Mirabeau nicht Flügel hatte, sonst wäre er in einem Schuß über die Laube hinausgeflogen, hoch kreisend über dem lachenden Tale. Aber — o Himmel! — Da hockten pfundig und brütend ein paar Männer um eine Flasche. Die machten Gesichter wie heilig gesprochene Atlasse. Mit denen ließ sich’s nicht auf einem Brette sitzen. Mirabeau prallte zurück. An ihm vorbei trat Delierre auf die Laube, fuhr ebenfalls zurück, und so einer nach dem andern mit seiner Wundernase, genau als ob ein Appell hätte gehalten werden müssen. Und dann trappelte die ganze Bande mit neuem Lärm die Treppe hinunter, ums Haus herum, in die mit Rinde bedeckte Kegelbahnlaube und begann zu brüllen: «Bier her, Bier her, oder ich fall’ um!»

Auf der Laube war man sehr froh über den raschen Rückzug der übermütigen Gesellschaft. Auch hier oben erwartete man das Gute von allen Bergen herunter, ganz besonders von den Hügeln, die sich jenseits der 61 Werlen in langer mannigfach bewegter Kette hinzogen und den weiten Horizont mit grünen Kuppen und borstigen Waldspitzen begrenzten. Im Gegensatz zu den fröhlichen Sängern kannten sich die Herren ziemlich genau aus über die Formen, in denen das Gute von den Bergen zu steigen pflegt — das Gute, wie sie es verstanden. In ihrer Art waren sie ebenso treu auf das Wohl der nachwachsenden Generation bedacht, wie etwa der ächzende Papa Tremp. Ihnen allen war der Selbst­erhaltungs­trieb Religion, so sehr, daß die Sehnsucht nach dem Lande ihrer Verheißung sie Tag und Nacht quälte. Wie ernst sie’s nahmen, las man auf ihren Gesichtern, sogar in den unter Fettpolstern fast zugekniffenen Äuglein des Hotel­unternehmers Ueltschi, der ganz ähnliche Backenbärtchen trug wie der jüngere Herr von Guldwang. Auf seinem sehr rundlichen Bäuchlein glänzte in zwei Festons von Gilettäschchen zu Gilettäschchen eine feine Goldkette. Wenn man ihn betrachtete, so mußte einen die Vermutung kommen, dieses Kettlein gehe ganz ringsherum, und man kam unwillkürlich ins Berechnen, wie viele solcher Festons das ausmachte. Das hatte ihm schon in Florenz, als er dort Gerant des «Grand Hotel et Terminus» war, den Übernamen Guirlandajo eingetragen. An Eleganz übertraf ihn beinahe noch der Finanzmann Ryter. Nur trieb dieser Wechsel­stubenbaron seine Vorliebe für das Schwarze soweit, daß er zu seinen pechfarbenen Haaren, den seelenvollen Tintenklexen hinter dem Goldzwicker, schwarzen 62 Kleidern und Krawatten auch Fingernägel mit Trauerrand bevorzugte. Vor dem Abschlußfenster der Laube, schön mitten zwischen den roten, blauen, gelben und grünen Zierscheiben, zeichnete sich die Gestalt des Architekten Bygentischer ab, dessen Gesundheit mehr Vertrauen erweckte, als seine meist auf Pfählen in die Alpenseen hinaus gestellten Häuser. Diesen drei Männern saß Hans Tillmann gegenüber. Er lehnte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, zupfte öfter an seinem braunen Vollbart und kehrte dem Gegenstand der Beratung, dem jenseits des Tales in der Sonne weithin leuchtenden Schloß Prankenau, hartnäckig den Rücken. Zu einer Ausschreibung war es allerdings noch nicht gekommen; aber unter der Hand hatte sich das Gerücht verbreitet, ein verlockendes Kaufsangebot würde den alten Herrn Scipio sehr wahrscheinlich zum Entschluß bringen. So stand man nun im Begriff, auf der Wirtshauslaube zu Rautenberg, von wo man die Situation des Kaufsobjektes prachtvoll überblickte, ein «Konsortium für den Ankauf der Schloßdomäne Prankenau zwecks Errichtung eines hochmodernen Sanatoriums» zu gründen, ein Unternehmen, an dessen humanitärem Charakter niemand zweifeln konnte und das einem dringenden Bedürfnis entsprach. So ungefähr sollte der Oberton des Prospektes klingen. Welcher Art Leiden dort kuriert werden sollten, würde sich noch finden. Vorläufig war man einig über die Art der Patienten: Erstklassig!

63 Was hatte nun Hans Tillmann, der fleißige Klein-Unternehmer mit seinem rechtschaffen erworbenen Vermögen von nahezu hunderttausend Fränklein — von dem seine Frau nichts wußte — bei diesem Unternehmen zu tun? Hans Tillmann war nichts Geringeres als der geistige Urheber des Projektes. Er war auch der einzige, in dessen Erwägungen etwas schlummerte, was gar nichts mit dem Geldsäckel zu tun hatte. Das lebte schon in seinen heimlichen Zwiegesprächen mit dem Prunksüchtigen Dachknauf. Als nun zum erstenmal das Gerücht in die Känelmatt drang, Herrn Scipio sei das Schloßgut verleidet, da sah Tillmann den Tag heraufdämmern, an dem das Aristokratennest dem Volke nutzbar gemacht werden konnte. Und er ging hin und verriet sein Geheimnis den Leuten, die er bei seinen Geschäften im Oberland als ebenso leichtfüßig wie tatkräftig kennen gelernt. Zu den Finanzmännern in der Stadt hatte er keine Beziehungen. Die soliden unter ihnen würden die Idee durch Vorsicht und Bedenken im Keim erwürgen, die Wagemutigen würden sie ihm entreißen und ihn leer ausgehen lassen. Seine engern Landsleute — Tillmanns Wiege hatte an der Lütschinen gestanden — hatten schon oft gezeigt, wie man aus ozonreicher Luft, schöner Aussicht und Bratenduft rentable Paläste bauen kann. Und wenn schon dann und wann mal solch ein Ding in sich zusammenbrach, so kam doch niemand dabei um. Sie wußten das Unglück immer auf den unbeholfensten Buckel abzulenken.

64 Ueltschi und Konsorten hatten die Ohren gespitzt, als sie Tillmanns Einfall vernahmen. Und aus reiner Dankbarkeit für seine vortreffliche Idee hatten sie ihn sofort eingeladen, sich mit seinen Ersparnissen im ersten Rang an der Sache zu beteiligen. Schon nach der ersten Besprechung in Interlaken hatte ihn eine Art Fieber ergriffen. Es war nicht kräftigende Hoffnung bloß, sondern es steckte etwas Brandiges darin, das ihm die Ruhe benahm. Er wollte sich’s zwar nicht eingestehen; aber bewußt war’s ihm doch, daß List vor den Wagen gespannt wurde und daß diese List auch an ihm, an seiner Seelenruhe zerrte und zog.

Aus der Kegelbahn herauf scholl Lied um Lied, und wenn’s auch mehr ein Gebrüll war als Gesang, so störte das die Männer auf der Laube wenig. Im Gegenteil, die Sorglosigkeit des kommenden Geschlechtes tat ihnen wohl. Herr Ueltschi nahm sich aus guter Laune sogar vor, den jungen Herren noch ein paar Flaschen zu wixen. Aber einstweilen hatte man ernste Arbeit.

Ob irgendwer von den Initianten sich des fernen fast musikalisch korrekten Hufschlages geachtet hätte, der von der Talstraße her scholl? Wohl kaum. Aber mitten in einem tiefen Brüten zuckte Hans Tillmann zusammen. In der Kegelbahn drunten hatte einer geschrien: «Ha! Dort fährt der Heini Tillmann.»

Mit scharfem Ruck wandte sich Vater Tillmann um. Dort fuhr auf der blendenden Landstraße ein prächtig glitzerndes Spielzeug, die Guldwangsche Equipage. Bei 65 der hellen Beleuchtung und klaren Luft ließ sich erkennen, daß auf dem Rücksitz eine Dame und ein Mädchen saßen, ihnen gegenüber — ein Junge mit der blauen Gymnasianermütze. Der Wagen hatte die Aufmerksamkeit auch der andern Herren auf sich gezogen, und es entstand eine Stille, in der man unten die jugendlichen Zecher disputieren hörte.

«Da hat man’s. Jetzt weiß man, warum der Tilly nicht mitkommt.»

«So ein Drückeberger!»

«Ja, da tut er immer so fromm. Immer heißt’s: Ich muß zu meiner Mutter. Meine Mutter ist krank.»

Ein wildes Gelächter folgte diesen Worten. Dann fuhr einer fort: «Du, Delierre, was sagst eigentlich du zu der Geschichte? Kannst du das so ruhig mit ansehen, he?»

Abermals folgte ein lachendes Gebrüll.

«Haha!» antwortete der junge Neuenburger. «Meinetwegen kann der mit ihr fahren, soweit es Straßen gibt. Ich werde ihn im Nu wieder ausstechen.»

«Übrigens,» rief ein anderer, «prost Deli, einen Speziellen auf Antoinette.»

«Wißt ihr was, wir wollen sie aufrufen. Achtung! Silentium! Erst Tilly. Eins, zwei, drei — Tilly!» Alle hatten den Namen aus vollem Hals geschrien.

«Ahahaha — seht! Sie haben’s gehört. Sie schauen herauf. — Jetzt sie! Eins, zwei, drei — An — toi — nette!»

66 Es war ein unbändiges Gebrüll.

«Ja ja, mein Lieber,» sagte nun wieder einer. «Weißt du, Delierre, solange ihr euch nur in der französischen Kirche in ihre schönen Blicke teilt, hat’s nichts zu sagen. Aber so in der flotten Equipage, Auge in Auge über Land — Donnerwetter auch! Deli, Deli, an deiner Stelle...»

«Es ist aber doch eigentlich schnöde, daß er sich immer drückt, der Tilly.»

«Ach, man muß ihn verstehen. Wenn man einen solchen Alten hat!»

«Der ist ja nie daheim.»

«Gerade oft genug. Er prügelt ihn ja jedesmal, wenn er heimkommt.»

«Nein, das ist haarig.»

«Pereat der Schnödian!»

Das weitere ging in einem allgemeinen Durcheinander von Stimmen unter, so daß Hans Tillmann seine Ohren wieder für das Geschäftliche frei kriegte. Sich der Sache restlos hinzugeben, war ihm aber nicht mehr möglich, da sich ihm die Überlegung zwischenhinein drängte, ob er nicht besser tun würde, seinen Jungen aus dem Gymnasium wegzunehmen. Die Berührung mit der Aristokraten­familie und anderseits diese Kameradschaft, die soff wie die Großen, und sich darin gefiel, die Eltern herunterzumachen! Schließlich gab es noch anderswo Gymnasien.

In ziemlich bärbeißiger Laune ging Vater Tillmann 67 den Berg hinunter, um quer über das Tal in die Känelmatt hinaufzusteigen, während die Kollegen vom Konsortium auf der andern Seite zur Bahnstation wanderten. Herr Ueltschi hatte es gar nicht nötig befunden, dem jungen Volk weitere Flaschen zu spenden. Schon so war man froh, der gröhlenden Klasse auf dem Sträßchen zuvorzukommen.

Kaum eine halbe Stunde, nachdem der vielstimmige Tilly-Schrei erschollen, hatte Heini Tillmann seine Mutter bei der Gartenarbeit überrascht. Sie sollte eigentlich — das fühlte sie jetzt wieder — diese Liebhaberei aufgeben. Die jedem Gesunden zuträgliche Arbeit bezahlte sie doch immer mit Rückenweh und Stichen, über deren Herd und Ursache sie sich nicht klar werden konnte. Froh zu rasten, braute sie ihrem Sohne schnell eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihm vor das Haus in den milden Frühlings­sonnenschein. Der flimmerte lustig auf den blanken Blättchen der Buchsbäume. Er entlockte dem aufgebrochenen Erdreich des Gartens einen erquickenden Atemhauch und ließ vor dem dunkeln Hintergrunde der Buchshecke die Bienen wie mattgoldene Funken spielen.

«Du bist früh heimgekommen. Bist so streng gelaufen?» fragte Frau Tillmann.

«Ja, wenn du wüßtest!» sagte der Junge, und seine Augen leuchteten dazu in jugendfrischem Glück. «Heut hab’ ich’s ganz nobel gegeben. In der Equipage der Guldwangs. Das läuft freilich anders als das alte 68 gelbe Trottelpöstli.» Und auf der Mutter staunende Blicke antwortete er weiter: «Sie haben mich unterwegs aufgeladen. Die Frau von Guldwang war’s und Antoinette. Die Frau ist mir gewogen. Weiß nicht, womit ich das verdient. Heut’ hat sie mich unterwegs gefragt, ob ich nicht Lust hätte, Theologie zu studieren.»

«Heini!» entwischte es der Mutter, so daß der Junge ohne ein Wort weiterer Erklärung aufs Sicherste der Mutter Gedankengänge erriet.

«Weißt du,» sagte er, «ich geh’ hin und wieder in die französische Predigt, zu dem Pfarrer, bei dem mein Freund Delierre wohnt. Es geschah ursprünglich mehr wegen des Französisch­lernens. Aber nun habe ich da mehr gefunden. Er hat etwas von dem Sachariä, weißt du noch, der da einmal im Schloß gepredigt hat. Und dort hat mich die Frau gesehen. Die Guldwang sitzen immer dort, die ganze Familie, und da...»

«Aber sag’ mir, was hast du ihr geantwortet?»

«Ich hab’ mich nicht lange besinnen müssen. ‹Ja›, hab’ ich gesagt, ‹von Herzen gern, am liebsten von allem.›»

«Heini, mein Heini!» sagte Frau Verena. Sie zog ihren lieben Buben an sich und strich ihm zärtlich über den Krauskopf.

Dem Jüngling war unsäglich wohl in dieser mütterlichen Freude; aber in das Wohlbehagen stach leise leise der gleiche Schmerz, der grausam an der Mutter Herz nagte. Er ahnte, warum sie ihm jetzt nicht ins 69 Gesicht schaute, und wagte kaum, sich zu rühren. Starr schweiften auch seine Blicke in den Garten hinaus, als er endlich wieder zum Wort griff: «Es wird noch was kosten.»

«Jawohl,» sagte die Mutter. «Aber bei Gott sind alle Dinge möglich. — Kennst du den Pfarrer — wie heißt er, der welsche?»

«Jeanmaire. — Ja, ein wenig schon. Aber weißt, ich kann noch zu wenig französisch, um recht mit ihm reden zu können.»

Frau Tillmann zog ihren Sohn eng an sich und nahm seine Hand in die ihre, wie man tut, wenn man einen sorgsam führen will. «Heini, Heini,» sagte sie, «wenn das geschehen dürfte!»

«Mutter,» wandte der Junge behutsam ein, «ich fürchte, daß das nicht ohne Kampf möglich sei.»

«Ach ja, du hast recht. Zwängen wollen wir’s nicht. Es muß ja auch nicht sein. Ich will schon mit Dank meine Augen schließen, wenn ich weiß, daß du deine Schritte auf die ewige Stadt gerichtet hältst.»

Nun schwiegen sie beide eine Zeitlang, bis aus tiefem Sinnen heraus Heini sagte: «Wunderlich kommt’s einem doch vor, daß der Ort höchster Glückseligkeit gerade eine Stadt sein soll. — Warum nicht ein hoher Berg?»

«Kind, du mußt nicht am Zerrbild unserer Städte hängen bleiben. Die Stadt ist eben der Ort, wo die Menschen sich finden. Alle Herrlichkeit, welche der liebe Gott über Gerechte und Ungerechte ausgeschüttet hat, 70 alles Schöne, Gute, Große, was je erfunden worden ist, wird sich in der ewigen Stadt zu einem Ganzen fügen, und weil weder eine Lüge, noch irgend eine Gemeinheit oder Schlechtigkeit dazwischen hineingeschleppt werden kann, so wird es dort ein unbegreiflich schönes Wohnen und Leben sein. Es heißt, die Gassen der ewigen Stadt, will sagen Handel und Wandel, der Verkehr der Menschen, werden sein wie lauteres Gold und durchscheinend wie Glas. Was das heißen will, verstehst du jetzt noch nicht, Bub. Aber wenn zwanzig Jahre über dich hinweggegangen sein werden, dann wirst du erfahren haben, was Lauterkeit im Reden und Handeln bedeutet. Und wie Tausende, die vor dir gewesen, wirst du aufschreien und fragen: Warum sind die Menschen so unlauter gegeneinander? Und wie die Tausende, welche mit dieser Frage auf den Lippen gestorben sind, wirst du dich in Sehnsucht verzehren, nach einer Zeit, da die Menschen ihr höchstes Wohlsein darin finden, lauter zu sein, schattenlos durchscheinend gegeneinander. Siehst du, diese Sehnsucht plagt die Menschen, seitdem die Sünde in die Welt gekommen ist. Es ist ihr Heimweh.»

Schritte, die sich dem Hause näherten, ließen plötzlich Frau Tillmann verstummen und bereiteten der seligen Stunde zwischen Mutter und Sohn ein Ende. Es war nur ein Nachbar aus dem Bauernhof gewesen. Aber man kam nicht mehr dazu, den Faden weiterzuspinnen, und als die Sonne in die Tannwipfel des 71 Amselberges versank, kam der Vater bergan geschritten, schwer und brütend, wie immer. Ängstlich forschten der Mutter Blicke im Gesicht des Heimkehrenden, wußte sie doch, daß drüben eine Besprechung hatte stattfinden sollen, von der er sehr viel erwartete.

Heini ging dem Vater ein paar Schritte entgegen und wurde mit einem heitern, fast lächelnden Blick begrüßt. — So eine Stunde einsamen Weges vermag oft viel. — Hans Tillmann zupfte sogar seinen Sohn leise am Ohr — das war etwas ganz Neues — und fragte mit schalkhaftem Augenzwinkern: «Du bist wohl von Bern heraufgeflogen oder hast du die Schuhe schon auf den Sonntag gewichst?» Heini errötete, als er seine schwarzen Schuhe mit dem dicken Staubbelag auf denjenigen des Vaters verglich.

Hans Tillmann hatte sich unterwegs in die Überzeugung hineingezwungen, daß die Prügelpädagogik, die man ihm offenbar nachredete, gar nicht der Herzensgüte entspreche, die er gegen seinen Sohn hegte. «Himmel­sakerment!» hatte er drunten auf der Werlenbrücke geknirscht. «Wenn der Vater eines einzigen der jungen Saufbolde von Heiners Klasse so rechtschaffen um die Zukunft seines Sohnes sich sorgt wie Hans Tillmann, so will ich mich hängen lassen. Nein, meiner Seel, so bin ich nicht. Ein wahrhafter Freund, ein treuer Freund bin ich meinem Buben. Und wenn er’s so nicht begriffen hat, so kann ich’s ihm ja auf andere Art zeigen. Zornrot soll er mir werden, aber nicht verlegen, wenn 72 die Taugenichtse an seinem Alten etwas zu mäkeln haben.»

Und als er im Straßenstaub die schmalen Geleise des Guldwangschen Landauers gesehen, hatte er sogar aufzulachen versucht: «Bin ich etwa einer, der es einem jungen Blut mißgönnt, einmal zweispännig zu fahren? — Wart nur, Bürschlein, wenn du’s in deinem Leben nicht dazu bringst, vierspännig zu fahren — freilich nicht so zwecklos und zum Ärger der arbeitenden Menschen — so soll die Schuld nicht an deinem Vater liegen, dem Schnödian!»

Seit den Tagen, da Heini auf seines Vaters Knien hatte reiten dürfen, war ihm solch freundlicher Familienabend wie heute nicht mehr vorgekommen. Allen war so wohl und heimelig zumute, daß Mutter und Kinder dachten, dem Vater müsse heute eine ganz besonders rosige Zukunft aufgegangen sein.

Als die Kinder zu Bett waren, konnte Frau Verena nicht länger an sich halten. «Du, Hans,» forschte sie, «du bist wohl sehr zufrieden mit deinen Herren?»

Hans zuckte mit den Achseln und sagte nachdenklich: «Weißt, wenn die Menschen lauter wären, so wär’ das Leben ein ewiger Sonntag, so dünkt’s mich. Aber so hat man doch Tag und Nacht keine ganz ruhige Stunde. Gott! Wenn man nur einmal des Jahres so ganz arglos alle viere von sich strecken und den blauen Himmel anstaunen könnte. Ich glaube, ich finge an, Psalmen zu singen.»

73 Der Sonntag verstrich im Frieden, wenn auch öfters die Wolken sich wieder auf des Vaters Stirne senkten.

Als Heini in der Morgenfrühe des Montags sich auf den Weg nach der Stadt machte, geleitete ihn die Mutter trotz des Regens, der die ganze kleine Welt des Werlentales herrlich erduften ließ, bis an die Straße, um ihm zu sagen: «Heini, eins mußt du mir versprechen: Gelt, du läßest dich niemehr von Guldwangs in den Wagen laden? Weißt, der Vater möchte nicht, daß du meinst, er gönne dir so was nicht, drum sagt er nichts; aber es tut ihm doch weh. Er mag’s nun einmal nicht leiden, daß wir von diesen Leuten etwas annehmen, was wir ihnen nicht vergelten können. Gelt, Heini, du verstehst’s?»

Heini, voll Glück über den Sonntag, der so ohne alle Härte und Strenge abgelaufen, drückte der Mutter herzlich die Hand und sagte ohne Besinnen: «Du kannst drauf zählen, Mutter, ich tu’s nimmermehr.» Und während der Regen weich und melodisch in die wundervolle Morgenstille rauschte, blickte Frau Verena ihrem Jungen voll süßer Hoffnung nach.


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