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Durch die Versöhnung der beiden Frauen schien der letzte Stein fortgeräumt, welcher der Wiederkehr des alten Verhältnisses zwischen Leo und seinem Freunde im Wege gelegen hatte, trotzdem wollte es sich nicht wieder einfinden.
Leo that sein möglichstes, sich selbst zu betrügen: und doch bot jede neue Zusammenkunft ihm wenig mehr als Angst und herzbeklemmende Bedrängnis.
Ging er ehrlich mit sich ins Gericht, so wunderte er sich nicht einmal, daß es so gekommen war. Früher, als er noch mit ungetrübtem Blick seine Lage überschaut hatte, war es ihm selbstverständlich erschienen, daß das, was gewesen war, als ein Gespenst zwischen ihm und dem Freunde stehen würde, solange nicht ein Geständnis die nackte, schamlose Wahrheit ans Tageslicht gebracht hatte.
Dieses Geständnis aber war eine Nichtswürdigkeit, das verstand sich nicht minder von selbst: so blieb also nichts weiter übrig als eine andre, nicht weniger schwere, doch weniger verderbliche Nichtswürdigkeit: die Lüge, die schleichende, schielende, geheimnisvoll lächelnde Lüge Tag für Tag in das Haus des Ahnungslosen zu tragen und den Liebling und Meister mit jedem Hahnenschrei aufs neue zu verraten.
Denn an ein Fernbleiben war nicht zu denken. Er hätte es durch nichts mehr rechtfertigen können.
Felicitas aus dem Wege zu gehen war jetzt im Herbste, da die Tage kurz und regnerisch wurden, nicht mehr möglich.
Auch gestand er sich, daß er ihr nicht mehr aus dem Wege gehen wollte.
Jene Blicke, die er in der einen Stunde verabscheute, wurden ihm in der andern zum Troste, denn was sie sprachen, war intimes Verstehen und herzlicher Dank.
Fast hätte er nun gewünscht, häufiger mit ihr allein sein zu dürfen. Was ein solches Zusammensein ihm bot, war nichts als eine marternde Verquickung von Scham, Schlaffheit, Reue und Cynismus – aber man brauchte doch nicht zu lügen! Man gab sich zwanglos und wahr: mochte das, was man besprach, auch tausendmal abscheulich sein.
Das Schlimmste aber von allem war die unbestimmte Angst, wie Ulrich über ihn gesonnen sein möchte. Schon längst war er in seinem Benehmen gegen ihn unsicher geworden. Er belauerte die Mienen des Freundes und wollte sich vergewissern, ob er nicht angestoßen habe. – Auf diese Weise blieb ihm jedes frische und freie Wort in der Kehle stecken. – Und was er auch that, unaufhörlich peinigte ihn die Besorgnis, Ulrich könnte durch seine Verkehrsformen Felicitas gegenüber irgend einen Anstoß zum Verdachte erhalten haben, er könnte Rückschlüsse ziehen, Erinnerungen hervorsuchen und auf dem Wege des vergleichenden Kalküls die furchtbare Wahrheit an den Tag bringen.
So lebendig wurde diese Vorstellung in ihm, daß er es bisweilen für undenkbar hielt, Ulrich sollte diese Schlüsse noch nicht gezogen haben, ja es gab Stunden, in welchen er ernsthaft glaubte, des Freundes gleichgebliebene Herzlichkeit wäre Verstellung, um ihn in eine Falle zu locken.
Aengstlich bemaß er den Händedruck, mit welchem Ulrich ihn bewillkommnete, und sah er dessen Blick nachdenklich auf sich ruhen, so hängte das emporschießende Blut ihm einen Flor vor die Augen, hinter dem die Gestalt des Freundes schattenhaft verschwamm.
Eines Abends – um die Mitte des Oktober – empfing ihn Ulrich auf der Rampe mit den Worten: »Komm in mein Arbeitszimmer. Wir haben miteinander zu reden.«
Der Ton, in dem dies gesprochen wurde, war von verdächtiger Feierlichkeit, und Leo fühlte sein Herzblut gerinnen. Er war überzeugt: die Stunde der großen Erklärung hatte geschlagen.
»Eh ich's gesteh', schieß' ich mir eine Kugel vor den Kopf,« dachte er, während Ulrich die Thüre hinter sich schloß.
Sein Blick flog in unsteter Suche die Repositorien entlang, welche in schwarzen Massen die Wände des langen, schmalen Raumes umrahmten, von dem Goldglanz der Bücherdeckel matt durchschimmert. Hier zwischen Fachzeitschriften und politischen Broschüren, Reagenzgläsern und Humusproben brachte der Freund seine Mußestunden zu, hier versäumte er in rastloser Arbeit den Schlaf seiner Nächte.
Leo war zu Mute, als müßte er sich einer Waffe versichern, aber in diesem friedlichen Bereiche gab es dergleichen nicht. Schweigend setzte er sich nieder und maß den Freund mit stummer Feindseligkeit.
Ulrich ließ die lange Gestalt in den schwarzbelederten Schreibstuhl fallen und rückte die grünumschirmte Oellampe aus dem Umkreis seines Ellenbogens fort.
»Hör mich an,« begann er: »die Frage, die ich an dich richten will, ist unvermeidlich geworden … Denn so, wie es jetzt mit uns geht, darf es nicht länger bleiben … Etwas ist nicht in Ordnung bei dir … Nein, widersprich mir nicht … Wir kennen uns, solange wir denken können … Aber so hab' ich dich noch nie gesehn.«
Leo stieß ein heiseres Lachen aus, mit dem er die Antwort verschluckte.
»Soll ich dir alle die Wandlungen in deinem Wesen an den Fingern herzählen?« fuhr Ulrich fort. »Ich denke, das ist nicht nötig … Jedenfalls verheimlichst du mir etwas … Ich habe lange darüber nachgedacht, was es wohl sein könnte – ich habe mir alle Möglichkeiten streng nach logischem Schema aufnotiert und sie nacheinander erwogen … Das Sinnlose hab' ich ausgemerzt, und es sind mir zwei Eventualitäten übrig geblieben … Die erste wäre Geldnot.«
Leo wollte schleunigst zustimmen, damit für die andre kein Raum mehr übrig bliebe, aber er sah die Folgen voraus, und darum schwieg er still.
Ulrich ließ die Augen in brennender Sorge auf ihm ruhen. Er zauste, eine Antwort erwartend, an seinem dünnen Backenbart, schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: »Aber ich sage mir, mein leichtsinniger Junge von dazumal wird sich durch dergleichen Lappalien nicht niederdrücken lassen … und außerdem wär' es auch ein Treubruch schlimmster Sorte, wenn er sich eine unruhige Stunde bereiten wollte, solange mein Checkbuch noch eine unbeschriebene Seite hat … Nicht wahr, das thätest du mir nie und nimmer an?«
»Nein, nein!« rief Leo und machte Miene, nach der Hand des Freundes zu greifen, aber er fand nicht den Mut dazu.
»Schwörst du mir das?«
»Jawohl! – ich schwör' es dir,« erwiderte er. Auf einen Falscheid mehr oder weniger kam es nicht mehr an. Er wußte, daß er sich eher mit der Linken die Rechte abhacken würde, als noch einen einzigen Heller aus den Händen annehmen, die sich jetzt kalt und matt in die seinen legten.
»Und dann sagt' ich mir,« fuhr Ulrich fort, »wenn ein Mensch wie du, der zum Lachen geboren ist, ein Grübler und Kopfhänger wird und es drücken ihn nicht Schulden, so drückt ihn – eine Schuld.«
Leo wischte sich mit der Hand über die Stirn und zog sie feucht zurück. – »Welche Schuld sollte das wohl sein?« rief er und versuchte zu lachen.
»Ja, das hab' ich mich auch gefragt … Und noch dazu eine, über die er nicht mit mir zu reden wagt … Ich folgerte weiter: Das kann nur eine Schuld sein, mit deren Geständnis er mir weh zu thun fürchtet … Denn sonst hätte sein Schweigen keinen Sinn … Es muß also etwas sein, woran ich selbst beteiligt bin.«
Leo, halb aufgerichtet, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles. Er war aufs Aeußerste gefaßt. – »Ich bin wie ein Glaskasten vor ihm,« dachte er. Nur die freundliche, fast wehmütige Ruhe des Freundes war ihm noch ein Rätsel. Und diese Ruhe hielt ihn gefangen, sonst hätte er sich längst mit Gewalt vor dem, was kommen mußte, zu retten gesucht.
»Ich machte mich also daran, die Vergangenheit zu untersuchen,« fuhr Ulrich fort. »Bis in die fernste Jugend hinein durchstöberte ich dein Leben … Dumme Streiche und selbst Zuchtlosigkeiten fand ich genug, aber ein wahrhaftes Verschulden nirgends, – – bis auf eines allenfalls – –«
»Und das –?«
»Dein Duell mit Rhaden.«
Leo hatte ein Gefühl, als ob in seinem Innern etwas zusammenbräche, was bisher sein Halt gewesen war. Mit einem müden Ausatmen sank er gegen die Lehne des Stuhls.
Ulrich neigte sich zu ihm herüber und legte die Hand auf sein Knie.
»Suche nur nichts mehr zu verbergen,« sagte er. »Ich sehe zu deutlich, mein Junge, daß ich's getroffen habe. Du müßtest ja von Stein und Eisen sein, wenn der Anblick seiner einstigen Frau dich nicht unausgesetzt daran erinnerte, daß es schließlich nicht ganz in der Ordnung ist, einen, der unsre Eigenliebe verletzt hat, über den Haufen zu schießen, wie ein Stück Vieh, oder aber uns von ihm über den Haufen schießen zu lassen.«
»Was hätt' ich thun sollen?« stammelte Leo, ohne Ahnung, was der Freund eigentlich wollte.
»Eine Versöhnung hättest du anbahnen sollen … Das heißt – versteh mich recht – dies soll keine Anschuldigung sein … Die käme mir nicht zu … Denn ich trage ja mehr Schuld als du.«
»Du – mehr –?«
»Zweifellos! Ich war der Vermittler, ich hätte auch der Versöhner sein müssen … Und noch heute steh' ich wie vor einem Rätsel, daß es mir nicht hat gelingen können, die Folgen jenes dummen Wortstreites aus der Welt zu schaffen … Ich hab' damals mein Amt schlecht verwaltet … Rhaden hätte gezwungen werden müssen, das Wort ›unfair‹ wieder zurückzunehmen, denn es ist ja klar, daß es ihm nur in augenblicklicher Erregung hat entfallen können. Ich bin strenge genug mit mir ins Gericht gegangen. Ich will dir sogar gestehen, daß ich mich bisweilen frage: Warst du berechtigt, die Frau eines Mannes zu heiraten, bei dessen Tode du deine Hand mit im Spiel gehabt hast? Nun, das sind vielleicht Skrupel eines pedantischen Gewissens, und niemand außer dir hat das Recht, mir einen Vorwurf zu machen.«
»Vorwurf – ich?« stieß Leo hervor, der langsam begriff, wie dieser schwerblütige Träumer in seiner spintisierenden Rechtlichkeit selbst aus dem vorgeschobenen Kindermärchen eine Art von tragischer Schuld herausgeklaubt hatte.
Wenn er ahnte!
»Ja du, mein lieber Junge!« fuhr Ulrich fort. »Verheimliche mir nicht aus falscher Rücksichtnahme, wie du über mein Handeln denkst … Ich bin der Schuldige, ich allein. Dieses Haus mußte ebenso deine Heimat bleiben wie Halewitz … Ich hätte mich auch durch die wahnsinnigste Liebe nicht hinreißen lassen dürfen, ein Weib hierher zu führen, welches dir jenes unglückselige Ereignis unaufhörlich ins Gewissen zurückruft … Ohne daß sie's weiß und will, natürlich … Denn sie hat dir so gründlich verziehn, daß ich mich oft mit Bangen frage, wie ein solches Vergeben und Vergessen auf Erden möglich ist. – Es erscheint mir als Untreue an dem Vater ihres Kindes und vor allem« – eine fliegende Röte zog über sein Gesicht: er wandte sich ab, um seine Bewegung rascher zu bemeistern – »vor allem an dem Kinde selbst. – Du siehst, über all dem Grübeln werd' ich bitter und ungerecht, denn schließlich mache ich ihr nichts weiter als ihre Liebe zu mir und mein eigenes Glück zum Vorwurf … Nur durch dieses vollständige Verzeihen ist es mir möglich geworden, nicht ganz und gar als Verräter an unsrer Freundschaft vor dir zu stehn, wiewohl ich dir noch übergenug abzubitten habe.«
»Ulrich – das ertrag' ich nicht,« schrie Leo, von seinem Sitze aufspringend.
»Na, was erträgst du nicht?« erwiderte jener in dem gutmütig überlegenen Tone, in welchem man zu heißblütigen Kindern spricht. »Daß ich die Hälfte deiner Not auf meine eigenen Schultern nehmen will? … So gehört es sich, mein Junge. Das ist mein Recht, das fordere ich … Und gäb' es in der Freundschaft ein Konto, so würde ich sagen, ich stehe so tief bei dir in der Kreide, daß ich nicht absehe, wie sich eine erträgliche Bilanz jemals wird herstellen lassen … Schnaufe nicht so – und renne nicht so wild in der Stube umher … Du weißt, das kann ich nicht vertragen … Also – laß jede überflüssige Rücksicht fallen und sei in Zukunft wieder offen zu mir … Wir beide fahren immer noch am besten, wenn wir uns alles sagen … auch wenn's weh thut … Nur nicht aus zarter Schonung hinterhältig und scheu aneinander vorbeischleichen!«
Leo stieß ein Aechzen aus, und die Schultern hochziehend blieb er vor dem Freunde stehen.
Er fühlte sich entschlossen, alles zu bekennen.
Ein Hunger nach Wahrheit, so mächtig, daß ihm der Tod als billiger Preis für sie erschien, brannte in seiner Seele.
Aber schon im nächsten Augenblicke rief er sich zu: »Was du willst, ist Wahnsinn. Und es kann zum Morde werden.«
So ließ er sich schweigend in den Sessel niederfallen. – Das Halbdunkel, welches im Bereiche des Lampenschirmes herrschte, verbarg den Aufruhr, der ihn schüttelte, sonst würde er zum Verräter an ihm geworden sein.
»Und noch eins, mein Junge,« fuhr Ulrich fort. »Ein Dank, den ich dir schuldig bin, liegt mir schon lange schwer auf dem Herzen.«
»Er dankt mir noch!« dachte Leo mit einem Anflug von unsauberem Humor, der nichts wie Verzweiflung war.
»Du mußt es erfahren, damit du dich daran freust: du bist der gute Engel meines Hauses geworden. – Wehre dich nicht. So ist's … Es scheint übrigens, daß du die Weiber verteufelt gut zu führen weißt. Denn es ist kaum glaublich, wie sehr sich Felicitas, seitdem du bei uns verkehrst, zu ihren Gunsten verändert hat … Hättest du sie nur vorher gesehen, du würdest mich nicht so anstaunen … Das alberne Spiel mit den jungen Herren der Umgegend ist aus … Unlängst erinnerte ich sie im Scherze daran, da fiel sie mir mit thränenden Augen um den Hals und bat mich, nie mehr davon zu reden … Sie lebt häuslich und sucht sich zu beschäftigen … Ihre phantastischen Launen sind verschwunden … sie weint nicht mehr ohne Grund und nährt sich nicht mehr von Marmelade und Madeira … Ihre Ansichten gewinnen an Halt und Ruhe … Und vor allem eins, was ich dir nicht verhehlen will, denn du sollst es wissen, wie glücklich ich bin und – wie unglücklich ich war: sie verschließt mir nicht mehr die Thür.«
Durch Leos Brust zuckte ein widriges Gefühl, das er als Scham über das unverdiente Vertrauen deutete und niederkämpfte. Dann brach eine um so reinere Glücksempfindung in seiner Seele durch.
Er holte tief Atem und drückte dem Freunde die Hand.
Seine Angst war sinnlos gewesen.
Dieweil er litt und mit sich rang, hatte, ohne daß er darauf geachtet, sein Programm sich erfüllt.
Vielleicht standen die Sachen gar nicht so schlimm, vielleicht gab es noch Hoffnung – auch für ihn.