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»Meine gelibte Mama!
Die meisten Jungs reisen bald zu hause. Der Erich Froben bleibt hier weil der keine Mama hat und der Fritz Lawsky hat bloß einen vor Mund und der If der ist aus west Indien und ist gelb wie ein schweizer Käse. Die andern Jungs reisen alle zu Hause. – Warum darf ich nicht zu hause reisen? Einige haben noch weiter und reisen doch zu Hause. Ach, ich möchte gern zu hause reisen. Ich weine jeden Morgen und jeden Abend daß ich nicht zu hause reisen darf. – Und bis Weihnachten sind noch sechs Tage. Dann wird eine Bescherung gemacht werden. – Und Jeder Junge bekomt sein Päkgen alles was drin ist unter dem Tannenbaum aufgebaut. – Und ich freue mich furchtbar auf das Päkgen. – Und eine Glokke gibt es auch – die Schulen Glokke die wird geleut. If bekomt auch was. Herr Doktor hat an seinen Papa geschrieben, und sein Papa hat zurükgeschrieben ja er wird was schikken, – Hast du meinen Wunschzettel auch bekomm? Villeicht ist er verloren gegangen. Das wäre ja schreklich. Darum will ich rasch einen neuen Wunschzettel schreiben.
Wunschzettel.
1. Zin-soldaten recht viele – solche dicken die orntliche Leiber haben nicht die glatten die taugen nichts.
2. eine Festung – das ist eine richtige Festung mit einer Zug-Brükke die wird aufgezogen und in dem Graben ist Wasser und wer Todt geschossen wird fällt ins Wasser rein. Aber davon geht die Farbe ab.
3. Eine Kanone.
4. Noch eine Kanone. Zusammen zwei große Kanonen, denn der Feind muß auch eine Kanone haben denn sonst kan er nicht schiessen.
5. Noch viele kleine Kanonen, denn eine Armee muß doch Athilirie haben. Und wer die beste Ahtilirie hat, der ist der Sieger.
6. Eine Menascherie. If hat eine Menascherie.
7. Einen Tinten Wischer. Mit einem Euhlenkopf. Das ist der schönste.
8. wird ausgestrichen. Also bitte kein Taschenmesser, den Herr Doktor der hat gesagt, wer ein Taschenmesser kriegt, der wird kohnfissirt.
9. ein Taschen-tintenfas. Der Kleist hat eins wie ein Kestchen und wenn man eine heimlige Feder drükt, dann springt es auf. Das ist etwas sehr Schönes. Man kann es immer brauchen und macht wirklig die Hosen nicht schmuzzig.
10. weiß ich nichts mehr. Aber viel Konfeckt. Aber das versteht sich von selbst. Denn ohne Konfeckt giebt es ja keinen Weihnachten.
Ach und zu Hause wäre es doch viel schöner. Ach, liebe, liebe Mama, wenn ich doch könnte zu hause komen. Aber weil es nicht kann sein will ich auch so zufrieden sein. Aber wenn ich dran denke, muß ich weinen … Die Jungs lassen mich jetzt in Ruhe und das hab ich dem If zu verdanken. Einmal haben sie mich so verkeilt, das mir das Blut gekomen ist und hat er sein Taschenmesser genommen denn er ist auch man klein und hat die großen Jungs gespikt. Und das Taschenmesser ist ihm kohnfissirt worden, aber sie fürchten sich doch. Und schicke doch recht viel Zinsoldaten, denn die Helfte soll der If kriegen. – Und nun mach ich einen Schlus.
Dein Sohn Paul.
Postcriptum. Auf das Päkgen freue ich mich sehr.«
Dieser Brief war unter der Adresse von Minna Huth am Sonntag vor Weihnachten in Münsterberg angekommen. Felicitas las ihn wieder und wieder, und jedesmal standen ihr Thränen in den Augen, aber sie gewann es nicht über sich, an Ulrich zu depeschieren, er möchte, wie es sein Wunsch war, sich auf die Bahn setzen, das Kind von Wiesbaden abzuholen.
Um gut zu machen, was sie an ihm sündigte, häufte sie eine unvernünftige Masse von Geschenken zusammen, die Paulchens Weihnachtstisch zu zieren bestimmt waren. Von Berlin waren zwei große Kisten angekommen, die nun auf demselben Wege wieder zurückkehren sollten, denn ihr Mutterstolz duldete nicht, daß irgend eine der Weihnachtsgaben durch andre Hände ginge.
In ihrem Eckzimmer standen große Stöße von Schachteln und Kartons, auf dem Teppich lagen Haufen von Sägespänen und Papierschnitzeln, und Marzipan und Pfeffernüsse – selbstgebacken – dufteten lieblich dazwischen.
Felicitas packte, – denn die Kisten sollten der Sicherheit wegen mit dem Abendzuge von Münsterberg abgehen. Die Aermel bis über die rosigen Ellenbogen emporgeschlagen, eine blaugeblümte Latzenschürze vorgebunden, strahlend von der Erregung der lustigen Arbeit, hantierte sie zwischen den Paketen umher, ließ die Zinnsoldaten aufmarschieren, gab einem Hampelmann einen Kuß auf den Schnauzbart, damit er ihn dem Herzensjungen wiedergäbe, und jagte einem Luftballon nach, unter welchem hoch in der Luft ein kleiner Trapezkünstler seine Kunststücke machte.
Sie war scheinbar mit ganzer Seele bei ihrem Werke: nur von Zeit zu Zeit gewahrte Minna, die ihr behilflich war, daß ihre flinken Hände lässig im Schoße liegen blieben und ihr Blick in sehnsüchtiger Träumerei zum Fenster hinausglitt.
»Sie erwarten wohl jemand, gnädiges Frauchen?« fragte sie endlich. Das kleine, gelbe Runzelgesicht schillerte vor Neugier.
Felicitas seufzte und schüttelte den Kopf.
Drei Tage waren seit jener Nacht auf der Fähre vergangen, und Leo hatte sich noch immer nicht gemeldet.
»Ja, das ist so mit den Herrens,« philosophierte die alte Nähterin, »zuerst versprechen sie und hernach kommen sie nicht.«
Felicitas hatte ihr nichts von der Begegnung mit Leo verraten, aber seit sie in jener Nacht ihre Herrin mit verdächtig leuchtenden Augen hatte heimkehren sehen, wußte sie, daß die Dinge eine andre Wendung genommen hatten.
Gegen halb vier Uhr wurde die Hausglocke geläutet.
Felicitas machte einen Satz zur Thüre hin.
»Na, lassen Sie man, gnädiges Frauchen,« sagte die Alte, »is er es nu wirklich, so macht es sich entschieden besser, wenn Sie ihm nich gleich an den Hals fliegen.« Und sie trippelte hustend hinaus, den Besuch zu empfangen.
Felicitas legte das Ohr ans Schlüsselloch. Beim ersten Klange der Männerstimme draußen fuhr sie hoch auf und sank, die Rechte gegen das Herz pressend, mit tiefem Aufseufzen in einen Sessel zurück.
Er war es.
Die Alte kehrte zurück und sagte, die Thür halb offen lassend, mit demselben dummen Gesichte, das sie Leo gezeigt haben mochte: »Der Herr von Sellenthin sind da – aber ich hab' gesagt, gnädige Frau werden wohl nicht –«
Da stand er! – Das alte Wesen beiseite und zur Thür hinausschiebend, war er ins Zimmer gestürmt.
»Endlich, endlich!« sagte sie, indem sie ihm mit ruhig wehmütigem Lächeln die Hand entgegenstreckte.
»Jawohl! … endlich!« wiederholte er mit einem kurzen, beinahe keuchenden Gelächter, das sie nicht an ihm kannte.
Auf den ersten Blick sah sie, daß irgend eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. – Seine Augen gingen unruhig umher, auf dem Stirnbogen saßen dick aufgetrieben die Zornrunzeln.
Ihr Gewissen, das sich stets unsicher fühlte, selbst wenn sie sich keiner Schuld bewußt war, ließ sie zu einer ungetrübten Beobachtung nicht kommen.
»Hast du schon wieder was gegen mich?« stammelte sie.
»Nichts hab' ich, – rein nichts hab' ich!« stieß er hervor und lehnte sich, für einen Moment die Augen zusammenkneifend, rückwärts gegen die Wand.
Dann fragte er: »Wann kommt Ulrich?« – und sein Blick hing gierig an ihrem Munde.
»Vor dem heiligen Abend sicher nicht – vielleicht spät sogar, denn hier wird ja erst immer am Morgen beschert.«
Er atmete tief auf.
»Was fehlt dir nur?« fragte sie mit einem Ansatz zu ernster Besorgnis.
Er lachte kurz und hart. »Was soll mir wohl fehlen, liebes Herz? Ein Tête-à-tête mit der schönsten aller Cousinen … Der Gatte hübsch weit vom Schuß … Alle Gewissensskrupel überwunden … Der liebe Gott gewissermaßen als dritter im Bunde … Feiner kann man's doch nicht verlangen?«
»Leo, du machst mir bange,« sagte sie und duckte sich in ihrem Sessel.
»Warum bange, Kindchen?« erwiderte er, nach ihrer Hand hintastend. »Ich hab' mich drei Tage lang ein Stückchen mehr verwildern lassen, das ist alles … Oder – aber … das heißt, ich hab' mir dies Kommen schwer gemacht … als ehrlicher Mensch, der ich – war … Voilà! … Denn das Versprechen auf der Fähre, liebes Herz – liebes Herz sagt' ich ja wohl früher immer … dann kann ich's ja auch noch – so nah' steh' ich dir doch wieder – was? … das Versprechen, siehst du, das war Blödsinn … das hast du mir abgeluchst … denn du bist eine Schlaue! … Mit allen Hunden gehetzt bist du.«
»Leo, du thust mir weh,« sagte sie, die thränengefüllten Augen mit der Hand bedeckend.
Er packte ihren Unterarm und riß ihr die Hand vom Gesichte.
»Du sollst nicht weinen,« knirschte er, »ich kann dich nicht weinen sehen … ich weiß, du spielst Komödie mit deinem Weinen, wie mit deinem Lachen … aber ich kann dich nicht weinen sehen … Warum lachst du nicht lieber? … Kommt ja auf eins raus.«
»Ach, wenn dich jemand hörte!« rief sie, die Hände faltend.
»Das fehlte noch!« höhnte er, aber sein Auge irrte in Angst die halbgeschlossenen Thüren entlang.
»In das Eckzimmer kann ich dich nicht führen,« sagte sie, der umhergestreuten Pakete gedenkend. – Vor ihrem Geiste stand einen Augenblick lang das Bild des auf die Weihnacht hoffenden Kindes und erlosch sofort, von der Not der Stunde verschlungen. –
Er streckte in Furcht und Abscheu die Hände gegen die Thür aus. »Lebendig kriegst du mich da auch nicht mehr hinein!« rief er. »Deine Parfüms da drinnen haben mich schon immer halb verrückt gemacht … Und nun gar heute … Aber weißt du was?« – sein Auge suchte das Fenster, in dessen Eisblumendickicht die Nachmittagssonne kleine Lichtungen hineingeschmolzen hatte – »da draußen im Schnee, da ist es klar und kalt … das macht klare Köpfe … und einsam ist es auch … da kann man reden … da kann man auch losschreien, wenn's einem gar zu lustig wird auf der Welt … Häng' dir einen Mantel um und komm.« –
Freudig willfahrte sie ihm, wickelte rasch einen spanischen Schleier eng um den Kopf, warf über das Hauskleid einen weiten, ärmellosen Pelz und eilte ihm voran zur Hausthür, ohne daß ein Mensch ihr Fortgehen bemerkt hatte.
Sie konnte nicht umhin, dies gegen ihn zu erwähnen.
Er antwortete nicht. Er hatte dasselbe gedacht. –
Der Winterabend schlug ihnen seine eisigen Wellen prickelnd gegen die heißen Gesichter … Die Sonne war im Untergehen … Ueber den Stallungen, deren Firste sich scharf wie Messerschneiden in die dünne, dunstlose Luft emporhoben, stand am stahlblauen Osthimmel die blanke Mondsichel.
Von den Scheunen her kam das Heulen der Dreschmaschine. – Sonst war auf dem Hofe alles still und menschenleer.
Das Paar schritt in den ausgeschaufelten Pfaden um den Giebel des Herrenhauses herum, öffnete die Gitterpforte, deren Riegel sich in seinem Haken festgeeist hatte, und trat in den Garten, der in seinem Schneegewande bläulich leuchtend vor ihnen lag. – Die Urnen auf den Ecken der Terrasse trugen weiße Hauben, und die Reben an der Wand schauten in ihren Schutzlappen drein wie frierende Kinder. –
Als die beiden den Rasenplatz durchschritten, versuchte Felicitas, ihren Arm in den Leos zu legen, mußte ihn aber wieder zurückziehen, da der schwere Pelzmantel ihre Bewegungen hemmte. – Am Rande des Buschwerks hörten die Pfade auf, aber sie dachten nicht ans Umkehren.
Schweigend schritten sie hintereinander her. Ihr Fuß suchte die Spuren, welche sein schwerer Stiefel in den Schnee gepreßt hatte.
»Wohin?« fragte er einmal, sich umdrehend.
»Ich weiß nicht,« erwiderte sie, »nur weiter.«
Planlos irrten sie in dem Gehölz umher. Beiden war zu Mute, als müßten sie sich irgendwo verkriechen, wo keines Menschen Blick sie fand.
Dann hörte er, daß sie mit den Zähnen klapperte.
»Dich friert,« sagte er, »wir wollen zurück.«
»Nein, mich friert nicht,« stammelte sie, am ganzen Leibe zitternd, »ich hab' bloß ein bißchen leichtes Schuhwerk.« Und sie wies ihm mit einem schwachen Lächeln die goldgestickten Pantoffeln, die sie in der Ungeduld, hinauszukommen, an den Füßen behalten hatte.
»Sofort dreh um!« rief er.
Sie wollte maulen, und er, um ihre Gegenwehr kurz abzuschneiden, setzte hinzu: »Oder ich trag' dich zurück.«
Da breitete sie die Arme aus und flehte lächelnd: »Trag mich.«
Aber er war feige geworden und nahm sein Anerbieten zurück. »Geh nur lieber,« sagte er, »man könnte uns von den Fenstern aus beobachten – und dann gäb's Geklätsche.«
Sie zuckte die Achseln und kehrte um.
Es war schon fast dunkel geworden … Durch das kahle Gezweig schimmerte ein verglühender Streifen Abendrot … Die Schneeflächen färbten sich rosig, ehe sie in Nacht untertauchten … Nichts regte sich, nur hie und da glitten kleine Schneehäuschen von den Zweigen, sternförmig am Boden zerplatzend.
Als sie am Treibhause vorbeikamen, wies Felicitas auf den Glanz der Feuerung, der trübe durch die erblindenden Scheiben der Glasthür schimmerte.
»Da könnte man sich wärmen,« flüsterte sie.
»Wär's nicht besser, wir gingen ins Schloß?« fragte er zögernd, indem er finster nach dem Feuer schielte.
»Komm!« rief sie mit einem leichtsinnigen Auflachen, und schritt voran, dem Glashause zu.
Er folgte, willenlos geworden.
In dem Vorraum waren Holzscheite aufgeschichtet, die das Flackerfeuer geheimnisvoll erleuchtete. – Wie Scheiterhaufen sahen sie aus, an denen eine verborgene Glut zehrend emporkriecht.
Die Feuerungsthür lag tiefer als der Boden des Raumes. Sie war in die Wand eines gemauerten Loches eingelassen, zu welchem drei Stufen hinabführten. Aus der Oeffnung der rotglühenden Platte quollen ab und zu die beizenden Wolken feuchten Erlenholzes hervor.
Felicitas sprang sofort in das Loch hinab und wollte die erstarrten Füße gegen die Feuerung ausstrecken, aber sie besann sich, stieg noch einmal hinaus, und die Schiebethür öffnend, die zu dem Hauptraume führte, rief sie den Namen des Gärtners in die Dunkelheit hinein.
Nichts ließ sich hören … In der heißfeuchten Atmosphäre da drinnen tropfte das Wasser geräuschvoll von Blatt zu Blatt. –
»Jetzt sind wir sicher,« lachte sie, sprang aufs neue in das Loch hinunter und dehnte sich seufzend in dem Wohlgefühle der erwärmenden Gluten.
Der Pelz verlor sich von ihren Schultern. Halb auf den Stufen hingestreckt, hob sich die Gestalt in dem blauen Morgenkleide weichlinig von den weißen Fellen ab, auf denen sie ruhte. Die Glut der Feuerung ließ das Blondhaar flimmern und warf einen Schimmer wie von purpurnen Schleiern auf das runde, wehmütig stille Kindergesicht, das sie oft zeigte, wenn sie schwieg und es ihr wohl zu Mute war.
»Warum stehst du da und siehst aus wie ein Uhu?« sagte sie dann mit einem Lächeln, den Kopf weit hintenüber reckend, um ihn sehen zu können.
Leo, der in Betrachtung verloren hinter einem Holzstoß lehnte, erwiderte:
»Schade, daß du das Fell da nicht auf dem Leibe trägst … du sähst aus wie Ellys weiße Katze.«
»Hast du mich nun bald genug maltraitiert, mein Freund?« fragte sie, ernst werdend. »Ich erweise dir Liebes und nichts wie Liebes und du benimmst dich wie ein knurriger Hund.«
»Hund und Katze, das paßt.«
»Laß die Witze und setze dich neben mich.«
Er that nach ihrem Geheiß und ließ sich auf dem Schmalrande des Feuerloches nieder, so daß er auf die Liegende hinabblicken konnte.
»Jetzt sind wir wie Hänsel und Gretel, die braven Geschwister,« sagte sie, von der seltsamen Poesie der Situation erfaßt. »Erzähl noch eine Rittergeschichte, und wir sind wieder fünfzehn Jahre alt.«
»So harmlos ist dir zu Mut?« fragte er.
»Ja,« erwiderte sie, »und so verliebt … das heißt natürlich nicht in dich, du eitler Mensch … nur in die Ritter, die du die Ehre haben wirst, mir vorzuführen … Und das war schon damals immer so … Und Johanna ärgerte sich … Ach, die ärgerte sich!«
Das düstre Bild der Schwester stieg gespenstisch vor ihm auf. Brütend sank er in sich zusammen, während sie zu plaudern fortfuhr:
»Aber wenn ich aufrichtig sein will, ich war auch in dich verschossen! … Und du warst ein rechter Bengel … oder wie sagt man: Flegeljahre oder so … sollte einer glauben, daß du kein Jota davon merktest? … Ich schickte dir allabendlich die schönsten Küsse durchs Fenster hinunter in dein Zimmer und du merktest nichts! … Dabei wandst du dich in deiner Verliebtheit wie ein Regenwurm … Und Johanna ärgerte sich! Ach, die ärgerte sich! Denn ihr teurer Ulrich trieb es genau so.«
Der Name Ulrich, der spielend über ihre Lippen geglitten war, machte sie stutzig. Aengstlich sah sie zu Leo auf und dann sinnend in die Flammen.
»Ach,« seufzte sie nach einer Weile, »wie das alles so gekommen ist!«
»Und wie das noch kommen wird!« stieß er hervor, von ohnmächtigem Zorne geschüttelt.
»Wieso?« fragte sie naiv.
»Weib, ist dir denn nie eine Ahnung aufgegangen, wohin wir steuern?« rief er, die gespreizten Finger gegen sie ausstreckend.
»Quäl mich doch nicht,« bat sie, indem sie sich halb umdrehte und das Gesicht in den Fellen verbarg.
»Steh mir Rede! – Ich will wenigstens wissen, ob du das Spiel kennst, das du mit dir und mir treibst.«
»Ach, Leo,« flüsterte sie, »ich will an nichts denken. Ich mag an nichts denken. Es ist so süß, bei dir zu sein … Weiter weiß ich nichts – und weiter will ich nichts.«
»Zuerst sollten wir bereuen,« schalt er weiter. »Das war alles. In Sack und Asche wollten wir trauern und Leib und Seele abkasteien … Und ich, weiß Gott, ich hab' es redlich gethan … So zerschlagen und so zerschunden bin ich von meinen Gewissensbissen, daß nicht ein ehrlicher Fleck mehr an meinem Leibe ist. Verfault und modrig komm' ich mir vor, und wenn mir einer die Hand reichen will, so möcht' ich ihm sagen: ›Bitte, beschmutzen Sie sich nicht.‹ Wenn das der Sinn war von dem allen, gut, das ist erreicht. – Aber was wir jetzt hier treiben, Weib, elendiges, ist das etwa noch Reue? Ist das nicht neue scheußliche Niedertracht?«
»Ich weiß nichts,« wiederholte sie flüsternd, »es ist ja so süß.«
»Und das genügt dir – was?«
Sie nickte zwei-, dreimal schweigend wie in aufblühender Seligkeit. – Dann sagte sie: »Du bist hier – das genügt mir.«
»Aber was ich ausgehalten habe, bis ich kam, danach fragst du nicht … Hast du überhaupt eine Ahnung, wie's in einem Menschen aussieht, der sich krampfhaft an das letzte Stückchen Energie anklammert, das ihm noch übrig geblieben ist? … Die Nächte durch hab' ich mich in den Wäldern rumgetrieben … die Füße hab' ich mir blutig gelaufen … zu Tode hab' ich mich hetzen wollen, um nicht herkommen zu müssen – und nun bin ich doch gekommen.«
Flehend, klagend, ein hungriges, hilfloses Kind, breitete er die Arme gegen sie aus. Ihr Blick trank ihm voll Inbrunst die Worte von den Lippen.
»Mein armer, armer Junge,« sagte sie leise und richtete sich an ihm empor, indem sie seine Füße streichelte.
Da schlug er die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.
Erschrocken und voll Entsetzen starrte sie ihn an. Sie kannte ihn seit sechzehn Jahren, und noch nie hatte sie eine Thräne in seinem Auge gesehn.
Sie sprang auf und faßte seinen Kopf mit beiden Händen.
»Leo! … mein lieber, lieber Leo!«
Sie versuchte seine Finger zu lösen, und da ihr dies nicht gelang, drückte sie ihre Lippen darauf. Er aber rührte sich nicht.
Immer ängstlicher werdend, sprang sie die Stufen hinan und kniete hinter ihm nieder, seinen Hals mit beiden Armen umschlingend.
Eine Ahnung von dem, was sie an ihm verschuldet hatte, dämmerte in ihr auf, nun sie den Riesen zerbrochen an Leib und Seele vor sich sah. Um dies Verschulden gut zu machen und um ihr Mitleid mit ihm zu ertränken, wußte sie nichts Besseres als ihn zu küssen. – Und sie küßte jeden Fleck seines Gesichtes, der ihr erreichbar war. Sie küßte sein Haar, seine Hände, seinen Hals.
Dann zog sie seinen Kopf in ihren Schoß hernieder und löste mit liebkosenden Fingern die Hände von seinem Gesicht.
Mit geschlossenen Augen und erschlafften Muskeln lag er da wie ein Schlafender. Der Atem ging kurz und keuchend aus seinem Munde.
Da preßte sie rasch und durstig ihre Lippen auf die seinen.
Er öffnete zusammenschauernd die Augen und sah mit wirrem Blicke zu ihr auf, dann schloß er sie wieder.
»Wir müssen jetzt gehn,« flüsterte sie, indem sie sanft seinen Kopf erhob, »der Gärtner könnte kommen. Dann wär's mit uns Matthäi am letzten.«
Hierauf streichelte sie noch einmal sein Haar und sagte dazu: »Du mußt es dir wieder kürzer schneiden lassen, mein Liebling, – das sah viel besser aus.«
Er rieb sich die Stirn, stand auf und schüttelte seine Kleider. Dann taumelte er matt gegen eine Wand.
»Komm, komm,« bat sie, sich den Pelz über der Brust zusammenziehend.
»Ja, ich komm',« sagte er und tappte gehorsam hinter ihr drein in den Schnee hinaus.
Vor dem Hausthor machte er Halt.
»Willst du etwa jetzt nach Hause fahren?« fragte sie erschrocken.
»Ja, ich will nach Hause fahren,« entgegnete er.
Es war etwas Eintöniges, Automatenhaftes in seinem Sprechen, was sie ängstigte, drum bestand sie nicht auf ihrer Einladung.
»Ach, war das schön!« flüsterte sie, indem sie seine Hand ergriff und an ihr Herz drückte.
Er erwiderte nichts, drehte sich um und verschwand wankenden Schrittes in der Dunkelheit …
Von den Ställen her hörte sie noch einmal seine Stimme. – Dann klingelte eine Schlittenglocke, und dann wurde es still.
Als die alte Minna ihrer Herrin öffnete, sah sie ein Paar verzückt leuchtende Augen und einen halb geöffneten Mund, der selig lächelte.
»Na, Gott sei Dank,« sagte sie, »nun kommt ja alles wieder in Ordnung.«
Felicitas glitt stumm an ihr vorüber und schloß sich in ihrem Schlafzimmer ein. –
An das Weihnachtspaket wurde am selbigen Abend nicht mehr gedacht.