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VIII.

Im Pfrundgarten zu Dentenried saß, in die Medea des Euripides vertieft, Pfarrer Dengeler. Ein Wust von Papieren und Büchern bedeckte den Tisch, von dem 150 das mit einem angegrauten rötlichen Kranzbart umrahmte Gesicht des gelehrten Männchens sich nur erhob, wenn etwa eine Biene — surr — in kühnem Bogen aus einem Blütenbaum unter seiner Stumpfnase hindurch zum nächsten hinauf flog. Das war jeweilen als wollte solch frohgemute Honigsammlerin ihm zurufen: «He, du! Merkst du eigentlich gar nichts?» — O nein, er merkte nichts von all der Herrlichkeit, die ihn umgab. Und doch saß er wie mitten in der Märchenwelt. In zarter Dämpfung fiel das Sonnenlicht durch die weißrosigen Blütengewölbe auf das in allen Winkeln sprießende, schwellende Gärtlein, während ringsherum die Löwenzahnwiesen in gelber Glut sprühten und am tiefblauen Himmelsdom ein silbernes Wolkengefetz majestätvoll dahinfloß. Dazu das tausendfältige Summen und das Aufjauchzen der Vögel!

Herr Dengeler feilte am Schlußchor seiner Medea-Übersetzung, da... was war das? — Durch das Summen und Tirilieren klang ein Ton aus lang entschwundener seliger Jugendzeit. Deutlich hörte er: « post jucundam juventutem, post molestam senectutem...» Pfarrer Dengeler blickte in die summenden Baumkronen und lauschte.

«Herr, mein Gott!» entglitt es leise seinen Lippen. Da sprangen am Pfarrhaus auch schon die Fenster und Türen auf, und aus allen Löchern stürzte die Freude heraus. «Der Franz! Der Franz!» scholl es überall hervor. Die ganze Pfarrfamilie versammelte 151 sich vor dem Haus auf der Straße, wo man eben ein Trüpplein singender Studenten aus dem Hohlweg auftauchen sah. Allen voran kam Franz Dengeler auf seine Eltern zugerannt. Die übrigen, Marcel Delierre, Heini Tillmann und Berni Bär, genannt Mirabeau, kamen eben noch zeitig genug an, um die Freudentränen in den Augen von Franzens Eltern blinken zu sehen. Das war ihnen durchaus nichts Befremdliches; denn was sie hinter sich hatten, war ein Kampf gewesen, um dessen Ausgang Eltern und Söhnen bange geworden. Zu jener Zeit nämlich lagen die Anhänger der klassischen Bildung und die auf das praktische Leben gerichteten Realisten einander arg in den Haaren, und die Kriegskosten trugen die armen Maturanden. Nie waren diese des Ehrentitels «Maulesel» würdiger gewesen als damals; denn ohne Rücksicht auf ihre geistige und physische Tragkraft wurde den jungen Leuten von beiden Seiten ein Unmaß von Leistungen zugemutet. Dafür nahmen sie aus ihrer Gymnasialzeit aber auch den Segen eines ersten harten Kampfes mit ins Leben hinaus. Der freiheithungrige Mirabeau hatte sich mit Ach und Krach durch die Prüfung geschlagen und sah heute gar nicht mehr bahnbrecherisch aus. Otto Tremp war des Lebens Ernst bereits dermaßen zum Bewußtsein gekommen, daß man ihn einem frohgemuten Waadtländer in Pension gab, der ihm in einemfort zureden mußte: «Ach nein, mein lieber junger Freund, so schlimm ist ja das Leben gar nicht.»

152 Als das Freudenglöcklein nicht mehr Gefahr lief sich zu überschlagen, zog man in den Garten, wo Euripides den tannenen Tisch bald einem blinkendem Kollegium von Bierflaschen überlassen mußte. Marcel Delierre entwischte ob dem Anblick der griechischen Lettern ein für Pfarrgärten durchaus unpassender Ausruf. Papa Dengeler lachte hellauf, spielte aber im Namen des klassischen Altertums den Beleidigten und hob den Fehdehandschuh kampfeslustig auf: «Ei ei, Herr Delierre, das ist ein Sakrilegium.»

Marcel, auf dessen hübschen Zügen die freudige Erwartung des freien akademischen Lebens das Übernächtige bereits verdrängt hatte, wies mit wegwerfender Gebärde auf die alten Bücher und sagte: «Diese Schiffe haben wir hinter uns verbrannt, die Quälerei hat ein Ende.»

Während sich, nur durch gelegentliches Zutrinken unterbrochen, ein Geplänkel zwischen dem Pfarrer und den Freunden seines Sohnes entspann, hatte der versonnene Heini Tillmann seine Nase in die «Medea» gesteckt.

Da klappte ihm Mirabeau, der sich schon unterwegs an seiner Träumerei gestoßen, das Buch zu, gab ihm einen Box und rief unter dem zustimmenden Gelächter der kleinen Tafelrunde: «Du!»

Tillmann mußte selbst mitlachen, warf den Kopf in den Nacken und gönnte seinen müden Augen nun auch wieder die Herrlichkeit des Frühlings.

153 «Und Sie?» wandte sich Pfarrer Dengeler an Heini, der die Frage nicht begriff und darob erst merkte, wie weit ab er mit seinen Gedanken gewesen. Auf ein erneutes Gelächter wiederholte der Pfarrer: «Es heißt, Sie werden sich der Theologie zuwenden?»

«Und er weiß schon eine Pfarrfrau,» platzte Delierre heraus. Blutrot übergossen, antwortete Tillmann: «Ich hätte Lust dazu, aber ich weiß noch nicht...» Man wartete nicht auf die Vollendung von Heinis Antwort. Das Gespräch sprudelte weiter, und Papa Dengeler machte sich einen Spaß aus dem entbrannten Streit zwischen Humanisten und Realisten. Wie ein gepolsterter Fechtmeister fing er spielend die Hiebe und Stiche — es waren ja eigentlich mehr Huftritte von Mauleseln — auf. Und wenn er einmal selbst ausfiel, so wußten die Jungen nur schlecht zu parieren. «Praktisch wollt ihr sein,» sagte er. «Ihr meint, das bedeute Geld zusammenraffen; viel konsumieren heiße viel genießen. Ich aber sage euch: Stark lebt, wer wenig braucht. In vollen Zügen genießt, wer nichts hat.»

« Vide exemplum!» rief der übermütige Mirabeau dazwischen, indem er dem Pfarrer das leere Bierglas hinhielt.

«Ganz recht,» antwortete der alte Herr. Er erhob sich, in der Rechten eine Bierflasche. Mit dem Zeigefinger der Linken suchte er seinen Worten Nachdruck zu verschaffen. Er sah aus wie Einer, der seinem Hündlein den Zuckerbrocken hochhält, um ihm das Männchenmachen 154 beizubringen. Und während der Schaum aus der Flasche quoll und in großen Flocken auf den Tisch tropfte, fuhr er fort: «Sehr richtig, Mirabeau, aber was verschafft Ihnen den größern Genuß, der Besitz des Getränkes oder das gelassene Vertrauen, daß Ihnen von dem köstlichen Nektar, der hier zu Ihrer Augenweide überquillt, das bekömmliche Naß zufließen werde? Geben Sie mir zu: die Erwartung — die vertrauensvolle — erquickt, während das unvermeidliche Zerfließen des Besitzes unter Ihren Händen Sie mit Bedauern und Sorgen erfüllen muß. Das eben ist die Tragik des materiellen Lebens, daß es seine Befriedigung nur im Verzehren, also eigentlich im Vernichten findet und immer das Ende nahen sieht. Unsere große Täuschung besteht eben darin, daß wir dieses verzehrende Genießen für das Leben halten, während das reale Leben in der Unabhängigkeit vom verzehrenden Genuß besteht, im Suchen und Schaffen unvergänglicher Werte.»

Die jungen Leute fühlten gar kein Bedürfnis über den Sinn des Lebens nachzudenken. «Was nützt,» sagte Mirabeau, «das vertrauensselige Erwarten, wenn darob der köstliche Trunk sich in Schaum auflöst und zur Erde sickert?»

«Bravo,» rief Delierre. «Ich meine, was das Leben lebenswert mache, sei nicht das müßige Warten, sondern der Kampf um die Güter der Schöpfung.»

Franz Dengeler wurde bange um die Autorität seines Vaters. Er schlug vor, die Zeit bis zum Mittagessen 155 zu einem Bummel auf die Walmegg zu benützen, von wo man die kleinen Seen, die den Hauptreiz der Gegend ausmachten, sehe. Sowohl sein Vater, wie die Kameraden errieten Franzens Bedenken und lachten darüber, gingen aber auf seinen Vorschlag ein. Die Maienpracht war wirklich zu groß, als daß man auch nur den kürzesten Augenblick des Ausgeruhtseins unbenützt gelassen hätte.

In wenigen Minuten hatten sie den herrlichen Aussichtspunkt erreicht, auf dem der Schatten einer Linde zur Rast einlud. Hier blieb Heini Tillmann bei dem Pfarrer stehn, während die übrigen sich nicht enthalten konnten, an das Ufer des nächsten Sees hinunterzulaufen.

«Sie scheinen noch nicht so ganz entschlossen zu sein wegen der Theologie?» fragte Pfarrer Dengeler.

«Soweit es auf mich ankommt, doch, Herr Pfarrer.»

«Ist Ihr Vater nicht einverstanden damit?»

«Ich habe es bis jetzt noch gar nicht gewagt mit ihm zu reden.»

«Oho! — Sie vermuten also, daß Ihr Vater den Plan geradezu mißbilligen würde?»

«Ich fürchte, er würde für das, was Sie uns drunten im Pfarrgarten sagten, gar kein Verständnis haben.»

Der Pfarrer überlegte ein Weilchen, ob er Heini seine Hilfe anbieten solle. Dann sagte er: «Setzen Sie sich zu mir her, junger Freund. — Sehn Sie, es ist ein gar zartes Ding um die Pietät gegenüber dem 156 Willen der Eltern. Aber in der Berufswahl kann nur eines entscheidend sein: der Zug des Herzens. Wer diesem Triebe Gewalt antut — es geschehe in frommen oder genußsüchtigen Absichten — der wird sein Leben lang nimmer zur Ruhe kommen. Darin, daß ein jeder bei dem Ausbau der Schöpfung an seine besondere Arbeitsstelle komme, besteht das Reich Gottes. Sie verstehn nun wohl auch, was es bedeutet, wenn Leute in frommer Aufwallung Sense und Hobel, Pinsel und Feder wegwerfen, um predigen zu gehen. Das ist Desertion, denn Gott braucht zur Offenbarung seiner Herrlichkeit Bauern und Handwerker, Künstler, Gelehrte und Staatsmänner.»

Heini Tillmann kam es vor, als wollte ihn der Pfarrer vom Theologiestudium ablenken. Erstaunt warf er deshalb die Frage in seiner Rede Fluß: «Demnach wären wir im Irrtum, wenn wir mit Bewunderung lesen: Und sie verließen alles und folgten Ihm nach?»

«Durchaus nicht,» antwortete der alte Herr schlagfertig. «‹Sie verließen alles› will nur sagen: es galt ihnen nichts mehr. Dessen können Sie ganz gewiß sein, mein lieber Freund. Im Maßstab des Wachsens Ihrer Gotteserkenntnis verblaßt Ihr Interesse für das Vergängliche. Sie werden Ihren Beruf — als Pfarrer oder als Ingenieur — nur noch im Hinblick auf die Vollendung des Gottesreiches — daher aber auch in vollendeter Zweckmäßigkeit ausüben. Also, mein Lieber, überlegen Sie sich die Berufswahl in aller Gelassenheit. 157 Aber lautern Herzens müssen Sie dabei zu Werke gehen. Nur die reinen Herzens sind, werden Gott schauen.»

Der Nachmittag wurde mit Herumstreifen und Schwimmen zugebracht, und noch ehe sich am andern Morgen das unabsehbare Heer der Blütenkelche dem Frühlicht geöffnet, wanderten die vier muli singend und disputierend zwischen dem auf der höchsten Zinne sanft erglühenden Stockhorn und den schlummernden Wäldern des Zwieselberges dem Oberlands zu. Keiner von ihnen wog seine Worte, und mancher Hieb wurde mit arglosem Lachen hingenommen. Keinen quälte auf dieser seligen Morgenwanderung die Sorge der Berufswahl, trotzdem ein jeder von großen Dingen träumte. Heini nahm es als selbst­verständlich, ja sogar recht willkommen hin, wenn bald dieser, bald jener ihn aufzog: «Du, Tilly, Ingenieur werden darfst du nicht, sonst verlierst du dich in der Kanalisation der Wolken oder du wirfst uns ganze Kiesfuder von der Milchstraße herab.» Immer fröhlicher wurde die Wanderung unter der Mischung von Wohlbehagen nach überstandener Examennot und himmelstürmender Zukunfts­freudigkeit. Man steigerte die Wonne des Entronnenseins durch unermüdliches Auffrischen der schlimmsten Schulerlebnisse. Man tauchte in die Nacht jener Widerwärtigkeiten, die den Brävsten die Jugend vergällen, um desto bewußter aufzufliegen in den rosigen Morgenhimmel der akademischen Freiheit. «Thalatta! Thalatta!» jubelten die vier Wanderer, 158 als zu ihren Füßen die in tausend Sternen flimmernde Blaufläche des Thunersees sich enthüllte. Er war ihnen das liebliche Symbol des Meeres, das nun eines jeden Kiel in eine neue weite Welt tragen sollte. Sie sehnten sich nach freier Fahrt, aber auch nach Sturmgeheul und Wogenprall.

Und hier trennten sich ihre Wege.

Auf freier Höhe sangen sie im Morgenwind ihr letztes gemeinsames Lied. Beifällig bestätigte das Echo des Bergwaldes «... et habeat bonam pacem qui sedet post fornacem.»

Marcel Delierre wanderte Interlaken zu, Franz Dengeler und Mirabeau kehrten heimwärts und Heini Tillmann wandte sich nach Westen, um über die nächste Anhöhe nach Elsigen zu marschieren. Die langersehnte Freude, seinen Vater mit dem Maturitäts­zeugnis überraschen zu können, beflügelte seinen Schritt. Heini hatte ihn absichtlich im Glauben gelassen, daß das Examen eine Woche später stattfinde.

Das Geräusch plumper Schritte schreckte den einsamen Wanderer auf. Es war ein Trupp von Arbeitern, die rasch den Berg herunter kamen. Sie trugen ihr ärmliches Handgepäck und blickten finster.

«Jawohl vermöchten sie’s,» hörte Heini den ältesten unter ihnen sagen, «aber sie meinen, sie verdienen nicht genug an unsereinem. Jüngere brauchten sie, heißt es. — Aber der Witz ist, daß ihnen die Tschinggen halb umsonst schaffen...» Das Weitere verstand Heini nicht 159 mehr. Er konnte sich indes den Zusammenhang schon erklären. Die Begegnung deutete auf die Nähe des Werkplatzes seines Vaters. Bald verriet ein dünner Lokomotivpfiff dem Studenten, wo er die Hauptarbeits­stätte zu suchen habe. Ein Karrweg bog ab und führte ihn durch eine Mulde auf einen kleinen Vorsprung, um dessen Fuß eben ein Schotterzug sich wand. Weithin dehnte sich im hellen Sonnenlicht die Kiesaufschüttung, und ein hundertfältiges rastloses Pickeln und Schaufeln, Rollen und Rasseln mischte sich mit dem majestätvollen Rauschen des Flusses, der längs dem erstehenden Bahndamm seine gelbgrünen Schaumwogen durch das Wirrsal von Felsblöcken und Büschen wälzte. Emsig liefen Italiener in braunen Samthosen und leuchtend roten Leibbinden hin und her. Und dort drüben — ja das mußte er sein — stand die martialische Gestalt Hans Tillmanns am Theodolit. Er trug einen mächtigen Kalabreserhut, der im Verein mit dem großen Vollbart und den unsorgfältig gewickelten Wadenbinden dem Manne etwas fast Räuberhaftes gab. All seine Gebärden verrieten, daß er des raschen Gehorsams seiner Leute gewohnt war, und vergeblich hätte Heini auf der ganzen weiten Strecke einen rastenden Mann gesucht. Er stieg vollends auf den Damm hinunter und lief, mit wachsender Hast alle Hindernisse gewandt überkletternd, der Rampe entlang auf den Gesuchten zu. Wohl dreißig Schritte noch hatte er zurückzulegen, als seine Hand schon das gewichtige Zeugnis in der Busentasche 160 lockerte. Die Überraschung noch zu steigern, wollte Heini von hinten an den in seine Arbeit Vertieften herantreten. Noch drei Schritte. Das Papier flog heraus. «Vater! grüß dich Gott, Vater!» — Da wandte sich der mächtige Mann um. Ein Blick unwilligen Staunens traf den Sohn und dann die knurrende Frage: «Was willst hier?» — Heini war, als hätte man ihm eine Schaufel voll Erde ins Gesicht geworfen. Mit einem jähen Schatten auf dem freudeverklärten Antlitz streckte er seinem Vater das Zeugnis dar. Der entfaltete es, Gutes ahnend und doch mit der Gebärde des Landjägers, der eines Walzgesellen Schriften prüft. Dann kam ein verhaltenes Schmunzeln in das bärtige Gesicht. Mehrmals durchging Hans Tillmann das Dokument, ehe er es Heini zurückgab und sagte: «Brav. Ich gratuliere. — Wart’ einen Augenblick, dann komm’ ich mit dir.»

Heini trat einige Schritte zurück, während sein Vater über den Meßtisch gebeugt, seine Kontrollarbeit fortsetzte. Aber das Warten gestaltete sich hier recht unbehaglich. Einen Schritt nach links kam er dem Meßgehilfen in den Weg, zu seiner Rechten liefen auf knarrenden Brettern die mit Schubkarren hastenden Leute. Zu sinnendem Betrachten gab’s hier keinen Raum. Handanlegen als exakt eingeschaltetes Glied in der rasselnden Kette oder — fort! Daß Hans Tillmann sich nicht die Freiheit gönnte, seine Arbeit zu unterbrechen, war von weitem zu erkennen. So trat 161 sein Sohn zögernden Schrittes von dem Damm herunter. Er setzte sich auf einen in den Fluß vorspringenden Felsblock und ließ seine Blicke in das lichtfunkelnde Spiel der Woge tauchen, die wild aufschäumend um die Rundung des Blockes in einen grün quirlenden Trichter hinunterschoß. Das melodische Tosen übertönte das Knirschen des Werkplatzes und wirkte beruhigend auf des jungen Mannes Gemüt.

Der gewaltige Schatten des Niesen hatte den Fluß überschritten, und ein scharfer Abendwind umfing den Träumenden, als ein Stein dicht an ihm vorbei in die Wellen schlug. Des Vaters derbe Hand hatte ihn geschleudert, weil Heini alle Zurufe überhört hatte. Vater Tillmann winkte, und nun stiegen sie über Kieshaufen und schwankende Bretter zur Landstraße hinüber, die das Dörflein Elsigen streifte. Auf dem Wege dorthin merkte Heini, daß sein Vater während der Arbeit doch noch einige Gedanken für ihn erübrigt hatte. Sobald die Straße das Nebeneinander­gehen gestattete, hub Hans Tillmann an: «Es trifft sich gut. Morgen kommt der Oberingenieur, da können wir gleich erfahren, wie man’s anstellen muß, um im Polytechnikum das richtige Trom zu erfassen. Es ist lang gegangen mit dem Examen.»

Heini schwieg.

«Hast du dich erkundigt, wo man sich anschreiben muß?»

«Man braucht sich nur auf der Kanzlei einzutragen,» brachte der Junge mühsam heraus.

162 Nach einer Weile sagte Vater Tillmann mehr zu sich selber als zu Heini: «Man muß bloß sehen, was zu machen ist, daß du mit dem Militärdienst möglichst wenig Zeit verlierst.»

Erquickend fiel dann in das mit immer gleichartigen Erwägungen fortgesetzte, fast nur einseitig geführte Gespräch das liebenswürdige Geplauder der Wirtin zum «Wilhelm Teil», für die Heini aus seiner Trübsal heraus sofort eine dankbare Neigung erfaßte. Fast glaubte er, der Abend werde sich noch zum Bessern wenden, als sein Vater der lustigen Oberländerin erklärte, heute gelte es, einen guten Tag zu feiern, man wolle das Examen seines Sohnes ein wenig begießen. — Der Vater freute sich also doch. Aber... war nun diese Freude nicht anders kundzugeben? Ein verstohlener Blick auf das wetterbraune Gesicht und die — eigentümlich geröteten Augen des Unternehmers machten Heini bange. — Im günstigsten Fall wurde nach dem Abendessen der Vater etwas gemütlicher, und vielleicht fand sich dann auch ein Augenblick des Alleinseins, in welchem es sich wagen ließ, von Neigung und Begabung zu reden.

Die Wirtin ließ sich’s Mühe kosten. Gut und reichlich ward aufgetragen, und Heini würde es mit Genugtuung erfüllt haben, daß seinethalb so vergnügte Gesichter auf den Tisch blickten. Es waren noch Angestellte der Unternehmung da: Zeichner und Buchhalter. Man trank dem jungen Herrn Tillmann zu, und die 163 Wirtin ging mit ihm um, als wäre er ein Sohn des Hauses. Sie hatte in ihrem Wesen auch wirklich, was Heini lange und schmerzlich entbehrt: etwas mütterlich Zärtliches. Und das fand bei dem Jüngling um so leichter Eingang, als er es nicht wie Konfitüre aufgeschmiert bekam, sondern in ganz natürlich gewachsener Scherzrede. Frau Thönen war trotz des gewöhnlichen Werktags geschmackvoll gekleidet, sehr einfach, schwarz. Von geschmeidiger Gestalt, bewegte sie sich wie ein Wiesel, vermied im Auftragen alles unnötige Klirren und Klappern. Man wußte nicht, was einen an ihren Antworten mehr einnahm, der lustig sprudelnde Oberländer­dialekt oder die gutmütige Schalkhaftigkeit.

Nachdem das Essen abgetragen war, ließ Hans Tillmann sich behaglich in eine Sofaecke plumpsen, hieß Heini neben ihn kommen und bat die andern Herren noch zu einer Flasche. Es sah alles höchst gemütlich aus, von den ausgestopften Vögeln und alpinen Nagern an den rohtannen­getäferten Wänden bis zum zufrieden leuchtenden Gesicht Hans Tillmanns, der ohne Zweifel über den Tisch weg seine Zukunftspläne spann.

«Bub, du machst mir Freude,» sagte er einmal und schlug mit seiner schweren Hand Heini auf den Oberschenkel, daß es knallte.

«Wenn doch diese Laune anhielte, bis ich ihn allein habe!» dachte Heini. Aber dazu war wenig Aussicht, denn der Vater fuhr fort: «Trink aus, Heini, es langt noch zu einer Flasche!»

164 Vater Tillmann war von gewaltiger Kraft, und das Leben an der frischen Bergluft machte ihn ohne Zweifel noch widerstands­fähiger. Aber in der Erinnerung an jenen traurigen Sonntag in der Känelmatt wurde Heini doch bange, und er beobachtete mit Sorge, wie die geröteten Augen zusehends glasiger wurden. Er merkte, daß die Wirtin seine Befürchtung teilte, und hätte ihr um den Hals fallen mögen, als sie in später Stunde, nachdem die andern Gäste sich verzogen hatten, wieder hereinkam und mit einem Blick auf die Wanduhr mahnte: «Herr Tillmann, morgen ist auch ein Tag — und die Herren von Bern kommen wohl schon früh. Stören will ich nicht, aber...»

«Tja!» rief Tillmann und schnellte auf. Und nun sah Heini deutlich, daß seines Vaters mächtige Gestalt nicht mehr fest auf den Füßen war.

Wild klopfte dem Jüngling das Herz, als er dem Vater aus der schmalen Treppe in den obern Stock folgte. Er würgte an seinem Geständnis. Nun trat der Vater in sein Schlafgemach. «Gut Nacht, Bub!» sagte er und zündete die Kerze auf dem Nachttisch an. Als er, des Windzugs wegen, die Türe zuwerfen wollte, stieß diese an Heinis vorgeschobenen Fuß. «Vater,» würgte der Junge heraus, «ich wollte dir noch etwas sagen. — Ich... was würdest du dazu sagen, wenn ich — statt Ingenieur — Pfarrer studierte?» — Es war heraus. Heini staunte selber. Er fühlte sich nur noch halb vor Aufregung. Seine Hand zitterte an der 165 Türfalle. Unheimlich blinkte das Kerzenlicht in des Vaters Augen.

«Mach’, daß d’ ins Bett kommst, Bub! — Gelt!» — Ein glucksendes Lachen erscholl aus dem Weindunst hauchenden Munde. «Gelt, so viel ‹Glacier› hast noch nie getrunken, Bub. — Gut Nacht!» Damit drückte Vater Tillmann die Türe ins Schloß. Heini wankte seinem Zimmer zu. Ja, soviel Wein hatte er noch nie getrunken, sonst würde er heute Nacht nimmermehr dem Schlaf in die Arme gefallen sein.

Als der Mulus am andern Morgen — nicht mit dem allerfrischesten Kopf — erwachte, war sein Vater längst fort. Während des Frühstücks, bei dem ihn Frau Thönen mit rührender Fürsorge bediente, hörte man schon wieder die dünne Pfeife der Feldlokomotive und das Rollen der Schotterzüge. Die Wirtin zog ihren jungen Gast in ein Gespräch, wobei sie mit sichtlicher Anteilnahme nach der Familie, nach der Känelmatt und namentlich nach der Krankheit und dem Tode der Mutter Tillmann sich erkundigte. Sie wollte auch wissen, was Heini nun vorhabe. Er werde jedenfalls in des Vaters Fußstapfen treten, meinte sie. Und das sei auch recht. Wenn er, Heini, wüßte, wie stolz der Vater auf ihn sei und was alles er von ihm erwarte, so könnte er sich wohl was darauf zugute tun. Potz tausend!

Heini überlegte sich seine Antwort wohl. Sollte er der Frau, die offenbar einen gewissen Einfluß auf den 166 Vater ausübte, seine Sorgen anvertrauen? — Nun, etwas mußte gewagt sein, und so platzte er heraus: «Ob mein Vater auch in Zukunft mit mir zufrieden sein wird, ist eine andere Frage. Ich will nämlich Pfarrer werden.» Da wußte sich die Wirtin nicht zu fassen vor Erstaunen. «Ja nun,» sagte sie, «das ist schließlich auch ein schöner Beruf. Hab’ doch manchmal gedacht, wenn ich Söhne hätte, es müßte mir einer Pfarrer studieren. — Aber Herr Tillmann wird sich wundern über Ihren Entschluß.»

Frau Thönen lud Heini ein, doch ja im Sommer mit seiner Schwester nach Elsigen heraufzukommen. Und heute sollte er jedenfalls sein Mittagessen hier einnehmen, es solle ihn nicht gereuen, sie könnten dann noch eins brichten miteinander. Mittags komme gewöhnlich Herr Tillmann nicht herauf. Wahrscheinlich esse er drunten mit den Ingenieuren.

Heini versprach wiederzukehren. Dann wanderte er langsam dem Werkplatz zu. Es war kein leichter Gang, denn heute noch mußte er mit der Sprache herausrücken. Er wollte den Arbeitsplatz umkreisen und den richtigen Augenblick erspähen — und sollte es bis zum Abend gehen. Der Vormittag verstrich, ohne die erwünschte Pause zu bieten. Als aber mittags das Signal «Ende Arbeit» erscholl, schritt Heini behende jener Stelle zu, wo sein Vater vom Damm herunterkommen mußte. Er fand ihn auch richtig dort.

«Kommst endlich auch zum Vorschein, Siebenschläfer?» 167 begrüßte ihn der Alte lachend. Heini brachte nun vor, daß Frau Thönen ihn zu Tisch geladen habe, und fragte nach des Vaters Absichten. «Dummheiten!» sagte der. «Jetzt gehn wir zum Reichensteinwehr. Von dort fährt in einer Viertelstunde ein Dienstzug nach Spissendorf hinauf. Dort können wir dann mit den Ingenieuren von deinen Plänen reden.» — Wußte er denn nichts mehr von gestern Abend?

Kleinlaut schritt Heini an des Vaters Seite, der ihn fragte, was er den lieben langen Morgen hindurch getrieben habe. Nun rühmte der Jüngling die Liebens­würdigkeit der Wirtin.

«Jawohl ist sie liebenswürdig,» lachte Hans Tillmann derb heraus. «Das hat seinen guten Grund. Donner auch! — Du darfst es eigentlich auch wissen, Heini. Weißt, Frau Thönen hat nur einen Gedanken: Heini Tillmanns Stiefmutter zu werden. Und ich sag’s dir grad frei heraus: Sie gefiele mir nicht schlecht. Ist eine tüchtige Wirtschafterin, wohldenkend, und daß sie eine gefreute Lebensgefährtin sein würde, hast du wohl selber gemerkt, was? — Aber weißt, warum ich mir’s versage und allein meines Weges weitergehe, trotzdem es mir manchmal verdammt schwer wird?» — Tillmanns Stimme hatte einen ganz besonders ernsten Klang bei diesen Worten. — «Deinetwegen und deiner Schwester wegen. Ihr sollt nicht eine Stiefmutter ertragen müssen, nur weil ich es nicht fertig brächte, meinen Weg allein zu gehen.»

168 «Aber, Vater,» versuchte Heini einzuwenden, «so schlimm würde es uns wohl dabei nicht gehen.»

«Der Mensch hat nur eine Mutter, und die ist nimmermehr zu ersetzen. Die Stiefmutter nähme euch auch noch den Vater weg. Und dann... Nein, es bleibt dabei. Viel vermag ich euch nicht zu hinterlassen. Aber daß ihr wenigstens einen Vater, einen ganzen, treuen Vater gehabt habt, sollt ihr einst — wenn es überhaupt ein Wiedersehn gibt — der Mutter bezeugen müssen. Will’s Gott, wird mein Wagen, Sorgen und Schaffen nicht umsonst sein. Dir, Heini, will ich einen guten Weg ebnen. Du wirst mir’s einmal noch danken. Jetzt verlange ich von dir nichts als ein bißchen Vertrauen. Schau, ich kenne Welt und Menschen und will dir’s gut einrenken. Vorderhand schenk mir nur Vertrauen und werk’ mir nichts in die Quere. Mein Lebenswerk ist darauf zugerichtet, daß du kraft deiner besseren Ausrüstung es vollendest. Versagst du, so habe ich umsonst gelebt. — So, da sind wir. — Mattei, stellen Sie uns auf dem Wagen eine Kiste zurecht! Wir fahren mit.»

Auf einem leeren Bahnwägelchen wurde ein Sitz hergerichtet. Dann stiegen sie auf und fuhren mit einer Schar bestaubter Arbeiter auf der holperigen Dienstbahn Spissendorf zu, wo Heini Tillmann von den Ingenieuren wertvolle Winke für «seinen» Studienplan erhielt.


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