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VII.

Lange noch lag die Stille des Todes um das Stöcklein in der Känelmatt. Selten nur sah man Fußspuren, die das einsame Haus mit der Landstraße verbunden hielten, denn der Winter warf jetzt erst recht seine Schneemassen auf die Berglehnen, und der Wind war hinter den Fußstapfen her, als gälte es, ein großes Geheimnis um den Hof zu weben. Aber das Räuchlein aus dem Kamin und manchmal auch das Glitzern einer Fensterscheibe verrieten, daß unter dem schneebeschwerten Dache noch Leben glimmte. Nach der Straße hin blieb die Schneedecke wochenlang unverletzt; aber durch die Hofstatt nach dem Bauernhause der hintern Känelmatt ging jeden Abend in der Dämmerung eine vermummte Mädchengestalt. Wenn sie zurückkehrte, schritt sie behutsamer. Das war das Röseli Tillmann. Es holte die Milch für den kleinen Haushalt, und das geschah mit einer so geräuschlosen Regelmäßigkeit, daß kaum je ein Wort darüber gewechselt wurde. Jeden Tag schöpfte der Bauer dem Röseli draußen im Kuhstall seine vier Becher in den Milchhafen. Man sagte sich guten Abend und gute Nacht und punktum. Wie sollte da Matt-Vreni 114 ihren Gwunder stillen? Aus dem Meitschi war auch dann nichts herauszubringen, wenn man sich ihm mit Fragen an der Stalltüre in den Weg stellte. So entschloß sich denn die Bäuerin, einmal ganz direkt in das geheimnisvolle Stöckli einzudringen. Als sie vor das Haus kam, drang ein leiser Gesang durch das Küchenfenster. Die Haustüre war nicht eingeklinkt, die Küchentüre stand offen. Da hockte, einem Tannstrunk mit gespreizten Wurzeln ähnlich, Frau Schraner auf der Küchenbank und hielt in ihrem Schoß die Kaffeemühle. Krumm quoll aus dem korbartigen Korsett ihr Oberleib. Sie trieb mit ihrem g’äderigen Arm die leise knarrende Kurbel und sang im Takt dazu: «Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom liebsten, das man hat, muß scha-iden — muß scha-iden.» Bei den letzten Worten ging die Kurbel mit besonders feierlichem Schwung. Mädi kannte nur diese beiden Zeilen; aber die wiederholte es, bis das Schublädli voll war.

Erst als Matt-Vreni unter der Türe ausrief: «Eh der tusig Gotts Wille! Bist du da?» blickte die gute Alte aus ihren gekniffenen Äuglein verwundert auf. In diesem Blick lag die Frage: «Und du, was willst du hier?»

«Ich habe gemeint, du seiest z’Bern inne,» sagte Vreni.

«Was sollte ich dort? — Es gibt Leute genug in der Stadt.»

«Du bist ja sonst immer mit der Herrschaft...»

115 «He ja, wenn ich nichts Gescheiteres zu tun hatte; aber nötig bin ich dort nicht. Da bin ich mit der Frau eins geworden, ich wolle dem Tillmann ein wenig zur Sache schauen. Er ist gar oft fort, und das Meitschi kann man doch nicht so mutter­seelen­allein lassen.»

«So so.»

«Ist das etwa nicht recht, he?»

«Bhüet’is Gott wohl. Es geht mich ja nichts an... Aber...»

«Aber was?»

«O, ich will nichts gesagt haben; aber wenn du dann...» Die Bäuerin drückte hinter sich die Türe ins Schloß. «Wenn du öppe solltest ds Tüfels Dank dafür haben, so wundere dich dann nicht z’hert, Mädi. Weißt...»

Jetzt gab Mädi der Kaffeemühle ein paar schnelle Umdrehungen und stellte sie neben sich auf die Bank.

«Es gibt deren mehr als genug,» sagte es, «wo um Dank tun, was sich gehört. Gewöhnlich sind das die Gescheiteren. Aber es stünde übel in der Welt, gäbe es nicht noch ein styfs Küppeli Leute, wo dem lieben Gott und den Nächsten zulieb sich gern unter die Dümmern stellten. Wenn die Gescheiten wüßten, wie nötig sie die Liebe der Dümmern haben...»

«Schon recht. Aber, was hast davon?»

«Davon haben! — Wenn ich dir just sage, ich begehre keinen Dank! — Wenn man so wollte, es wäre ja nicht mehr zum dabei sein. Hat mein Christen etwas 116 davon gehabt, daß sie ihn im Steinbruch immer an den gefährlichsten Posten gestellt haben? — Hätte er sich nicht dazu brauchen lassen, er lebte jetzt noch, und wir könnten’s recht styf haben. Ich brauchte nicht andern Leuten das Wüsteste zu machen. Aber überall muß einer zueche und das Böste auf sich nehmen, sonst stünde die Welt still. Darüber brauchen wir uns nicht zu grämen. Was von solchen getan wird, ist dort aufgeschrieben, wo keines Menschen Hand drüber fahren kann. Wer in Wahrheit hienieden der Dümmere gewesen ist, wird dann droben schon an den Tag kommen. Die Rechnung ist bald gemacht. Wer auf Dank rechnet, kriegt Ärger zu schlucken, und wenn er zuguterletzt von Gott haben möchte, was ihm Danks auf Erden gemangelt, so werden sie ihm an des Himmels Türe noch dartun, daß er Gott einen großen Haufen heraus schuldig ist.»

«Ja, ich denke manchmal, wenn unsereins nicht sein Guthaben im Himmel hätte...»

Mädi hatte eine Hand voll Bohnen nachgeschüttet, trieb mit Wucht die Kurbel herum und sagte: «Selig sind die geistlich Armen, ihrer ist das Himmelreich, ihrer wird sich Gott erbarmen...»

Aber all das begehrte die Matt-Bäuerin gar nicht zu hören. Um weiterzukommen, fragte sie deshalb: «Fürchtest du dich nie vor ihm?»

«Vor wem?»

«Dem Tillmann.»

117 «Warum sollte ich den fürchten? — Der ist kein schlechter Mensch. Ihm mangelt nur eine Hand, die ihn streichelt, wenn ihm die Galle überlaufen will. Er meint’s gut. Nur einen Gedanken hat er: seinen Kindern Weg zu machen zum Glück. Aber zornmütig ist er. Kommt ihm einer überzwerch, so weiß er sich nicht zu halten. Da hilft nichts, als geduldig streicheln, wie seine Frau es getan hat.»

«Hast du schon so etwas mit ihm erlebt?»

«Grad apparti nicht.»

Mädi hielt inne. Es fürchtete zu viel zu sagen. Hatte es sich doch erst vor einigen Tagen verplaudert, indem es Tillmann verriet, daß bei Guldwangs ernsthaft vom Verkauf des Schlosses an den Staat die Rede gewesen sei. Hans Tillmann war daraufhin in große Unruhe geraten und gestern verreist. Seither machte die Alte sich Vorwürfe und hütete sich, irgendwem etwas auszuplaudern. Sie stand auf und wirtschaftete in der Küche herum, nur in kurzen Worten noch Bescheid gebend, bis die Bäuerin merkte, daß sie nichts mehr herausbringen werde, und ihres Weges ging.

Mädis Ahnung, mit ihrem Plaudern vom Schloß ein Unheil heraufbeschworen zu haben, war nicht unbegründet.

Noch ein halb Dutzend Wochen schlummerte die Känelmatt unter des Winters Bann, dann war das Leben nicht länger niederzuhalten. Aus dem Schneemantel brachen grünliche Flecken hervor. Die Bäche 118 huben zu gurgeln, der Wald zu brausen an, und die Dächer dampften im Sonnenschein. Eines Tages erschienen die Schneeberge zum Greifen nahe, sie kündeten Föhn. Eine warme Nacht legte sich auf die Hügel des Aaretals, und als der Morgen anbrach, hatte der Schnee sich schon bis auf den Kamm der Stockhornkette zurückgezogen. Da strömte es aus Tür und Tor, und die Waldsäume widerhallten von Kinderstimmen. Es war Samstag, und unter denen, die den Frühling suchen gingen, befand sich Heini Tillmann, der Primaner. Der Anblick des elterlichen Hauses schnitt ihm ins Herz, weil die Mutter nicht mehr da war; aber Heini kam ja nicht mehr, um sich’s unter der Mutter weicher Hand wohl sein zu lassen, sondern weil er eine Aufgabe hatte.

In der Känelmatt fand er nur seine Schwester und Mädi. «Wo ist der Vater? Wann kommt er heim?» Niemand wußte Bescheid darauf. Die beiden Kinder empfanden es als einen Schatten auf ihrer Wieder­sehens­freude, und wenn Mädi ihnen zusprach: «Seid nur froh, er findet seinen Frieden in der Arbeit und in der Sorge um euch,» so dachten sie: Schon recht, aber...

Das war es ja eben, womit er sich das Leben verdarb! Und sie fühlten sich wehrlos gegen diesen Arbeitsdrang, dessen Tragik sie zu ahnen begannen.

Sie verbrachten den Rest des Tages, indem sie selbander auf altvertrauten Pfaden nach den ersten 119 Boten des Frühlings suchten — nicht weit weg, denn sie wollten die Heimkehr des Vaters nicht verpassen. Aber da und dort in den Stuben ein paar Veilchen, Anemonen, Leberblümchen konnten nicht wenig zu einer behaglichen Stimmung beitragen. Mädi hatte im Schloß zu schaffen, weil andern Tags jemand von Guldwangs kommen sollte. Die Kinder schlenderten der Alten nach durch den Hof, über die Terrassen, in den Garten, wo auf dem frisch keimenden Rasen Crocus in der Sonne leuchteten. Von denen pflückte man nicht, wiewohl es erlaubt war. Diese Blumen würden dem Vater ihre Herkunft sogleich verraten haben. Sie weckten Heini aus einer Träumerei. — Er hatte liebreizende Wesen durch den erwachenden Park wandeln sehen. — Fort! Weg damit! Überhaupt, was hatte er mit seiner Schwester hier zu tun, zu einer Zeit, wo der Vater jeden Augenblick die Straße heraufkommen konnte?

«Wir wollen heim,» sagte er zu Röseli. «Er soll das Haus nicht leer finden.» Wie verscheucht eilten sie heimwärts. Aber die Schatten wuchsen, die Sonne verfing sich flammensprühend in der Waldfirst des Kriesberges, und Hans Tillmanns schwere Tritte hatten die Schwelle noch nicht berührt. Der lichtblaue Himmel hatte sich verdunkelt. Kalt flimmerten die Sterne.

Die Geschwister setzten sich, vom kommenden Sommer plaudernd, an den grünen Kachelofen, indessen Mädi sich in der Küche zu schaffen machte. Nach einer längeren Pause des Gesprächs fragte Heini: «Warum weinst 120 du?» Er fühlte selbst, wie überflüssig die Frage war, und begehrte keine Auskunft, als Röseli hinausging, um einen der kleinen Blumensträuße in des Vaters Zimmer zu stellen. Der sollte dem Heimkehrenden melden, daß die Kinder seiner harrten, falls der Schlaf ihnen zuvor kam. Und er kam ihnen zuvor — um Mitternacht.

Des Frühlings schwere Müdigkeit hielt jedes in seiner Kammer umfangen, als ein dumpfes Geräusch ihren Schlaf störte. Sie hörten Schritte, hörten eine Stimme, aber der Schlaf ließ sie nicht zu vollem Bewußtsein kommen, kaum daß ihnen erdämmerte, der Vater sei jetzt auch da.

Mädi hingegen in ihrer Dachkammer hatte trotz der Ermüdung nur leicht geschlummert und war aufgewacht, als sie die Schritte und das Girren der Flurbretter gehört. Es folgte ein dumpfes Gepolter in Tillmanns Stube, und was sie vollends zum klaren Wachen brachte, war das verworrene, bald polternde, bald lachende Selbstgespräch, das aus der Stube heraufdrang. Mädi hörte die schweren Schuhe in den Gang fliegen. Dann schien auch in der Stube etwas niederzufallen. Ein kollerndes Geräusch folgte, ein verhaltenes Fluchen, ein erleichtertes Aufseufzen, und dann ward es stille.

Ein Grauen überfiel die alte erfahrene Magd. Sie kannte den Hans Tillmann. In Selbstgesprächen hatte sie ihn schon ab und zu beobachtet; aber es war immer 121 nur ein halblautes Überlegen gewesen. Heute Nacht war etwas anderes im Spiel. — Barmherziger Gott? Wenn nun das über ihn kommen sollte! — Tillmann war das Bild eines nüchternen Arbeiters gewesen. Mädi sann rückwärts und konnte sich keiner Gelegenheit erinnern, da sie den Mann auch nur leicht angeheitert gesehen hätte. Aber einmal konnte es anfangen. Und weil er des Trinkens so wenig gewohnt war, mußte es ihm doppelt gefährlich werden.

Mit dem Schlaf war’s vorbei. Hin und wieder dünkte Mädi, sie höre Tillmanns Stimme. Sie erhob sich und legte ihr Ohr an eine Ritze des Fußbodens, nicht aus Neugier, sondern aus Sorge. — Wenn er die Lampe umgeworfen hätte! Oder wenn ihm sonst etwas zugestoßen war! Sie kleidete sich an und stieg hinunter. Ihr legte sich das Bangen in den Weg: Wenn er einen bösen Wein trinkt — der zornmütige Mensch! Wenn er dich erschlägt! Aber das Weiblein schritt über solche Bedenken weg. An Tillmanns Türe horchte sie einen Augenblick. Sie hörte ihn ächzen. Behutsam öffnete sie die Türe ein wenig. Das Zimmer war finster. Nach dem Geräusch seines Atems lag er im Bett. — Jetzt redete er wieder — von Geschäften — von Aktien, Dividenden. Beruhigt zog Mädi die Türe zu und kehrte in ihre Kammer zurück. Geschehen war ihm also nichts. Aber ihre Angst war die Treubesorgte damit noch lange nicht los. Was jene Wörter bedeuteten, die er ausgesprochen, wußte sie zwar nicht. 122 begehrte es auch nicht zu wissen. Aber im Munde dieses wackern Arbeitsmannes kamen ihr diese Dinge vor wie eine geladene Schußwaffe in den Händen eines Knaben. — Wenn nur... Arme, arme Kinder!

Als Hans Tillmann erwachte, war’s taghell und frostig in seiner Stube. Die Fensterscheiben waren angelaufen, und im Tälchen der Känelmatt lag ein dichter Nebel; aber ein blaßblauer Schimmer im Zenith ließ erkennen, daß bald ein schöner Tag anbrechen werde. Mit wüstem Kopf überblickte Tillmann die Unordnung im Zimmer. Unweit vom Tische lag die kleine Milchglasvase, die Röseli dem Vater zum Willkomm hingestellt hatte, und die Blümlein lagen zerstreut auf der nassen Diele herum. Hans Tillmanns Blicke blieben auf den Papieren haften, die den Tisch bedeckten. Er erhob sich und holte den ganzen Plunder auf den Nachttisch. Dabei kam ihm sein Katzenjammer erst recht zum Bewußsein. Er mochte nicht lesen und hatte doch ein quälendes Bedürfnis, sich die Sachlage zu rekonstruieren. Da half wohl nichts besser als frische Luft. Nachdem er das Fenster aufgerissen, kleidete er sich an, raffte die Papiere in die Busentasche und verließ das Haus. Als er den kleinen Fußpfad gegen das Herrenvogel­wäldchen hinanstieg, brachte ihn Röselis Morgengruß zum Stehen. «Guten Tag, Vaterli!» rief es aus dem Fenster der Wohnstube. «Kommst du nicht zum Frühstück?»

«Tag!» antwortete Tillmann zögernd, «setzt euch nur 123 zu Tisch! Ich werde dann schon kommen, wenn’s Zeit ist.» Damit wandte er dem Haus den Rücken und ging weiter. Ohne Hut, ungekämmt, ohne Krawatte, die Weste unrichtig eingeknöpft, ging er in seinen roten Pantoffeln. — Heini hatte es auch gesehen. Er überlegte sich einen Augenblick, ob er nicht dem Vater nacheilen sollte, ihn wenigstens auf das Unordentliche seines Anzuges aufmerksam zu machen, aber er getraute sich nicht recht in seine Nähe. Röseli fragte die eintretende Haushälterin: «Habt Ihr ihn heimkommen gehört? Wann kam er?» Sie erntete dafür einen mißbilligenden Blick ihres Bruders, der als Primaner ein besonderes Verständnis für diesen Zustand des Vaters beanspruchte und noch schwankte zwischen einem mitleidigen Lächeln und schmerzlicher Enttäuschung. «Du,» sagte er, sobald Frau Schraner das Zimmer verlassen hatte, «das Mädi in allen Ehren, es ist mir lieb und wert, aber vergiß nicht, daß es eine arme Taglöhnerswitwe ist und gern herumschwatzt. Jetzt wollen wir sehen, daß wir selber... des Vaters schwache Momente zudecken.» Bei den letzten Worten zuckten des Jünglings Mundwinkel. Ratlos betrachtete ihn das Mädchen, nach kurzer Spanne in Tränen ausbrechend.

Unterdessen saß Hans Tillmann droben am Saum des Wäldchens auf einem Eichenstrunk. Den Kopf in die Hände gestützt, glotzte er, zwischen Katzenjammer und Triumph brütend, auf das Schloß hinunter, auf 124 dessen Knäufen die sieghafte Frühlingssonne funkelte. Durch lähmende Kopfwehstören unterbrochen, resümierte er die gestrigen Erlebnisse. Im Wintersaal des Kurhauses zu Nieseten hatte die konstituierende Sitzung der «Oberländischen Kuretablissements A.-G.» stattgefunden. Der Präsident hatte in einer glänzenden Rede einen Überblick über die bisherige Entwicklung des Unternehmens gegeben, worin er ungefähr ausführte: «Der wahrhaft humanitären Initiative unseres umsichtigen Freundes Ingenieur Tillmann verdanken wir die großartige Perspektive, die sich uns heute eröffnet. Zuhanden späterer Geschlechter soll es zu Protokoll genommen werden, daß unsre Entreprise seinem eminent demokratischen Empfinden ihren Ursprung verdankt. Wo einst übermütige Landvögte auf Kosten des Volkes in üppigem Wohlstand ihr Leben hinbrachten, sollen nun die Nachkommen jener Entrechteten Erholung und Kräftigung finden.»

Hans Tillmann war gewiß ein nüchterner Mann der Arbeit; nie und nimmer erhob er Anspruch auf Ehren, die ihm nicht gebührten. Aber daß ihm die zu Unrecht gebrauchte Bezeichnung «Ingenieur» angenehm klang — inmitten dieser Gesellschaft, wo jeder, ob echt oder unecht, die dickstmögliche Uhrkette über den Bauch hängte — was konnte er dafür? Daß die Eroberung von Prankenau seine Idee war, konnte übrigens niemand bestreiten.

Soweit lagen die gestrigen Erlebnisse Tillmann klar 125 vor Augen. Es folgte dann die Umwandlung des «Konsortiums für den Ankauf der Schloßdomäne Prankenau», das sein Werk gewesen, in die «Oberländischen Kur­etablissements», unter dem Nachweis, daß die finanzielle Sicherung des Unternehmens ein Voranschieben der schon bestehenden oder im Bau begriffenen Etablissements nötig mache. Der Finanzplan war zwar mehr verlockend als verständlich; aber waren denn diese geriebenen Herren nicht selber alle mit ihrem eigenen Kapital daran beteiligt? Darin lag doch die beste Garantie, und warum sollte Tillmann die Gelegenheit, seine Ersparnisse in sechs- und siebenprozentigen Papieren anzulegen, nicht benützen? Warum solches immer nur andern überlassen? — So hatte er denn allen Vorschlägen zugestimmt, und die Vormittags­sitzung hatte mit einem vollen Erfolg geendet. Es war dann ein Diner gefolgt, wie Tillmann noch nie eines erlebt hatte. Weine hatte er zu kosten bekommen, von deren Vorkommen er nicht einmal je gehört. Ganz klein hatte er sich zwischen diesen sachkundigen Leckern gefühlt. Die Herren erschienen ihm als Lebenskünstler — heute noch. Wenn der eine oder andere einmal verkrachte, so durfte er sich wenigstens sagen, daß er seine guten Tage gehabt habe. Von denen stieg keiner zu Grabe mit dem Gefühl, daß er sein Leben in nutzloser Quälerei hingebracht.

In der Nachmittagssitzung — Sitzung war eigentlich nicht die zutreffende Bezeichnung, es war ein gemütliches 126 Beieinandersein bei wundervollen Weinen — folgte die definitive Bestellung des Verwaltungsrates. Über den Verlauf dieser Verhandlungen besaß heute Tillmann nicht mehr restlose Klarheit. Er sollte ja alles noch schriftlich bekommen. Daß er Aktien gezeichnet, und zwar in einem Betrage, der ihm Gewicht verschaffen mußte, das wußte er genau, das war mit voller Überlegung geschehen. Wie er heimgekommen, das hingegen war ihm unklar. Im Bahnhof­restaurant zu Thun hatte man nach einer sehr kühlen Fahrt auf dem See noch einen letzten Trunk genommen.

Ja — nun also... Ach, wenn nur dieser scheußliche Brummschädel nicht wäre! — Wieder und wieder durchging Tillmann in Gedanken den gestrigen Tag, immer schwankend zwischen rosigen Hoffnungen und unabtreiblichen Besorgnissen. Da tauchte aus der Mulde der Känelmatt Heini auf. An jedem andern Tage würde des Vaters Herz froh geklopft haben ob dem Anblick des schlank und kräftig aufgeblühten Jünglings. Heute war ihm die Begegnung ärgerlich. Entfliehen konnte er ihr nicht. Den Jungen in die Erlebnisse einweihen? — Nein, heute besser noch nicht.

Noch hatte Hans Tillmann keinen Entschluß gefaßt, da stand sein Sohn neben ihm. «Guten Tag, Vater,» sagte er mit etwas erzwungener Unbefangenheit.

«Guten Tag,» brummte der Vater, ohne den Kopf zu heben.

Verlegen blieb Heini eine Weile stehen. Dann versuchte 127 er’s wieder: «Vater, fehlt dir etwas — oder — hast du Verdruß?»

Er erhielt keine Antwort.

«Vater!»

«Laß mich in Ruh, Bub! — Wenn’s mir darum zu tun ist, komm ich schon von selber wieder hinunter.»

«Aber Vater, so solltest du nicht in der Gegend herumlaufen. Schau doch, wie du aussiehst!»

«Ach geh doch! Vor wem sollte ich mich genieren? Etwa vor dem Alten da drunten im Schloß? Der hat jetzt ausgespielt.»

Heini ließ noch einen fragenden Blick auf der Gestalt seines Vaters ruhen, als wollte er sich überzeugen, ob denn das sein letztes Wort sei. — Dann ging er langsam weiter, dem Wäldchen entlang, und als sein Vater sich immer noch nicht rührte, stieg er verdrossen zur Känelmatt hinab. Dort fand er Mädi im Sonntagsstaat. Z’Predigt wollte sie und riet den Geschwistern, sie sollten mitkommen. «Geh du!» sagte Heini zu Röseli, «ich bleibe auf dem Posten. Es ist doch möglich, daß der Vater bald heim kommt.» — «Ich will aber bei dir bleiben,» erklärte Röseli, und so zog Frau Schraner allein ihres Weges.

An solchem Lenztag in der Stube zu bleiben, war einfach unmöglich. Heini und Röseli machten sich vor dem Hause die Bank zurecht, wo man so oft mit der Mutter gesessen, ihr das Herz ausgeschüttet hatte. Sie strichen dem Gartenhag, dem Bächlein entlang, hielten 128 am Rain Ausschau nach Blumen; aber überall hin schleppten sie ihre Enttäuschung mit. Das ist nun der ersehnte Sonntag mit dem Vater, dachte jedes.

Gegen Mittag kam der Vater heim. Ordentlich gekleidet setzte er sich mit zu Tisch. Häufig den Kopf in die eine Hand stützend, sprach er mit sichtlicher Überwindung. Um selber möglichst wenig reden zu müssen, stellte er Fragen an die Kinder. Dabei schien ihm an den Antworten wenig zu liegen. Er wollte wissen, wann Röseli in die Haushaltungs­schule zu Kilchwerlen eintreten könne. Seine Pläne für das Mädchen zielten über diesen Kurs ins Welschland und in die Hotelbranche. — Welsch und englisch vor allem!

Nach dem Mittagessen nahm Tillmann seinen Schwarzen mit gehörigem Zusatz von Kirsch. Dann ging er in sein Zimmer und kramte in den Papieren. Als Röseli nach ihm sah, um ihn zu einem Spaziergang zu bewegen, lag er wie hingeworfen auf dem Sopha und schnarchte. — Die Haushälterin riet den Kindern: «Heut ist nun einmal nichts zu wollen. Geht lieber ein wenig spazieren. Man muß ihn in Ruhe lassen.» Was blieb ihnen anderes übrig? Um ja keinem Bekannten Auskunft über des Vaters Befinden geben zu müssen, schlichen die beiden durch das Känelmatt-Tälchen hinauf in die entlegenen Wälder, die sich längs des Lindentals nach dem Emmental hinüberziehen.

Eine Stunde mochte verstrichen sein, da erwachte Mädi, die sich vor dem Haus in den Sonnenschein gesetzt 129 hatte, aus einem leichten Schlummer. Schleppenden Schrittes kam Hans Tillmann um die Hausecke und fragte verdrossen nach den Kindern. Das bitterböse Gesicht der Alten reizte ihn zum Lachen. Aber dieser Anflug von Heiterkeit schwand, sobald Mädi den Mund öffnete.

«Wo sollten sie sein?» antwortete sie. «Es ist heute kein Schleck, in Eurer Nähe zu bleiben.»

Tillmann warf einen langen, verwunderten Blick auf Mädi. Sollte er ihre Bemerkung von der komischen Seite nehmen, oder galt es, eine unverschämte Einmischung rechtzeitig abzulehnen? Mädi mochte fühlen, was er überlegte. «He ja!» fuhr sie fort. «S’ist emel wahr. — Da kommt der Junge heim und freut sich, mit Euch den Sonntag zu verbringen, und erst das Röseli! Wenn Ihr wüßtet, wie die Kinder sich auf einen solchen Tag freuen! — Seitdem die Mutter nicht mehr da ist, haben sie ein doppelt Anrecht auf Euch. — Und nun seid Ihr so zu ihnen!»

«Was?» knurrte Hans Tillmann. «Wie bin ich zu meinen Kindern?» Er war nahe an die Alte heran getreten und blickte ihr drohend in das Gesicht.

«Jedenfalls nicht, wie Ihr sein solltet,» antwortete sie. «Was sollen die Kinder denken, wenn sie merken, daß ihr Vater einen bösen Wein trinkt? — Das kommt nicht gut.»

«Habt Ihr mich vielleicht ein einzigmal betrunken gesehen, he?»

130 «Weiß nicht, wie Ihr gestern heimgekommen seid. — Aber das weiß ich: So fängt’s an.»

«Was fängt an?»

«Das unordentliche Wesen. Leugnet’s nur nicht, Herr Tillmann! Gestern habt Ihr über den Durst getrunken. Und es ist grad genug an einemmal, wenn’s ein Unglück geben soll. Grad just weil Ihr ein braver Mann seid, ist’s schon zuviel an einem Mal. Es ist immer so. Bei einem Hudel kommt’s nicht drauf an, ob er sich einmal oder hundertmal betrinkt. Aber ein solider Mann muß schwer büßen, wenn er einmal nicht auf der Hut gewesen ist.»

Tillmann hatte sich abgewendet, stand mit den Händen in den Hosentaschen da und ließ durch ein eigenartiges Verziehen der Mundwinkel erkennen, daß er die Strafpredigt von der komischen Seite zu nehmen suchte.

Mädi sah das und ereiferte sich nur desto mehr. «Es gibt da gar nichts zu lachen.»

Nun tat er, als schüttelte es ihn nur so vor Lustigkeit. Mädi aber merkte wohl, daß es nur jenes gezwungene Belustigt­seinwollen war, das oft einem Wutausbruch vorausging. «Wo sollen die Kinder hin, wenn sie kein Heim mehr finden, da wo ihr Heim gewesen? Ihr dürft Euch nicht wundern, wenn sie dann anderswo Rats suchen und ihr Vertrauen Leuten schenken, die auf festerem Grunde stehen, auf dem Grunde, da Eure selige Frau drauf gestanden — Herr Tillmann!»

Damit war Tillmanns Heiterkeit abgewürgt. Ein 131 unheimlich forschender Blick über die Achsel traf das tapfere Weiblein.

«Ja,» bekräftigte es, «was Ihr Eurer Frau zulieb lassen konntet, solltet Ihr erst recht den Kindern zulieb meiden.»

Ein rollender Fluch glitt Tillmann über die Lippen. «Saufe ich etwa zu meinem Vergnügen? — Was wißt doch Ihr, was ich tue! Grad um der Kinder willen muß ich dabei sein. Was wißt Ihr davon, wie’s in der Welt zu und her geht! Schön und recht mit dem gottselig abseits stehen; aber wer nicht mit dabei ist, wo der Braten geteilt wird, der soll sich dann auch nicht wundern, wenn er nebenab kommt, Frau Schraner. Und ich bin nicht einer von denen, die ihren Kindern allerhand frommen Trost mit auf den Weg geben und sie am Bettelstab zurücklassen. Darüber, wie man im Leben zu etwas kommt, braucht mich niemand zu brichten, am wenigstens eins, das selber über nichts gekommen ist. — Überhaupt Himmel­herrgottsd...!» Tillmann hatte die Fäuste geballt und wandte sich zum Davonlaufen; aber es war, als hielten die Sandsteinfliesen, auf denen seine Frau ihre Sohlen sich abgelaufen, seine Füße fest, so daß er der Haushälterin einfältige und doch treffsichere Hiebe noch weiter auffangen mußte. — Er wollte den Platz behaupten. Am liebsten hätte er sie fortgejagt; aber eben... Daran hinderte ihn etwas — und dann mußte der Streit mit Mädi zum Schweigen gebracht sein, ehe die Kinder heimkamen.

132 «Nur geflucht!» sagte die Alte. «Aber die verachtete Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses — Herr Tillmann — dieses Lebens und auch des zukünftigen. Es wäre besser, Ihr ließet die Hand vom Spekulieren. Ihr werdet dem Zeug doch auf die Länge nicht Meister. Solches kann zum Reichtum führen, aber in braver Leute Händen kann’s doch zum Unglück ausschlagen. Und was haben dann die Kinder davon? Spitzbuben vermögen den Teufel vor ihren Wagen zu spannen; aber wenn ein Rechtschaffener ihn am Schwanz faßt, so muß er mit davon, weil er nicht weiß, wann man mit dem geringsten Schaden loslassen kann.»

Was war nun das? — Wie kam Mädi auf den Gedanken, ihn vor Spekulation zu warnen, sie, der er nie ein Wort von seinen Geschäften gesagt? Tillmann war das fast unheimlich, und weil ihm, nicht minder als diesem dummen Weiblein da, das Gefährliche seiner Pläne bewußt war, wollte er sich auf weiteres nicht mehr einlassen. Er nahm Hut und Stock und lief der Straße zu. Ob und wann die Kinder heimkamen, danach fragte er nicht mehr. Er lief talwärts und wälzte in einer ewig wiederkehrenden Reihenfolge seine Sorgen im Kopf herum. Bald ärgerte er sich darüber, daß er vor Mädi das Feld geräumt hatte. Mit den Kindern hätte er freilich gerne den Abend zugebracht. — Vielleicht hatte die Alte doch den Takt, in ihrer Gegenwart zu schweigen. Aber nun fiel ihm ein, daß auch Heini ihm Vorwürfe gemacht. Er hatte keine Lust, 133 sich von dem Jungen noch einmal derlei Dinge sagen zu lassen. Über all dem quälte ihn der auf den Katzenjammer folgende Durst, und der trieb ihn dem Wirtshaus im Gränk zu. Das lag ziemlich weit abseits von den Dörfern an der Bernstraße. Wenn nicht gerade eine politische Versammlung oder ein Fest stattfand, so konnte man dort recht ungestört in der Gaststube sitzen. Er fand es, wie er gewünscht. Die Stube war leer. Die Kellnerin empfing ihn als einen Erlöser aus der Langeweile und blieb, als sie den bestellten Schoppen vor ihn hingestellt, in der Nähe stehen. Aber bald merkte sie, daß der Mann da, der den Kopf in die beiden Hände stützte und mit stieren Blicken an ihr vorbei sah, kein Verlangen nach Unterhaltung trug. Sie ließ ihn allein. — Eigentlich zog es Tillmann mächtig zu seinen Kindern, und die Stimmung, die ihn daran hinderte, machte ihn weich, fast weinerlich. Solche Gemütszustände waren dem Manne, der sich selber soviel Härte und Nüchternheit anerzogen, verhaßt. Dem drohenden Zwiespalt in der Familie mußte energisch vorgebeugt werden. Er, Tillmann, ließ sich die väterliche Autorität nicht rauben. Und da half nun einmal nichts anderes: Die Alte mußte weg! Irgendwo mußte die Gelegenheit fortbestehen, die Kinder zu sehen — ungestört. Und wo gab sie sich natürlicher als in der Känelmatt? Das abgelegene Heim war Tillmann sehr lieb, eben weil er da so recht fern von allen Geschäften und allem unerwünschten Verkehr mit den Kindern zusammensein 134 konnte. Es war da etwas, in dem stillen Häuschen, das er sich sonst nirgendwo erschaffen konnte. Er selber vermochte es überhaupt nicht zu schaffen. In der Känelmatt aber besaß er es als — nun, warum sollte er sich das nicht eingestehen? — als das Erbe seiner Frau. Also Mädi mußte weg! Aber irgendwer mußte doch des heimischen Herdes warten, sonst erlosch er. Als ob er mit jemandem sich stritte, schlug Tillmann plötzlich mit der Faust auf den Tisch, so daß die Kellnerin erschreckt aufsah. Der einsame Mann schien selbst wie aus einem schweren Traum erwacht. Hatte er’s nur gedacht oder laut gesagt: «Wohl, warum auch nicht, zum Donnerwetter?» — Was denn? — Nun das, was sich in dieser Situation ihm gebieterisch aufdrängte, eine neue Priesterin an den Herd führen. Er brauchte ja nur die Hand auszustrecken. Schon lange hatte es ihm die Wirtin zum «Wilhelm Tell» in Elsigen am Thunersee angetan. Wie manchen schönen Abend hatte er mit der jungen Witwe verhöcklet. Sie plauderte so leichtflüssig wie ein Bergbächlein, besaß die Anmut der Oberländerinnen. Und aus den dunkeln Augen der Anna Elisabeth Thönen sprach eine Herzensgüte, die er seinen Kindern so sehr gegönnt hätte.

Plötzlich kam sich Tillmann wieder schwach vor. Hatte er nicht schon hundertmal diesen Kampf durchgefochten? — Nein und abermals nein! Sein Ziel war ein anderes. Sollte er es schließlich doch noch in einer schwachen Stunde preisgeben um schöner Augen willen? 135 Nicht doch! Aber vielleicht um des Heims willen, dessen die Kinder bedurften? — Ach was! Alter Esel, weißt du noch nicht, daß solchen Träumen doch immer die Enttäuschung folgt? Sollte er’s darauf ankommen lassen, daß Kinder aus einer zweiten Ehe seine Pläne zunichte machten?

Tillmann erhob sich und wollte seinen Schoppen bezahlen. Er wollte hinauf, in die Känelmatt, war er doch Manns genug, um heute noch mit seinen Kindern ins Reine zu kommen. Sie mußten wissen, daß er auf festern Füßen stand, als es heute morgen den Anschein hatte.

Da näherte sich draußen Pferdegeschell. Statt Tillmann Bescheid zu geben, lief die Kellnerin hinaus. Unmutig warf der mißachtete Gast sein Geldstück auf den Tisch, drückte den Hut in die Stirn und verließ die Gaststube, um nach der Bergseite zu entkommen. Kaum hatte er sich im Hausgang der hintern Türe zugewandt, so hielt ihn eine ihm wohlbekannte Stimme zurück. «So, so, der Herr Tillmann will auf und davon, wenn man just mit ihm zu reden hätte?» Es war der Gemeinde­präsident von Rafeldingen, der trotz der Dunkelheit des Ganges die mächtige Gestalt Tillmanns erkannt hatte. Zu den Männern, die ihm folgten, sagte er: «Das trifft sich jetzt aber gut! Jetzt können wir mit dem Inschenör grad noch z’Bode reden wegen der Entsumpfung droben auf der Prankenauzelg.» Geärgert über die sein Vorhaben durchkreuzende Begegnung, stierte Tillmann, die 136 Hände in den Rocktaschen, einen Augenblick vor sich hin. Aber bald fügte er sich dem Zufall. In Geschäftssachen durfte nichts versäumt werden. Und Hans Tillmann kehrte mit den Gemeinderäten in die Gaststube zurück.

*  *  *

Auf der Bernstraße rollte der elegante Landauer der Guldwang. Zur Linken lag alles in tiefem Schatten, während die Strahlen der Abendsonne über den Kamm des Amselberges hinweg ihren goldenen Schein droben in die Fenster des Schlosses und der an den Hängen zerstreuten Bauernhäuser warf. Es war empfindlich kühl, so daß man beidseitig die «Glacen» des Wagens heraufgezogen hatte. Auf dem Rücksitz saßen Frau Dorothea und Antoinette. Dieser gegenüber kauerte träumend neben Lilian Merle — Heini Tillmann. Er saß wider Willen da. Schon hatte er, als der Wagen ihn drunten auf der Talstraße einholte, sich eine Lüge zurechtgelegt, um eine Einladung zum Mitfahren abzulehnen. Aber im Handumdrehen hatte die kategorische Güte der schönen Frau Heinis Ausreden zunichte gemacht.

«Machen Sie keine Flausen, Heini! — Fix! Herein! Wir haben nicht umsonst anhalten lassen.»

Und weiter rollten die blinkenden Räder. Der Jüngling kam sich mit seinem zerbrochenen Trotz, seinem Gram über den verfehlten Sonntag und all den trüben Aussichten ganz am unrechten Ort vor. Wenn er sich 137 ausmalte, was nun möglicherweise seine arme Schwester diesen Abend noch erleben würde, so schalt er sich einen Feigling, daß er nicht ohne Rücksicht auf die Philistersleute, die ihn heute abend in Bern erwarteten, droben in der Känelmatt ausgehalten hatte. Dann war’s ihm wieder, als sollte er dem Schicksal dankbar sein, das ihm zwischen Tag und Nacht noch einen freundlichen Blick gönnte. Er nahm sich zusammen und antwortete artig auf jede Frage. Aber es bedurfte bei den Mitreisenden keiner besondern Feinfühligkeit, um zu merken, daß Heini an irgend etwas würgte. Lilian konnte er nicht beobachten; aber in Antoinettes blauen Augen lag unzweifelhaft teilnehmende Neugierde.

Der Sonnenschein war über die obersten Waldspitzen entflohen, und es begann zu dämmern.

Plötzlich kriegten die Reisenden einen Ruck. Der Wagen machte eine jähe Bewegung seitwärts und fuhr ganz langsam. Man hörte die Hufe unruhig trappeln. Dem Kutscher war ein Ruf des Unmuts entfahren. Dann zogen die Pferde heftig an und gingen eine kurze Strecke im Galopp. Im ersten Schreck hatten die Insassen des Wagens nach der Ursache der Störung geblickt, leise Ausrufe auf den Lippen. Dann aber, während die Pferde wieder in ruhigen Trab übergingen, richteten sich Aller Augen auf Heini. Niemand ließ ein Wort laut werden. Frau von Guldwang, Antoinette und Heini wußten, warum die Pferde gescheut hatten. Es waren Schimpfworte durch die geschlossenen Fenster 138 hereingedrungen. Und Heini hatte einen großen bärtigen Mann vom Wagen hinweg nach dem Straßenbord hintorkeln sehen. Die beiden ihm gegenüber­sitzenden Damen — das las er deutlich in ihren Mienen — waren so wenig wie er im Zweifel über die Identität des Betrunkenen, der offenbar dem Gespann in die Quere gekommen war.

Heini lehnte sich unwillkürlich zurück, um sich dem einfallenden Licht zu entziehen. Dann reckte er sich wie in körperlichem Schmerz und barg sein Gesicht an der Wand des Wagens. Gott! Wenn er nur aus diesem Kasten hätte entfliehen können! Er fühlte, wie eine schlanke Hand in Glacehandschuh seine Linke ergriff und zärtlich preßte. Es war Frau Dorothea. Niemand antwortete auf Lilians Frage nach der Ursache des Zwischenfalls.

Auf der ganzen Fahrt sprach niemand mehr davon. Heini brachte überhaupt kein Wort mehr über die Lippen. Er schämte sich. Seines eigenen Vaters mußte er sich vor diesen Leuten schämen, die Hans Tillmann so sehr verachtete, weil er in ihnen nur Schmarotzer sah. Warum schwiegen sie jetzt alle drei? — Wenn sie nur nicht hochfahrend und selbstgerecht über seinen armen Vater richteten, sonst mußte er sie hassen — die ganze Sippe, denn der Vater verdiente noch lange nicht Verachtung, er war kein Säufer, kein Schwächling, der aus Genußsucht trank, er war nur das Opfer seines Erwerbseifers geworden, nur dies eine Mal. 139 O, Heini kannte die Energie seines Vaters. Wenn der erst wieder zu sich kam, ging er mit sich selbst hart um.

Der Wagen ratterte auf hartem Steinpflaster. Links und rechts flimmerten viele Lichter durch die leicht angelaufenen Scheiben. Schatten von Pfeilern und Bogen huschten vorüber. Dazwischen leuchteten die hellen Schaufenster von Kaufläden.

Vor dem Guldwangschen Hause hielt die Kutsche. Heini verließ sie zuerst und wartete mit Ungeduld auf die andern, um sich zu verabschieden. Er bot Frau Dorothea die Hand und dankte. Da überraschte sie ihn mit der Frage: «Heini, werden Sie in Ihrer Wohnung zum Nachtessen erwartet?» Sollte er lügen und ja sagen? — Sein Zögern war Antwort genug für Frau von Guldwang. «Kommen Sie mit hinauf! Sie essen bei uns!» befahl sie mit jenem Zauber, der den Jüngling immer zu Boden warf.

Heini mußte voran die Treppe hinaufsteigen, und er ging wie einer, den man in den Turm abführt, während hinterher Antoinette mit vorwurfsvollen Augen ihrer Mutter zuflüsterte: «Er wäre gewiß lieber heimgegangen.» Sie bekam keine Antwort. — In diesem Augenblick machte die verwöhnte, ihrer von Onkel Scip geweissagten Schönheit entgegenreifende Antoinette von Guldwang in ihrem Herzen mit dem kleinbürgerlich biedern Heini Tillmann einen Bund. Heini war nicht umsonst ein schöner Junge. Schlank war er und hübsch von Angesicht, und in seinen treuherzigen Augen hatte 140 sich das Leiden eines Knaben hingelagert, das nach einem verstehenden Herzen schrie. — Aber Prankenau — Känelmatt! Ahnherren, die den Königen von Frankreich mit Trotz in die Augen geblickt — Vorfahren, die als Bäuerchen ihre Garben den Herren von Prankenau zu Füßen gelegt! Wie sollten diese beiden Linien sich je vereinigen? Können Steine sich erweichen? — Pah, wo Liebe — gottgeborenes Verlangen des Leidenden zum Leidenden — das Gold erwärmt, da springen die Perlen aus der Fassung und rollen mit ihrem milden Licht in den Staub der Werkstatt.

Heini Tillmann wurde in das Toilettezimmer des Herrn Fernand geschoben, vor einen elegant ausgestatteten Waschtisch. Ein Kammermädchen mit weißem Häubchen goß ihm Wasser in die Waschschüssel und reichte ihm eine frische Serviette. Als es die Türe geräuschlos hinter sich geschlossen, ließ Heini seine verwirrten Blicke in dem eleganten Raum herumschweifen. Das Aufheulen hatte er zuvorderst. Was hätte er um die Einsamkeit seiner Studentenbude gegeben! — Kaum wagte er seine Hände an dem tadellosen Handtuch abzutrocknen. — Nun mußte er einen ganzen langen Abend noch an sich halten. Er wußte nicht, sollte er diese in sonderbarer Weise bändigende Kultur verwünschen oder — hatte sie vielleicht doch noch ihr Gutes? War all diese verfeinerte Lebensart eines der Mittelchen zur Überlegenheit der höhern Gesellschafts­klassen? — Diskussionen mit den Kameraden fielen ihm ein. Aber durch 141 alles hindurch drang immer wieder der Jammer um den Vater und das Verlangen, allein zu sein. Ob er’s nicht doch noch versuchte, sich wegzustehlen? Leise schlich er sich hinaus. Aber noch ehe er den Kleiderständer erreicht, wo Hut und Mantel hingen, vertrat im Herr Fernand den Weg. Herzlicher und gütiger als sonst ward Heini von ihm begrüßt. Herr von Guldwang mußte schon etwas vernommen haben von der fatalen Begegnung auf der Straße. Heini fühlte sich immer verwirrter, und in diesem Wirrsal von Empfindungen ergab er sich dem Mitleid, das ihm von allen Seiten begegnete.

Während Herr von Guldwang sich die Hände wusch, ertönte eine Glocke, und bald darauf saß man am wohlgedeckten Tisch. Von des Gymnasianers Riesenappetit, der sonst den stillen Spaß der herrschaftlichen Familie ausgemacht, war heute gar nichts zu merken. Herr Fernand suchte seinem jungen Gast die Zunge zu lösen durch Erkundigung nach den Aussichten der unmittelbar bevorstehenden Maturitätsprüfung, nach dem Schul- und Vereinsleben. Der Frage, ob er seinem Entschluß, Theologie zu studieren, treu bleiben werde, ließ Herr von Guldwang, ohne die Antwort abzuwarten, gleich eine eindringliche Ermunterung folgen. «Das wäre nicht nur eine schöne Laufbahn für Sie, Heini,» sagte er, «es wäre geradezu ein Verdienst um das Volk, denn es gibt nie genug Pfarrer, die aus wahrem Herzensdrang ihrem Beruf leben. Der Segen Ihrer 142 Mutter würde Sie Ihr Leben lang als das kostbarste Zehrgeld begleiten.» Herr Fernand redete fürbas, indes seine Frau und Antoinette auf Gesicht und Händen des armen Jungen Weh und Wirrnis zucken sahen. Den dankbarsten Zuhörer fand der Hausherr an Lilian Merle, die mit leuchtenden Augen an dem Gespräche teilnahm und sich aus der Lobpreisung des Pfarrerstandes ein Verdienst zu machen schien. Ihr war es beschieden, Heini Tillmann wenigstens auf Augenblicke seiner Qual zu entreißen. Die naive Wärme, mit der das liebliche Geschöpf von dem hohen Berufe sprach, löste die Schwingen von Heinis Phantasie. Fürwahr, es war ein sonniger Ausblick mitten durch das schwarze Gewölk, das ihn umgab.

Frau Dorothea hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Als ob die Unterhaltung außerhalb ihrer Hausfrauen­pflicht läge, hatte sie sich nur mit ihrer Teemaschine und dem übrigen silberglänzenden Geräte der Tafel abgegeben. Im Salon flackerte zwischen den Fenstern ein Kaminfeuer. Herr Fernand hielt Heini sein Zigarrenetui hin und lehnte sich, von Zeitungs­nachrichten plaudernd, an das Marmorgesims der behaglichen Feuerstätte, während die jungen Damen sich am Flügel zu schaffen machten. Aus der Musik wurde jedoch zunächst nicht viel, denn sobald Frau Dorothea, die inzwischen ihre haus­wirtschaftlichen Ordres ausgegeben hatte, im Salon erschien, lenkte sich die Aufmerksamkeit wieder auf Heini. Frau von Guldwang 143 wies ihn neben sich in einen Fauteuil. Herr Fernand versenkte sich in eine Zeitung und schien an dem Gespräch keinerlei Anteil nehmen zu wollen.

«Sagen Sie mir, lieber Heini,» begann Frau Dorothea leise und vertraulich, «wie geht es denn Ihrem Vater, seitdem Frau Tillmann gestorben ist? Er ist wohl meist bei seinen Arbeiten im Oberland?»

«Ja, ich bekomme ihn sehr selten zu Gesicht. Und wenn er heimkommt, so ist er mit seinen Gedanken doch immer bei den Geschäften. Ich fürchte, er wird immer mehr darin aufgehen.»

«Was baut er denn eigentlich?»

«Jetzt arbeitet er noch an der Bahnlinie im Schieferbachtal. Hernach wird ihn die Unternehmung der oberländischen Kur­etablissements vollauf in Anspruch nehmen.»

Heini sagte das mit einem gewissen Stolz. Den Blick, welchen Herr Fernand mit zugekniffenen Augen über die Zeitung hinweg auf ihn warf, verstand der Jüngling ganz falsch. Er dachte, Herr von Guldwang hielte seinen Vater nicht für finanzkräftig genug, um bei einem so bedeutenden Unternehmen aktiv beteiligt zu sein. Darum versicherte er: «Mein Vater ist Teilhaber des Konsortiums.»

Während nun der Bankier im Kaminfeuer herumstocherte, fuhr seine Frau fort — noch leiser als vorhin:

«Sagen Sie mir: kommt es oft vor, daß Ihr Vater über den Durst trinkt?»

144 Heini zuckte zusammen. Sollte er den Beleidigten spielen? Er konnte nicht. Frau von Guldwang hatte ihre Hand auf die seine gelegt und sprach in sehr teilnehmendem Tone. «Denken Sie nicht, daß ich mich in etwas mischen wollte, was mich nichts angeht oder daß ich über Ihren Vater richten möchte. Im Gegenteil. Sehen Sie, lieber Heini, ich möchte nur Ihnen beistehen. Ich weiß ja wohl, sein Beruf bringt das vielleicht mit sich. Wenn man so oft bei schlechtem Wetter im Freien arbeiten muß. — Aber solche Sachen wie heute sind doch sehr, sehr fatal und könnten Ihrem Vater furchtbar schaden. Zu Lebzeiten Ihrer Mutter ist das sicher nie vorgekommen.»

Antoinette und Lilian lauschten gespannt auf die allmählich etwas lauter werdenden Worte der Frau von Guldwang.

«Ist Ihnen nicht bange dabei?» fragte sie.

«Entsetzlich ist es mir. Ich kann Ihnen zwar versichern, daß es meines Wissens bis jetzt nie in dem Maße vorgekommen ist, und vielleicht bin ich ein wenig mitschuldig, weil ich heute nicht zuhause blieb. Aber was ich tun soll, wenn es wieder geschieht...»?

«Sie selber werden nicht viel tun können. — Hat Ihr Vater nicht einen Freund, der auf ihn einwirken könnte?»

«Ich weiß keinen.»

«So müssen wir jemanden suchen, der bereit wäre, mit ihm ein Abstinenz­gelübde einzugehen.»

145 «Mama, das wirst du nicht tun!»

Aufs Höchste erstaunt, wandten sich alle nach Antoinette um, die in aufwallendem Zorn nahe an die Sprechenden herangetreten war.

«Was werde ich nicht tun?» fragte Frau Dorothea gereizt.

«Was du eben Heini vorgeschlagen hast.»

Frau von Guldwang lachte gezwungen. «Ich werde tun, was ich für meine Pflicht halte, und daran wird mich Mademoiselle Antoinette nicht hindern. — Im übrigen gehört die Sache allerdings nicht hierher, wenn ihr beiden lange Ohren machen wollt. — Nun,» wandte sie sich jetzt zu Heini, «wir werden noch darüber reden. Bis dahin überlegen Sie sich, ob nicht jemand zu finden wäre... Und ihr beiden spielt uns lieber noch etwas! Oder wart, Lilian, nehmen wir nochmals unsre liebe Ouvertüre vor!»

Frau von Guldwang setzte sich mit Lilian an den Flügel. Heini stand hinter ihnen. Aber er hörte kaum, was gespielt wurde. Die leidenschaftlich zürnenden Blicke, mit denen Antoinette aus dem dunkeln Winkel, in den sie sich zurückgezogen, ihn verfolgte, verwirrten ihn von neuem. Wie reimte sich ihr Auftreten mit der gütigen Teilnahme ihrer Mutter? Wem sollte er recht geben?

Heini sann über all das nach, bis ihn schließlich doch die Musik und der Anblick der Spielenden davon ablenkten. Erst waren es die wohlgepflegten Hände der Hausfrau, die seine Blicke auf sich zogen. So eben, wie 146 sie mit den Tasten spielten, tat es die Frau mit den Menschen. Ein leises rosiges Antippen, und man konnte nicht anders sein und handeln, als sie es wollte. Zuletzt fingen sich des Jünglings Blicke in den krausen Stirnlocken Lilians, in denen der Lichtschein der Kerzen wunderlieblich schillerte. Er sah ihren zierlich gebildeten Nacken und den entzückenden Bau ihrer Schultern und Arme. Darin störte ihn nicht das Spiel all der vielen bald glitzernden, bald gedämpft schimmernden Lichter auf den glatten Tasten, auf der polierten Fläche des Flügels, auf den darauf hingelegten Ringen Dorotheas und auf den im Widerschein des Kaminfeuers unruhig atmenden Ölbildern. Es störten ihn auch nicht die unablässig auf ihm haftenden Blinkfeuer in Antoinettes Augen. — So sehr hatte Heini Tillmann den Jammer des erloschenen Sonntags vergessen. — «Ach, so spielen können! Wenn ich einmal freier sein werde! Welche Lust wird es schon sein, hinwegzuräumen, niederzukämpfen, was mich noch von ihr scheidet! Wenn meine Lippen einst diesen Nacken werden berühren dürfen!» Derlei Torheiten spukten in des jungen Menschen Kopf herum, der nicht ahnte, was unterdessen in Antoinettes Herzen vor sich ging.

Viel tiefer als Heini Tillmann selbst hatte die Erbin von Prankenau das Weh über den Fall des alten Tillmann ergriffen. Schrecklich, unerträglich schien ihr Heinis Schicksal zu sein. Seinen eigenen Vater betrunken auf der Landstraße zu treffen! Am hellichten Tage. Von 147 des Mannes roher Härte hatte sie schon genug gehört. Das Mitleid mit seinem Sohne hatte ihr den Entschluß aufgezwungen, sich für diesen einzusetzen. In Augenblicken der Ernüchterung freilich hatte die Einrede der Vernunft sie aus der süßen Qual ihrer Gedanken erlöst, doch nur um sie hernach um so deutlicher empfinden zu lassen, daß sie im wohlbehüteten, warmen Nest ihres Elternhauses niemals Raum finden werde für die flugkräftigen Schwingen ihrer großen Seele. Antoinette von Guldwang die Gattin eines Tillmann aus der Känelmatt, der, fast gleichaltrig, erst noch seine vermutlich dürftigen Lebens­bedingungen schaffen mußte! Ein Wahn, nicht würdig, eine Stunde lang gelitten zu werden. — Ach, daß es so unmöglich wäre! — Aber da war der Fels geborsten, das Unmögliche möglich geworden. Durch Heinis Entschluß, Theologie zu studieren, war es geschehen. Seit Jahrhunderten hatte aus der ehernen Mauer der Standesordnung ein Pförtlein in den geistlichen Stand geführt. Das stand ihr offen, und solange es offen blieb, durfte und mußte sie ihrem Herzen folgen. Den ganzen Abend hindurch wand sich Antoinette, durch die Pforte blickend, Dornenkronen. Und es war ihr, als wüchse ihr der Mut von Minute zu Minute. Darum fand sie ihn auch, um gegen ihrer Mutter Absichten aufzutreten. Wenn jemand einen Schritt wagen sollte, um dem Verderben zu wehren, das den alten Tillmann bedrohte, so mußte es Heini sein. Jeder Fremde, der da hinein redete, verdarb die 148 Sache. Und daß Heini der Mut nicht entfiel, dafür wollte sie sorgen.

In einer Pause des Spiels erhob sich Frau von Guldwang, um andere Notenhefte zu suchen. Heini blieb sinnend an der Wand stehen. Lilian, welche glaubte, ihr Zuhörer hänge seinen trüben Gedanken nach, lehnte sich zurück und flüsterte ihm zu: «Wenn Sie jemanden brauchen, der bereit ist, mit Ihnen das Abstinenzgelübde zu teilen, so zählen Sie auf mich. Ich würde Ihnen so gerne beistehen.» Heini war das Törichte dieses Anerbietens klar; aber er war hingenommen von der Freundschaft, die ihm das Mädchen damit bezeugte.

«Antoinette, nun lässest auch du dich vielleicht gütigst herbei, uns deine Kunst zu zeigen. Hier wäre das vermißte Schumannheft.» Mitten im Salon stehend, hatte Frau Dorothea das Antoinette zugerufen, in der selbst­verständlichen Erwartung, daß ihr Wunsch sofort erfüllt werde. Es war kein rosiges Antippen gewesen. Trotzdem oder vielleicht deshalb versagte ihre Autorität. «Ich mag heute nicht spielen und singen erst recht nicht.» Das war alles, was die Mama zu hören bekam.

«Sehr artig!» sagte sie spitz und setzte sich ans Feuer.

Der Rest des Abends verlief still. Die Laune der Hausherrin war verdorben, und die Gemütlichkeit machte leise hinter sich die Salontüre zu. Heini Tillmann, der keine Lust verspürte, angetippt zu werden, lauerte auf 149 den nächsten Augenblick, der ihm gestattete, sich zu empfehlen. Viel schneller noch, als er vermutet, stellte er sich ein, indem Frau von Guldwang wiederholte: «Also, lieber Heini, wir werden über die Sache noch reden.»

Aus Rand und Band vor Jugendseligkeit — trotz des trüben Tages, der hinter ihm lag — wäre Heini mit den sonnigen Blicken, die ihm Lilian mit auf den Weg gab, die Treppe hinunter­gesprungen; aber der Abschied von Antoinette hatte ihn vor ein Rätsel gestellt. «Sie muß sehr schlechter Laune sein,» sagte sich der Jüngling, und bald hatte er sich zurechtgelegt, daß neben der Verstimmung über ihre Mutter Eifersucht gegen Lilian ihr Herz ergriffen habe. Es war also eine Mädchenlaune, die er nicht tragisch zu nehmen brauchte. Und was sollte er sich damit beschweren, jetzt, wo er in Lilian einen Engel gefunden, der ihn durch die unheimlich düstere Zukunft geleitete und der nicht als ein unfaßbares Phantom vor ihm her schwebte, sondern in Fleisch und Blut an seiner Seite ging? — Er konnte sich nur nicht erklären, warum trotzdem der zürnende Blick der Unerreichbaren ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.


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