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Also sterben!
»Sterben, alter Junge – sterben – sterben!« rief auf seinen Wegen eine Stimme vor ihm her.
Es war, als ob sein Riese lächelnd mit dem Kopfe nickte: »So, jetzt hab' ich dich so weit!«
Doch noch eine Rettung gab's: die Flucht.
In vierundzwanzig Stunden nach Hamburg, und von dort aus über den Ozean auf Nimmerwiederkehr.
Zwei- bis dreitausend Mark ließen sich flüssig machen. Für das, was zurückblieb, mußte der Herrgott sorgen.
Oder Ulrich vielmehr! Wer würde kommen und die Bücher durchsehen und die Gläubiger befriedigen und Außenstände einziehen und schaffen ohne Rast, damit die Ehre des schmählich Entflohenen gerettet werde?
Ulrich – nur er – und immer wieder er!
Dieser Gedanke war so unerträglich, daß er jede Entschließung lähmte.
Ein briefliches Geständnis verbot sich von selbst, denn was sollte aus Felicitas werden, wenn sie bloßgestellt und verraten in Ulrichs Hause zurückblieb?
Ja, durfte er sie überhaupt im Stiche lassen, sie, die mit der Todesangst der Verbrecherin an ihm hing?
Und seine Sehnsucht schrie nach ihr …
Es war nicht eine Faser mehr in seinem Leibe, die nicht nach ihrem Besitz verlangte … Er vermochte sich das Menschendasein nicht mehr vorzustellen ohne diesen einen wollüstig schmerzenden Wunsch, der für alle Ewigkeit unerfüllbar blieb.
Am folgenden Nachmittag fuhr er nach Uhlenfelde.
Verwachte Nacht, durchgrämter Tag, dumpfe Ratlosigkeit und nicht zumindest eine schadenfrohe Neugier, wie sie die Nachricht des drohenden Unheils entgegennehmen würde, trieben ihn endlich in ihre Nähe.
Gab sie ihn frei, so wollte er noch am selbigen Abend in die Weite gehen.
Vom Reitknecht erfuhr er, die Frau Baronin habe vor einer Stunde allein und zu Fuß den Hof verlassen.
Wohin sie gegangen sei?
Das wüßte man nicht. Die Richtung sei nach Münsterberg gewesen. Gestern hätte sie es ebenso gemacht, und vorgestern auch – und heimgekehrt wäre sie erst lange nach Einbruch der Dunkelheit.
Der erste Gedanke, der ihm kam, war eine unwürdige, schmutzige Eifersucht. – Er warf ihn weit wieder von sich.
»Nach Münsterberg!« befahl er einsteigend dem Kutscher.
Sein Schlitten verließ den Hof. Die eingeschneiten Felder umfingen ihn.
Es war just um dieselbe Stunde, da er gestern zu Johanna gegangen war.
Wie eine braungraue Decke, mit fahlen Flecken betupft, hüllte der Himmel die Gefilde ein … Ein Schneefall schien bevorzustehen, doch noch hingen die Wolken nicht tief genug, um sich zu öffnen.
Die Wege zogen Schattenbänder durch das eintönige Weiß der Ebenen, das der Abend schon zu verfärben begann … Ein matter Windstoß strich durch das kahle Geäst der Ebereschen, welche den Grabenrand umsäumten, und die runzlig braunen Reste ihrer Trauben zitterten, als fröre sie.
Majestätisch hallte das Schlittengeläute durch das weite Schweigen … Hie und da schürfte eine Schlittenkufe mit mißtönigem Kratzen die schwarze Erde – sonst kein Laut, so weit das Ohr auch in die Ferne reichte … Aus dem lichten Haselnußgehölz, das eine kurze Strecke weit den Weg begleitete, hatte eine Krähenschar sich langsam erhoben: nun hing sie lautlos schwebend unter den Wolken, als hätte dort die Not sie festgenagelt.
Die spitzen Pappeln der Chaussee dunkelten mit jeder Sekunde höher und massiger herüber.
Dort hoffte er sie zu finden.
Und dort fand er sie.
Kaum war er in die breite Fahrstraße eingebogen, da sah er eine schwarze Gestalt, von wehenden Trauerschleiern umflort, in der Richtung nach Münsterberg vor sich her marschieren.
Rasch holte er sie ein.
Sie wandte sich. Der Wind hatte ihre Wangen gerötet … Unter dem Trauerhut hervor, der ein dunkles Dreieck in das Weiß der Stirne schnitt, leuchtete ihr Antlitz in mädchenhafter Frische und Süße, nur die schmachtende Müdigkeit ihrer blauumschatteten Augen zeigte, was sie gelitten hatte … Und nun verklärte sich auch ihr Blick … Verschämt und strahlend wie dereinst, mit ausgestreckten Händen, stand sie da, und seine Seele jauchzte ihr entgegen.
Er sprang aus den Decken und befahl dem Kutscher, langsam hin und her zu fahren, bis er wiederkäme, dann bot er ihr schweigend den Arm und führte sie auf den einsamen Landweg zurück.
»Was treibst du hier, Felicitas?« fragte er.
»Ich laure dir auf,« flüsterte sie. »Bist du mir böse deshalb?«
»Wie soll ich böse sein?« gab er zur Antwort, »ich komm' ja von dir.«
»Also endlich!« seufzte sie und schmiegte sich enger an ihn. »Mein ganzes Leben ist nichts mehr als ein großes Warten auf dich, Leo. – Ich bin krank nach dir, Leo!«
»Und ich nach dir!« stieß er hervor.
Ihr Arm erbebte heftig in dem seinen. Für eine Weile schwiegen sie beide. – Sie wußten, was sie wissen wollten.
Ein streifiges Zwielicht breitete sich von Westen her über die verschneiten Ebenen … Das Haselnußgehölz, dem sie sich näherten, nahm eine bräunlich-violette Färbung an … Die Krähen hatten sich wieder zur Erde niedergelassen und saßen wie schwarze Klümpchen in dem dünnen Gezweig, dessen Ruten sich faserig gegen den Himmel abschatteten.
Von der Chaussee her drang ab und zu ein kurzer, harter Glockenton, wenn eines der wartenden Tiere sich regte.
Leo klopfte das Herz. Er fühlte, daß die nächsten Minuten über ihrer beider Schicksal die Entscheidung bringen würden.
»Hör zu, Felicitas,« begann er, »mit uns beiden steht es schlecht.«
»Was ist geschehn?« stammelte sie, indem sie erschrocken in dem Schlittengeleise Halt machte.
»Geschehn ist nichts … Aber wir müssen uns trennen, eh was geschieht.«
Da hub sie zu wehklagen an: »Ich hab's ja geahnt, daß du mich verlassen willst … Ich hab's ja geahnt … Aber ich will bei dir bleiben. Ich will bei dir bleiben … Ich kann nicht leben ohne dich.«
Und sie klammerte sich an seinen Arm, als könnte er ihr schon in diesem Augenblick verloren gehn.
Er sah ihr erbleichendes Gesicht, er sah die leuchtenden Augen, die in angstvoller Hingabe zu ihm emporflehten, und die Fluchtgedanken wichen weit zurück – wurden zum schattenhaften Spiele. Das Gefühl der Verantwortlichkeit für dieses in Mitschuld zitternde Menschenwesen legte sich als eine neue Last zu allen andern Lasten schwer auf seine ächzende Seele.
Sie hatte mit beiden Händen in seinen Pelz hineingegriffen und hing so fest an ihm, als wolle sie ihn nie wieder frei geben. Wäre er weitergeschritten, so hätte sie sich am Boden mitschleifen lassen.
»Da bleibt einem also nichts übrig, als wie 'ne Kugel vor den Kopf,« murmelte er, an ihr vorüberschauend.
Sie schrie hell auf.
»Hab doch Erbarmen mit mir,« flehte sie, »und ängstige mich nicht so … Was hab' ich dir gethan, daß du mich so ängstigst?«
»Du hast mir nichts gethan, Felicitas,« erwiderte er, »aber Johanna will reden.«
Ein Schweigen entstand … Der matte Wind, der über die Schneeflächen dahergeglitten kam, strich mit leisem Pfeifen durch die bebenden Ruten … Die zunächst hockenden Krähen waren aufgeflattert und kreisten mit trägem Flügelschlage um das Paar. Auch die ferneren rüsteten sich zur Flucht.
Felicitas löste langsam ihre Hände und fuhr sich zwei- bis dreimal wie träumend über die Stirn. Dann schielte sie nach rechts und nach links, als ob hinten im Weggraben schon irgendwo die Rächer kauerten.
»Komm ins Gebüsch,« flüsterte sie, »dort sieht uns keiner.«
Und ohne sein Mitkommen abzuwarten, lief sie seitwärts in den tiefen Schnee hinein, den Wildspuren kreuz und quer durchfurchten. Erst als das Unterholz seine dünnen Zweige als notdürftigen Schutz um sie breitete, wagte sie innezuhalten.
Langsamer schritt er hinterdrein. Auch ihm wurde erst wohl zwischen dem bergenden Gestrüpp.
»Sie soll nicht reden,« rief Felicitas mit gefalteten Händen ihm leise entgegen. »Ich fleh' dich an, Geliebter, sie soll nicht reden … Du mußt sie zum Schweigen bringen … Thu mir doch den Gefallen.«
Er lachte finster vor sich hin.
» Ein Mittel hätt' ich,« sagte er, »das könnt' ich im Notfalle anwenden, wenn sie es so weiter treibt.« Aber da packte ihn der Ekel vor dem längst verworfenen tückischen Plane.
»Laß mich in Ruh,« rief er sie an, »Ich will nicht mehr … Ich bin mürbe … Ich will ein Ende machen.«
»Bloß nicht fliehen,« jammerte sie, ihn von neuem umklammernd. »Alles – bloß nicht fliehen.«
»Du hast klug reden,« erwiderte er. »Bei mir heißt es jetzt: Fliehen oder – –.« Er schauderte und schwieg.
»Sterben?« fragte sie, halb neugierig und halb verängstigt, indem sie wie ein Kind im Dunkeln sich an ihn drückte.
Er nickte. »Was Drittes gibt's nicht mehr für mich, das siehst du ja wohl ein.«
»Ach ja, dann sterben!« flüsterte sie, indem sie mit einem lechzenden Lächeln den Kopf nach hinten überneigte. »Viel lieber sterben!«
Ihn überlief es heiß. »Du hast es ja sehr eilig, mich los zu werden,« sagte er mit tastendem, gequältem Scherze.
»Dich los zu werden?« fragte sie entrüstet. »Glaubst du, daß du ohne mich sterben wirst?«
»Felicitas!« schrie er auf, indem er ihre beiden Arme packte.
»Ach, gäb' es etwas Seligeres für mich, Geliebter,« fuhr sie flüsternd fort, »als in deinem Arme den Tod zu finden?«
Er preßte sie an sich. Ein Gefühl von Trunkenheit, das er sich als Todessehnsucht deutete, ging schauernd durch seine Seele, doch dann kam abkühlend ein Mißtrauen über ihn – Mißtrauen gegen sich selbst und mehr noch gegen sie.
»Du, ist es dir aber auch Ernst mit deinem Verlangen?« fragte er, »denn das – laß dir – gesagt sein: Gespaßt wird diesmal nicht … Zahntropfen trinken wir keine.«
»O pfui!« schmollte sie, und dann mit einem matten Lächeln der Verzückung: »Dein will ich sein … dein will ich sein … Und da's im Leben nicht geht, so wenigstens im Tode.«
»Prüfe dich genau, Felicitas,« warnte er noch einmal. »Es handelt sich hier nicht um das bißchen Tod allein … Diese Hundewelt im Stich zu lassen, ist da, wo wir beide glücklich angelangt sind, keine große Sache mehr … Aber wir geben zugleich alles daran, worauf der Mensch Wert legt, solang es ihm nicht egal ist, ob er als Lumpenhund in irgend einem Graben liegen bleibt … Mit Zangen wird man uns anfassen – das bedenk! … Und über unsern Gräbern werden sie ausspucken.«
»Was geht uns das dann noch an?« fragte sie lächelnd. »Wir fühlen ja nichts mehr.«
»Also du willst?«
»In deinen Armen will ich sterben,« hauchte sie, und die Augen selig schließend, legte sie den Kopf ganz weit nach hinten über, so daß das Himmelsgewölbe ihr Angesicht mit weißem Lichte übergoß.
»So wird sie daliegen,« dachte er.
Doch diesmal schlug sie die Lider noch auf.
»Ja, ja, ich lebe noch,« sagte sie, seinen Gedanken erratend, in schwermütiger Schelmerei, und suchte mit ihren Lippen durstig seinen Mund.
Und dann verabredeten sie, wie es geschehn sollte. –
Der morgige Tag sollte den letzten Anordnungen gehören. Zur Mitternachtsstunde wollten sie am Strome zusammentreffen, um gemeinsam für ihre That eine Stätte zu suchen, damit das Licht des nächsten Tages sie schon im Tode vereinigt fände.
Felicitas schauderte.
»Thut es dir etwa schon leid?« fragte er, von frischem Argwohn gepackt.
Sie verbarg den Kopf an seiner Brust. »Und vorher?« flüsterte sie zu ihm empor.
Sein Blick ging irrend in die Weite … Ihm war, als säh' er die blaue Ampel von Fichtkampen, bei deren Schein er seines Herzens Reinheit einst zu Grabe getragen hatte, von neuem lockend vor sich angezündet.
»Wie meinst du das! ›vorher?‹« stammelte er.
»Ich bin ein schwaches Weib, siehst du … Ich könnte im letzten Augenblick Furcht bekommen, allein hinunterzugehn, wenn ich weiß, daß dort der Tod auf mich wartet … drum bitt' ich dich, mach es mir leichter … komm heraus, mich abholen … Wir machen uns dann zusammen auf unsern letzten Weg.«
Er fuhr auf. Etwas wie eine heiße Hoffnung war in ihm erwacht, um sofort in Grauen zu ersticken … Schweigend sah er auf sie nieder und atmete inbrünstig den Duft, der ihrem Leib entströmte, dem weißen, zärtlichen Leibe, in dessen Besitze seine jugendlichen Sinne einst Rast und Reichtum gefunden hatten.
Und während seine Seele sich vollsog an Duft und Bildern, hörte er unter sich an seinem Arme flüstern:
»Nicht wahr, du kommst, Geliebter, du kommst?«
»Wenn du Furcht hast, werd' ich kommen!« sagte er und wandte sich ab.
Rasch und angstvoll – als könnte sein Entschluß sich im nächsten Augenblick verflüchtigen – machte sie ihm klar, wie sein Besuch sich bewerkstelligen ließe. Um Mitternacht würde Minna am Strome, dort, wo die Wunen waren, auf ihn warten – würde ihm das Parkthor aufschließen und ihn über die neue Turmtreppe zu ihr emporgeleiten.
Wie im Traume hörte er zu. – Stärker noch zitterte durch seinen Leib und seine Seele die geheimnisvolle Trunkenheit, die ja nichts weiter war – nichts weiter sein durfte – als das allmächtige Verlangen nach dem Tode.
Und dann trennten sie sich. –
Sie ging auf dem Wege nach Uhlenfelde von dannen, er kehrte zu seinem Schlitten zurück.
Als er die Chaussee erreicht hatte, machte er Halt, lehnte sich gegen einen Pappelbaum und sah ihr nach.
Wie ein harter, schwarzer Strich mitten in weißlicher Dämmerung hob sie sich von den umgebenden Schneefeldern ab – wurde kleiner und runder und schrumpfte zum Punkte zusammen.
Da kam mit einemmal wie eine schmutzige Woge ein grausamer, allzerfressender Hohn über ihn – Hohn über sich – Hohn über sie – Hohn über die ganze Welt.
Das war das Ende! Das war das Ende!
Gellend lachte er auf, so daß Johann, der keine zwanzig Schritte weit auf seinem Bocke saß, sich erschrocken nach ihm umsah.
Die Pferde machten einen Satz. Die Glocken klirrten.
»Was nun?« fragte sich Leo, und starrte ratlos dem Alten ins Gesicht.
Nach Münsterberg hatte er fahren wollen … Was wollte er doch in Münsterberg? … Ja richtig, der Jude Jacobi sollte ihm zur Amerikafahrt das Geld besorgen … Das war nun freilich nicht mehr vonnöten … Aber gleichviel, die Stunden bis zum Tode mußten totgeschlagen werden.
Nach Münsterberg also!
»Die Schlittenbahn ist gut!« dachte er, während er dem Wind entgegen durch die sinkende Dämmerung flog.
Auch hatte er sicherlich noch andre Geschäfte in Münsterberg. Er wußte nur nicht, welche … Der Dreschmaschinentrommel neue Stifte einsetzen lassen? Der Teufel hole die Dreschmaschine … Oder Schulden bezahlen? Die Flickschulden wenigstens, denn die großen mußten bleiben … Der Referendar Danziger fiel ihm ein mit fünfzehn Mark, dem Rest einer mißglückten Blauveilchenpartie … Fritz, der Oberkellner in der »Preußischen Krone«, der die letzte Abendzeche noch zu verlangen hatte … Ebenso die blonde Ida! … Die blonde Ida hatte jüngst drei bittere Schnäpse auf sein Wohl getrunken und war im Trubel der allgemeinen Atzung ohne Geld geblieben.
»Die blonde Ida ist ein gutes Viehchen,« dachte er, »sie darf bei meinem Tode keinen Schaden haben.«
Rechts vom Wege tauchte Lubowen aus, wo die Familie Neuhaus sich abrackerte, um dem Sequester zu entgehen – links eine Strecke weiter Althof, wo der dicke Hans sich langsam zum schlechten Ehemann ausbildete, bloß weil es ihm zu gut ging.
Mit der verbissenen Ueberlegenheit des Ausgestoßenen pfiff Leo vor sich hin … Es war ja alles Narretei – und auf das Leben zu pfeifen, wie er es that, die einzige Weisheit … Narretei war alles, selbst Ulrichs …
Still von Ulrich!
Ulrich bekam den Todesstoß, das war klar. Einen Verrat wie diesen überstand keiner … Still von Ulrich!
Alles, was man thun konnte, war: ihm die Schmach mit ein paar hinterlassenen Zeilen zu überzuckern, die nur von alter Schuld und nicht von neuer Liebe sprachen. – Damit mußte er sich abfinden für den Rest dessen, was er sein Leben nannte. – Warum hatte er auch die Dummheit begangen, sich an ein Weib zu wagen, dem nur ein Halunke wie er selbst gewachsen war?! …
Still von Ulrich! Still von Ulrich!
Putzig hatte sie ausgesehen in ihrem Trauerstaat … Wie eine verliebte junge Klosterfrau, die in Romanen manchmal beschrieben steht … Und mit welch scheuer List sie sich an Ulrichs Namen vorbeigeschlichen hatte! … Als gäb's so etwas wie Ulrich gar nirgends auf der Welt … Still von Ulrich! –
Auch über den armen, kleinen Burschen hatte sie kein Wort und keine Thräne mehr verloren.
Tot und vergessen war er schon in seinem frischen Grabe!
Tot und vergessen, wie bald Leo Sellenthin!
Nun – das sollte ihm egal sein, wenn nur die blonde Ida das Geld für den Absinth bekam! –
In der »Preußischen Krone« fand er den Referendar, welchen er suchte, und ein paar andre von der Bande, den dicken Hans natürlich mitten drunter. Sie waren eifrig beschäftigt, um ein paar Gläser abgestandenen Bieres ein fades Würfelspiel in die Länge zu recken. Den »nackten Sperling« spielten sie, und »die höchste Hausnummer mit allen Schikanen« und »die feuchte Sechse«.
Er wurde mit Hallo begrüßt und gefragt, ob er mithalten wolle.
»Kinder,« sagte er in einem Anfall wüsten Narrentums, »ich werde mich morgen totschießen – und da bin ich mir nicht klar, ob sich so was heute noch für mich schickt.«
Mit hohem Ernst beschloß man abzustimmen. Die Majorität entschied sich dafür – fügte jedoch die Einschränkung hinzu, daß nur solche Spiele erlaubt sein sollten, welche der Schwere der Situation Rechnung trügen … Darum wählte man fortan »das fidele Begräbnis« und »den Leichenstein im Walde« und, weil man nichts Traurigeres mehr wußte, auch »das Loch im Kanapee«.
Leo that seine Würfe und riß schlechte Witze dazu, doch derweilen schrie fortwährend eine Stimme triumphierend ihm ins Ohr: »Sterben, alter Junge – sterben – sterben!«
Als er das Spiel verloren und seine Schulden bezahlt hatte, erklärte er, er müsse zur blonden Ida. Da es inzwischen dunkel geworden war, so hatte man nichts dagegen, ihn zu begleiten.
Leo übernahm die Führung.
Als er die Thür des Engelmannschen Lokals öffnete, fand er den Haupttisch der heißen, raucherfüllten Gaststube mit einem Häuflein zechender Inspektoren dicht besetzt.
Die blonde Ida hängte sich mit einem Freudenschrei an seinen Hals.
Da sah er an der Spitze der Trinker, lächelnd und geschniegelt – den Kandidaten Brenckenberg.
Ein wohliges Erschrecken rann ihm warm an den Armen hinunter.
Unsanft schüttelte er die blonde Ida von sich ab.
» Hab' ich dich, Bursche!« rief es in ihm … Er wäre wahrhaftig ins Jenseits übergesiedelt, ohne den Schimpf, den seine Familie erlitten, nach Gebühr gerächt zu haben.
Die Inspektoren, denen bei diesem Ueberfall um ihre Stellen bange werden mochte, sprangen devot in die Höhe. – Der Kandidat, der sichtlich erblaßt war, gab sich den Anschein, nichts und niemanden bemerkt zu haben.
Leo trat auf ihn zu.
»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Kurt Brenckenberg.«
»Sie wissen, wo ich zu finden bin, Herr Leo von Sellenthin,« erwiderte der Kandidat, ohne sich von seinem Platze zu rühren.
»Na, Gott sei Dank! Ich hab' Sie ja gefunden,« erwiderte Leo.
Der Kandidat bemühte sich, die suffisanteste Miene aufzusetzen, deren er fähig war.
»Erlauben Sie, Herr von Sellenthin,« sagte er, indem er mit zitternden Fingern an seinem Bierzipfel tändelte, »ich bin Corpsstudent und glaube zu wissen, was sich schickt … Sie haben sich bereits einmal in uncommentmäßigster Weise gegen mich benommen … Ich bitte, mich in Ruhe zu lassen. Ich habe jetzt keine Zeit für Sie!«
In Leo erwachte eine Art von grausamem Mitleid. Lächelnd sah er auf das dürftige Bürschchen nieder, das da unten in kampfbereiter Arroganz sich blähte … Zu andern Zeiten hätte er ihn vor seine Pistole gefordert, hätte ihn vielleicht auch niedergeschossen – doch jetzt, da das Todesurteil über ihn selbst gesprochen war, sank das alles als nichtig und jämmerlich in jene arme, dunkle Welt zurück, mit der er nur locker noch zusammenhing.
Doch einen Denkzettel beschloß er ihm ins Leben mitzugeben, damit die leichtsinnige kleine Schwester vor seinen unreifen Schustereien sicher war.
»Auf!« schrie er, ihn am Arme packend, um ihn in die Höhe zu reißen.
Der Kandidat schnellte empor und erhob die Faust, ihm ins Gesicht zu schlagen.
Doch schon hielt Leos Linke seine beiden Handgelenke wie mit einem Schraubstock eingespannt.
Die blonde Ida schrie hell auf und lief davon … Die Inspektoren wichen bestürzt zur Seite … Leos Begleiter wurden durch Hans Sembritzky rasch verständigt und in Schach gehalten.
Für ein paar Augenblicke herrschte lautlose Stille in dem menschengefüllten Raum, den eine räuchernde Deckenlampe dürftig erhellte.
Der Kandidat, der seine Hände zu lösen versuchte, sprang umher wie ein Tanzender.
»Du verdammter Bengel!« sagte Leo. »Anstatt auf deiner Schulbank zu sitzen, treibst du dich rum und renommierst und stänkerst. Und wenn dein alter Vater dir das Leder nicht vollhaut, so werd' ich es thun.«
Er sah sich nach irgend einem Instrumente um, das für diesen Zweck geeignet schien, und entdeckte an der Wand hängend ein kräftiges Lineal, wie es der Wirt für seine Rechnungen gebrauchen mochte.
Mit raschem Griffe riß er es vom Nagel.
Dann stützte er sich halb sitzend gegen den nächsten Stuhl und streckte den Kandidaten über sein linkes Knie.
Und dieweil er dessen verzweifelt sich wehrende Füße mit dem rechten Beine zu Boden drückte, zog er ihm liebevoll die Hosen stramm und vollzog eine Exekution an ihm, wie einer, der bei den Normannen zweiter und bei den Westfalen dritter Chargierter gewesen ist – oder auch umgekehrt – sie für gewöhnlich sich nicht träumen läßt.
»So, mein Sohn,« sagte Leo, als er fertig war, »jetzt hat deine liebe Seele, was sie braucht … Geh deiner Wege … und deinem alten Vater sag, ich lass' ihn grüßen.«
Kreideweiß, mit stierenden Augen taumelte der Kandidat auf einen Sitz.
Leo hing das Lineal fein säuberlich auf seinen Nagel. Dann machte er den Anwesenden, die wie versteinert rings im Kreise standen, einen tiefen Diener.
»Ich wünsche Ihnen wohl zu leben, meine Herren,« sagte er, reichte dem dicken Hans die Hand und schritt mit einem Gelächter zur Thür hinaus.
Erst als er im Schlitten saß, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, der blonden Ida ihre drei bittern Schnäpse zu bezahlen …