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XIII.

Auf dem Bannwartenstein, wo vor kaum einem Jahre noch Herr Scipio von Guldwang pirschend geweilt, hockte heute Hans Tillmann. Die leergelöffelte Gamelle neben sich, ließ er seine Blicke über die im August-Sonnenglast zu seinen Füßen liegende Landschaft schweifen. Westwärts zog sich das Tannenmeer des Lindentals, aus dessen Schattseite der Felshügel mit der Karthause ins helle Mittagslicht heraussprang. Nordwärts gewährte der Einschnitt über dem Dörfchen Krauchtal einen Ausblick nach den in blauer Ferne sich dehnenden Jurakämmen. Wunderherrlich wär’s gewesen, das Träumen über dem schlummernden Gewirr von Waldhügeln und den Tälchen, durch deren reizende Heimlichkeit sich weiß leuchtende Wege schlängelten, hätte nur nicht die nächste Umgebung den Rastenden an die Ereignisse gemahnt, die ihn hierher geführt. Da lagen dicht hinter ihm, im Schatten des überhängenden Felsens, hingeworfenen Zementsäcken gleich, die Schicksals­genossen, die unter seiner Leitung ein neues Fahrsträßlein anzulegen hatten. — Da pfiffen keine Lokomotiven, rasselten keine Krähne. Ein Kleinbetrieb war’s, darauf eingerichtet, die vorhandenen Arbeitskräfte solange wie nur möglich zu beschäftigen. — Mit den Sträflingen pflegte Hans Tillmann so wenig Gemeinschaft als es irgend anging. Näher stand er dem Profoßen, 227 der dort an Übersicht gewährender Stelle am Waldrand, die Doppelflinte über die Knie gelegt, Wache hielt; doch ward es ihm immer bitter, wenn der ungebildete Schnauzbart ihn fühlen ließ: auch du hast dich mir zu fügen.

Wenn der helle Sonnenschein ihn umgab und man über Tal und Hügel blicken konnte, gingen Hans Tillmanns Gedanken in die Zukunft, und trotziger Mut erfüllte sein Herz. Er gab sich noch nicht verloren. Nur dort drunten in der nächtlichen Zelle kam zuweilen etwas anderes über ihn. In der Einzelhaft der ersten Tage mußte er oft die wehleidigen Anläufe niederkämpfen. Die Erinnerungen an Frau und Kinder, an die einfältige Frau Schraner, an die Wirtin vom «Wilhelm Tell» peinigten ihn furchtbar. Er wünschte sich hundertmal in schlaflosen Nächten den Tod. Aber mit dem ersten leisen Tagesgrauen in der Fenster­verschalung, die nur ein kärglich Riemlein Himmel freigab, erwachte gleich wieder der Gedanke: Hätten sie mich nur machen lassen! — So wie Dr. Bär es dargestellt, so verhielt es sich in Wirklichkeit. Er gehörte von Rechts wegen nicht hierher; darum, bildete er sich ein, behandelten ihn hier alle mit Schonung, vom Direktor bis zum letzten Wärter.

Und je heller der Tag wurde, desto entschlossener wandte sich Hans Tillmann der Zukunft zu. Er mußte. Schwebte nicht sein Vermögen in Gefahr? Wenn ihm die Menschen schon übel mitgespielt und ihn wehrlos 228 gemacht, das ließ er den Herren von den Kur­etablissements nicht.

Das Glöcklein der Strafanstalt — das verdammte, das ihm nachts die Stunden mit so unerbittlicher Pflichttreue vorzählte — zog plötzlich die Aufmerksamkeit des Träumenden nach der Karthause. Ein Hund bellte. Und richtig, dort drunten verließ, über den schmalen Damm schreitend, der an Stelle der alten Torbrücke getreten war, der ablösende Profoß die Veste. In wilden Freudensprüngen umkreiste ihn einer der Wolfshunde, die auf Menschenfang dressiert waren. Aber mit dem Profoßen ging ein schlanker junger Mensch, und gegenüber, am Rande des Waldhanges, stand ein Paar. Nun kamen sie alle vier zusammen und redeten miteinander. Der junge Mann, der mit dem Profoßen ging, zeigte nach dem Bannwartenstein. Dann verschwanden sie alle im Wald.

Hans Tillmann wurde das Herz unruhig. — Wenn das nicht seine Kinder waren! — Zerstreut nahm er mit seinen Gefährten die Arbeit wieder auf. Plötzlich war ihm das Peinliche auf die Seele gefallen, daß seine Kinder ihn in der Sträflings­kleidung sehen sollten.

Seine scharfen Augen hatten ihn nicht getäuscht.

Tags zuvor hatte ein Jahreskurs der Haushaltungs­schule zu Kilchwerlen mit einem festlichen Examen abgeschlossen. Bei den Zuhörern hatten diesmal die Herrschaften von Prankenau gefehlt — weil Röseli Tillmann unter den Schülerinnen saß. Dafür war Heinz, 229 ihr Bruder, der während der akademischen Ferien in der Känelmatt über den Büchern saß und sich von Frau Schraner den Haushalt führen ließ, da. Und noch einer war da — Franz Dengeler, der Theologe. Was hatte den hergeführt? Zunächst einmal seine Tante, die im Komitee der Schule saß und fand, ein angehender Pfarrer dürfte sich wohl für derartige Einrichtungen interessieren. Aber auch diese personifizierte Biederkeit — man nannte sie wegen des Ebenmaßes ihrer Gesichtsbildung das Nilpferd — hatte ihre Hintergedanken. Im diesjährigen Flug der Schülerinnen befand sich ein niedliches Pfarrers­töchterlein aus dem Emmental, von dem sie dachte, ihr Neffe Franz sollte es doch wenigstens einmal gesehen haben. Franz Dengeler, der übrigens seine Verwandtschaft mit der Tante Hippopotamä nicht absolut verleugnete — sein Kopf war ihm zudem ziemlich tief zwischen den Schultern sitzen geblieben — bekam denn auch einen Platz zugewiesen, von dem er das Pfarrers­töchterlein in der vorteilhaftesten Beleuchtung beschauen konnte. Es war lieblich wie die Butterblümchen vom Emmental und seine Augen lachten wie der Himmel ob Lützelflüh. Aber Franz Dengelers schwarze Äuglein hatten etwas ganz anderes entdeckt, und das war die Schwester seines Schulkameraden Tilly, ein anspruchsloses stilles Geschöpf, das durch seine Natürlichkeit Wohlbehagen um sich verbreitete. Röseli war keine blühende Rose, aber auch kein Ankeblüemli, sondern ein ernstes bräunliches Landkind von eher schmächtigem 230 Wuchs. Wenn sie im Wesen ist, wie ihr Bruder, sagte sich Franz, so weiß ich, wer einst Frau Pfarrer Dengeler heißen wird. Da helfen alle Behemothe des Mittags nichts. Junge Theologen sind furchtbar feuersgefährlich. Als abends die besorgte Tante das auch ohne aufgeklebte Etikette in Franzens Augen las, schrie ihr ganzes Gesicht: «Gäll, bin i nid e Liebi?» — Der Neffe bestätigte das mit der Erklärung, er habe zu seiner großen Freude seinen Freund Tillmann gefunden und gehe morgen mit ihm und seiner Schwester zur Karthause.

«Franz!»

«Was denn?»

«Weißt du nicht? Ihr Vater ist ja...»

«Wegen Totschlags im Gefängnis. — Eben just drum.»

Das war es ja gerade, was in Franz Dengelers Augen einer Annäherung ganz besondern Reiz verlieh. Und als heute früh Tante Nilpferd neben den würzigsten Konfitüren aus der Haushaltungs­schule einen Turm von nächtlich ausgebackenen Argumenten unter dem Teewärmer zurechtgestellt hatte, war der verliebte Neffe schon droben in der Känelmatt, ja er hatte mit dem Hammer seiner Burschenlaune bereits eine Ecke von Röselis Unnahbarkeit abgeschlagen. So wanderten die stillen Geschwister mit dem frohen Gesellen durch die Wälder dem Lindental entlang. Heinz war glücklich über das Zusammentreffen, denn ihm hatte vor 231 dem Gang nach Torberg, den er sich vorgenommen, gegraut — wegen der Schwester, die nicht von seiner Seite weichen wollte. Als Franz Dengeler immer lauter und fröhlicher wurde, und sogar anfing, Wanderlieder zu quietschen, wandte Heinz sich gegen ihn: «Du bist mir ein Engel Gottes; ich weiß nur nicht, soll ich dich umarmen oder da ins grüne Moos legen und meine Freude auf dich ausprügeln.»

«Lieber letzteres,» sagte Franz und sang weiter. Jeden andern Sänger hätten Heinz und Röseli verwünscht; aber aus dieses Gesellen frohem Lärmen sprach so deutlich die Wonne, liebebedürftigen Menschen etwas sein zu dürfen, daß sie sich über alles freuten. Heinz Tillmann zwang auch die schmerzlichen Gefühle nieder, die der Freund mit dem Geplauder über seine Studien, Professoren und Kollegen in ihm weckte. Doch wies er ein leises Gelüsten nach Umkehr in der Berufswahl nicht von sich. Je nach der Verfassung, in der er den Vater traf...

Als sie vor der alten Veste anlangten, beschwor Heinz die beiden Begleiter, zurückzubleiben. Ehe Röseli den Vater zu sehen bekam, wollte er selber wissen, unter welchen Umständen man ihn sprechen konnte. Der Direktor gestattete Heinz mit dem ablösenden Aufseher auf den Werkplatz zu gehen. Dorthin wollte Heinz seine Schwester nicht mithaben. Er sandte sie mit Franz in den Wald hinauf und versprach, sie zu rufen, falls der Vater sie sehen wollte.

232 Der Profoß hieß Heinz in einer Einbuchtung des Weges warten und lief voraus. Es dauerte nicht lange, so kamen zwei Männer vom Werkplatz herunter. — Da faßte ein entsetzliches Weh den Harrenden. Herrgott! — Nein — nein — nein! schrie es in ihm bei dem Anblick des Vaters, der plötzlich, kahl geschoren und glatt rasiert, in den braun und grau gestreiften Sträflings­kleidern vor ihm stand. Wie einer, der des Gegners Feuer unterlaufen will, rannte er auf den Vater zu und drückte, um ihn nicht sehen zu müssen, das Gesicht an seine Brust. Der entsetzliche Anstaltsgeruch des Kittels benahm ihm erst recht den Atem.

Der Profoß, der Tillmann begleitet hatte, ging unterdessen weiter.

Hans Tillmann zitterte einen Augenblick und fühlte seine Augen brennen. Diesen Anfall von Rührung niederpolternd, schalt er: «Dummer Bub! Laß doch das Geheul. — Hörst? — Es nützt ja doch nichts. — Warum kommst denn, wenn du’s doch nicht ertragen kannst? — Setz dich daher!» Hans Tillmann drängte den Sohn sachte von sich weg an die Böschung. Als Heinz sich an diese hinlegte und sein Gesicht ins Gras drückte, glaubte der Vater, ihm auf andere Art aufhelfen zu müssen. «Wart’!» sagte er und schlich mit plumpen Schritten das Bord hinan, gegen eine Wettertanne, deren mächtige Wurzelschlangen eine kleine Höhlung bildeten. Bald darauf stand er wieder vor Heinz und hielt ihm ein häßliches kleines Glas voll stark 233 riechenden Branntweins hin. «Da, nimm, das klepft auf. — Aber jetzt hör’ mir auf zu flennen! Donnerwetter auch!»

Heinz schnellte auf. Eine zornglühende Frage lag auf seinem Gesicht. Einen Augenblick blieb es totenstill zwischen den beiden.

Dann richtete sich Heinz vollends auf, riß das Glas an sich und warf es ins Gestrüpp.

«Vater, hast du dem auch hier noch nicht abgesagt? — Du weißt doch, wie übel dir das mitgespielt hat.»

Hans Tillmann zwang sich zu lächeln. «Wenn du wüßtest, was arbeiten ist und was — Gott erspar’ dir’s — Gefängniskost bedeutet...»

«Vater, nun sollst du’s wissen: bis ich sicher bin, daß du dich davon losgemacht, rühr’ ich keinen Tropfen geistigen Getränks mehr an. — Da!» Er bot dem Vater seine Rechte. Aber Hans Tillmann schlug nicht ein. «Hör’ jetzt, Bub. Wir wollen unsre Zeit nicht mit derlei Zeug verplempern. — Also, wie stehts um deine Studien?»

Heinz berichtete genau und konnte seinem Vater die Gewißheit geben, daß er keinen Tag verloren gehen lasse.

«Gut so,» sagte der Vater, «es wird dich nie gereuen. Auch ich versäume nichts. Sie sollen nicht meinen, sie haben mich aus der Welt geschafft. Donnerwetter nein. Einen Mann, der auf zwei Füßen steht und einen Kopf hat wie ich, erwürgt man mit Einsperren noch 234 lange nicht. Wart nur, wenn ich einmal wieder frei bin, dann sollen sie erfahren, wer sie anfaßt. Einstweilen hat Dr. Bär Vollmacht für meine Geschäfte im Oberland. Dadrum brauchst du dich nicht zu sorgen. Überhaupt, du sollst jetzt gar nichts andres tun als deinen Studien leben. — Laß dich ja nicht etwa zum Militärlen verleiten. Das Avancieren nützt dir gar nichts und verschlingt eine Zeit — hol’s der Teufel! — Und damit du sicher gestellt bist mit deinen Studien und auch das Röseli seinen Weg machen kann, habe ich Dr. Bär beauftragt, das Heimet in der Känelmatt zu verkaufen.»

«Vater! Das wird doch nicht dein Ernst sein!» Heinz starrte den Alten wie versteinert an. Der aber lachte kalt und fuhr fort: «Ja, Bürschli, siehst, das Leben ist kein Kinderspiel. Entweder man rührt sich und nimmt alle Kraft zusammen oder dann darf man nicht verwundert aufglotzen, wenn einem die lieben Leute ihre dreckigen Stiefelabsätze auf der Nase umdrehen. Mit dem Heulmeiern kommt man zu nichts.»

«Aber Vater, das Haus, wo wir alle unsre lieben Erinnerungen und das Andenken an die Mutter...»

«Alles recht. Aber für des Lebens Kampf hat das keinen Wert.»

«Das fragt sich, Vater.»

«Wer’s vermag, gut. Aber für mich ist das Luxus. — Überhaupt, es gibt gar nichts mehr zu brichten drüber. Das Haus ist so gut wie verkauft. Gib dich 235 nur drein! Du kannst ohnehin auf die Länge nicht dort bleiben mit der alten Schranerin. Der Erlös ist dein. Mit dem sollst du deine Studien zahlen und deinen Weg antreten. Und das Meitschi, das Röseli, muß ins Welsche. Das ist nun mein Auftrag an dich. Such’ ihr etwas Passendes. Hast Rat nötig, so geh zu Dr. Bär. — Aber bei Gott. Bub! Zu denen drüben, ob der Zelg... nimm dich in acht! Du weißt, was du mir schuldig bist.»

«Ja. Vater, das weiß ich, weiß es vielleicht besser als du. Und von nun an sollst du mich nimmer flennen sehen. Du sollst erfahren, daß nun auch ich auf zwei festen Füßen stehe und einen Kopf habe. Du hast’s so gewollt. So sei’s.»

In Hans Tillmanns Augen lag etwas wie Belustigung, als er erwiderte: «Endlich! Endlich! So möcht’ ich dich ja just haben.» Aber in der Helle seines Blickes webte doch eine leise Verblüfftheit. Es war nicht durch und durch wahr mit dem: «So just möcht’ ich dich haben.» Vater und Sohn drückten sich die Hand und schauten sich in die Augen. «Also,» sagte Heinz noch einmal, «es bleibt dabei, Vater. Ich trinke keinen Tropfen mehr, bis ich weiß, daß du in Sicherheit bist.»

«In Sicherheit!» murmelte der Vater vor sich hin, und als er den Jungen durch das Gebüsch bergan steigen sah, lachte er gezwungen: «Dich werd’ ich schon wieder einfangen, Heinerli.»

Franz und Röseli waren erstaunt, Heinz schon wieder 236 kommen zu sehen. Der Schwester klopfte das Herz zum Zerspringen, denn sie glaubte nichts anderes, als Heinz komme, sie zum Vater zu holen.

«Soll ich kommen?» rief sie ihm entgegen.

«Nein, um Gottes willen nicht,» keuchte er im raschen Heraufsteigen. Und auf die fragenden Blicke antwortete er kurz und hastig: «Du würdest es nicht ertragen.»

«Geht’s ihm schlecht? Ist er krank?» wollte Röseli wissen.

«Nein... Aber... Geht nur weiter. Ich muß erst wieder ein wenig zurechtkommen.»

Zögernd gingen sie weiter. Röseli verschluckte Tränen, und der Theologe blieb auch stumm. Heinzens Ausdruck verriet mehr Aufregung als Traurigkeit, und deshalb vermuteten sie, Tillmann werde schlecht behandelt.

Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Bergkuppe und wanderten, leichter atmend, durch den Hochwald einer Lichtung zu. Da lag ein Stück Heideland voll Erika und Brombeer­dickicht, und darüber hinweg sah man in sommerlicher Blässe die Schneeberge das weite Hügelland überragen. Die große feierliche Stille ließ es zu, daß ein jedes tiefer und tiefer in seine besondern Gedanken hineintastete. Wie in schweigender Verabredung setzten sie sich auf eine gefällte Tanne.

Nach geraumer Zeit sagte Heinz zu sich selbst: «Möchte nur wissen, was dabei herauskommen soll. 237 Da sondert man diese Unglücklichen ab — von den übrigen Verbrechern — denn nach dem Maßstab der göttlichen Gerechtigkeit gemessen sind wir doch alle Verbrecher — sondert die ab, die weniger Selbst­beherrschung, weniger Erziehung und mehr gefährlichen Mut, mehr Temperament haben und sperrt sie alle zusammen, wirft sie mit all ihren gefährlichen Anlagen an einen Haufen, daß es gären muß unter dem Druck der aufgestappelten Fäulnis. Und nun bildet man sich gar noch ein, sie sollen hernach besser herauskommen.»

«Natürlich ist es ein Unsinn,» bestätigte Franz. «Man zerbricht sich auch redlich den Kopf über die Ziele der Gefängnis- und Strafrechts­reform. — Aber für uns liegt die Frage anders. Wir sagen: kein Mensch macht den andern besser, auch keine menschliche Einrichtung. Bessern kann nur Gott. Darum müssen wir uns fragen: Was kann geschehen, um Gott besser zu Wort kommen zu lassen? Es ist natürlich ein Unsinn, zu glauben, die sonntägliche Predigt richte im Gefängnis mehr aus als im freien Leben draußen. Nicht predigen, aber alltäglich aus Gottes Wort vorlesen sollte man. So käme Gott zum Wort, bald tröstend, bald strafend. Die Stunde des Zusammenbruches ist für jeden einzelnen das Entscheidende, und die schlägt wohl manchem weit außerhalb seiner sogenannten Strafzeit.»

«Eben das ist’s, der Zusammenbruch.» Heinz nahm seiner Schwester Hand und sagte ihr leise: «Mit dem Vater müssen wir noch lange Geduld haben.»

238 Röseli vermochte lange nicht zu reden. Als sie ihre Herzensnot ein wenig niedergekämpft hatte, brachte sie, den Kopf an Heinzens Schulter legend, mühsam heraus: «Dennoch! Zum Glück sind wir unser zwei.»

Da blickte Franz Dengeler sie aus seinen dunklen Äuglein gar bittend an und fragte: «Wirklich nur zwei? — Darf ich nicht mithalten?» Und Röseli fühlte, daß da, im Dunkel ihres Leides, einer hinzutrat, der mitzutragen bereit war. Sie konnte das nicht ausschlagen und empfand es auch gar nicht als unerwünschte Einmischung. Dankbar blickte sie ihn an und sagte: «Das ist lieb von Ihnen.» Und als sie bald darauf wieder weiter wanderten, wie drei Menschen, die schweigsam an einer einzigen Last tragen, da ließ Röseli es geschehen, daß der häßliche Student mit dem herzguten Gesicht sie recht zärtlich an sich zog und den Arm um sie legte. Noch manches Tränlein kugelte ihr im Wandern nieder und blinkte wie ein verlorener Edelstein im grünen Moos. Die zwei trotteten in stiller Seligkeit voraus. Schon fiel die Sonne schräg in den Wald, und die Augen ermüdeten sich ob dem Hinwandern über die unzählbaren Stammschätten, die Füße stolperten über Wurzeln, und darob stellte sich allmählich wieder ein leises, glückliches Lachen ein.

Weit hinter den beiden ging Heinz — grabend, ringend, betend. — Die da vorn hatten ihr Glück gefunden. Wie eine Windsbraut war es gekommen und doch nicht flüchtig. Dazu ging Franz einer Lebensaufgabe 239 entgegen, die ihn in die tiefsten Tiefen, auf die höchsten Höhen führen konnte.

Heinz Tillmann hatte die beiden aus den Augen verloren, suchte sie auch nicht; er wollte sein Weh nicht ihrem Glück an die Fersen heften. — Wo der Pfad über das Herrenvogel­hölzchen gegen die Känelmatt abzweigte und der Tannwald durch das lichte wogende Meer der Buchen begrenzt ward, schreckte ihn in der Waldesdämmerung ein heller Schein auf. Und wie er hinsah, stand wenige Schritte vor ihm Antoinette von Guldwang. Jäh durchzuckte ihn des Vaters drohende Warnung vor «denen ob der Zelg». Antoinette vertrat ihm den Weg, genau wie damals, als er aus dem Militärdienst in Urlaub kam. Sollte er sich ihr entziehen mit einer schäbigen Phrase von nicht Zeit haben oder von erwartet sein oder gar mit schroffer Zurückweisung den letzten Faden zerreißen? — Nein, noch ehe sie ihn angesprochen, wußte Heinz, daß dieser nach Hilfe schreiende Blick ihn doch nie mehr zur Ruhe kommen ließ. — Aber des Vaters Warnung! — Heinz warf unwillkürlich die geballten Fäuste hinter sich, als zerrisse er einen Strick über das Knie. Nein, des Vaters törichter Haß fesselte ihn nicht länger. Frei und stark wollte er handeln, wie die Liebe zu dem Vater ihn handeln hieß.

Antoinette verstand die ungestüme Geberde nicht. Hastig redete sie Heinz an: «Ich habe Ihnen etwas zu sagen. — Den ganzen Tag, seitdem ich Sie mit 240 Ihrer Schwester am Morgen ausziehen sah, habe ich den Weg im Auge behalten.»

Als wollte er mit der Gequälten weiter von den Menschen abrücken, verließ er den Pfad, und sie folgte ihm in die tiefe Waldesdämmerung hinein. In einer verschwiegenen Bucht blieb er stehen.

«Heinz,» sagte sie. «Sie ahnen nicht, wie schwer es mir fiel, Sie hier aufzusuchen.» Scheu rückwärtsblickend und lauschend, hielt sie inne, faßte Heinzens Hand und zog ihn noch ein paar Schritte tiefer in die Buchtung hinein. «Aber wenn ich Ihnen nicht endlich anvertrauen kann, was mich Tag und Nacht verfolgt, so halte ich dieses Leben nicht mehr aus. — Lassen Sie mich reden. Ich weiß schon, was Sie mir entgegenhalten wollen. Es ist wahr, man trägt mich auf Händen, man umgibt mich mit unendlicher Sorge; aber das ist’s eben, was ich nicht mehr ertragen kann. Ich bin nun einmal — denken Sie nicht, daß ich fromme Phrasen mache — ergriffen von der Liebe zu den leidenden Menschen. Verstehn Sie mich, ich will nicht Kranken­pflegerin werden oder dergleichen, nur frei werden von dieser erstickenden Umsorgung. So, wie ich bin, und mit allem, was mir gehört, möchte ich denen wohltun, die einsam ihres Weges ziehen. — Nein, nein, ich will nicht in ein Diakonissenhaus und auch nicht als alte fromme Jungfer die Armen um mich scharen. — Aber ich weiß wohl: was ich möchte, das kann ich allein nicht, das kann ich nur durch einen 241 starken Arm, der das Gleiche will, der — frei herausgesagt — sein Leben Gott zur Verfügung stellt. — Und dieser starke Arm sind Sie, Heinz.»

Plötzlich hielt sie inne. Sie hoffte auf irgend ein Zeichen der Zustimmung; aber Heinz blieb stumm. Da wandte sie sich ab, empört darüber, daß er die Preisgabe ihres Innersten, mit der sie ihm eine Brücke zu bauen gedachte, nicht würdigte. Schon wollte sie den Rückweg antreten, als Heinz endlich das Schweigen brach: «Ich muß meinen Weg gehen.»

«Welchen Weg?» fragte sie.

«Den die Sorge um meinen Vater mich gehen heißt.»

«Und die andern alle, denen Sie das Heil bringen könnten, wollen Sie warten lassen?»

«Ja,» sagte er in plötzlicher Erleuchtung, «wie der, der die neunundneunzig in der Wüste ließ, um dem einen Verlorenen nachzugehen. Wenn ich den einen geborgen haben werde, so werde ich die Herde weiden, die Gott mir zuweist. — Meinen Vater kann ich nicht verlassen.»

«So gibst du mich preis,» hauchte eine Stimme tonlos.

Und aus dem stummen Wirrsal der Stämme antwortete es ehernen Klanges: «Will Gott, daß unsre Wege sich einen, so werden sie sich einen. — Ich sehe nichts mehr um mich als Nacht, aber ich folge meinem Glauben an den kommenden Morgen.»

242 Antoinette wollte fliehen, aber sie fand keinen Weg. Strauchelnd griff sie nach dem nächsten Stamm und schürfte sich die Hand. Da fühlte sie Heinzens kräftigen Arm um sich gelegt. Er führte die Zagende, behutsam tastend, zwischen den Bäumen hindurch bis an den Waldsaum. Hier flimmerte vor ihnen über dem schlafenden Berge der Sternenhimmel. Als ihre Füße das helle Band des Weges betraten, sagte Heinz leise: «Glaube, wie ich glaube!» und ließ sie vorangehen.


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