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Im Hinterzimmer der »Preußischen Krone« herrschte dämmrige Kühle … Die Fensterläden waren geschlossen, nur durch einen schmalen Spalt drang die vom Lindengrün schon abgedämpfte Sonnenhelle mattgolden in das Gemach.
In diesem Zimmer vereinigte sich seit Generationen alles, was zur Münsterberger Gesellschaft gehörte oder durch seine guten Dienste ein Recht erwarb, als ihr Anhang betrachtet zu werden. Neben dem Großgrundbesitz und den Offizieren der Münsterberger Eskadron fanden sich der Landrat, zwei Aerzte und etliche Richter zu abendlicher Geselligkeit daselbst zusammen. Bei Tage diente es den Einkäufe machenden Frauen des Landadels als Absteigequartier und wurde – zur Zeit der Schulferien – von deren Söhnen erkoren, daselbst ihre Kneipereien zu feiern.
Alsdann blieb die Thür verschlossen und von ihrem Gerüst herab hing ein weißes Plakat mit den Worten: »Großes Reinemachen«.
Auf diese Weise sah sich der Nachwuchs vor elterlichen Ueberraschungen gesichert.
Hier auf neutralem Gebiete, in dem Raume, der schon die Zechthaten des Quartaners Sellenthin mit angeschaut, hatten die Freunde ihre erste Rast gemacht.
Und während Ulrich Kletzingk blaß und erschöpft von Hitze und Erregung in einem Sofawinkel lag, die langen Beine ausgestreckt, lief der Heimgekehrte in fröhlicher Wildheit zwischen den Tischen umher und sog voll Gier den altvertrauten lieben Dunst – aus Tabak, Lederzeug und Bierneigen gemischt – in sich hinein.
Eine gedankenlose, fast animalische Freude am bloßen Beieinandersein ließ sie vorerst noch nicht zum Sprechen kommen. Ihre Herzen waren so voll füreinander, daß es schien, als hätten sie sich nichts zu sagen.
»Kommst du von Hamburg?« begann Ulrich endlich mit gleichgültiger Frage das Gespräch.
Leo pflanzte sich in seiner sechs Fuß langen Massigkeit vor dem Freunde auf.
»Jawohl. Vorgestern früh stieg ich ans Land. Und sofort in einen Frühstückskeller rin … Ein paar gleichgestimmte Seelen hatt' ich mir von Buenos Ayres schon mitgebracht … Na und da haben wir denn gefrühstückt den Tag über und die Nacht durch, bis zum nächsten Frühstück.«
Dazu lachte er mit seinem ganzen prächtigen Gebiß und ließ die Zunge schnalzend über den Gaumen schnellen. Spreizbeinig, die Hände in den Hosentaschen, stand er da in seiner vollblütigen, breitbrüstigen Manneskraft. Der üppige, dunkelblonde Vollbart wölbte sich in zwei halbrunden Bogen nach den straffen Backen hin, die samt der geraden, schmalsattligen Nase wie aus Erz gegossen schienen, und flatterte dann zusammen mit dem krausen Schnurrbart in lockeren, hellen Strähnen auseinander. Das bis auf die Stoppeln heruntergeschnittene Haupthaar legte die gewaltige Wölbung des Schädels bloß, der wie die Kuppel eines Doms auf dem roten, fleischigen Nacken saß.
»Dabei fällt mir ein,« fuhr er fort, »daß ich seit Hamburg nichts gegessen habe … Was heißt das übrigens? Empfängt man so den verlorenen Sohn? Soll ich mir etwa auch in Europa mein Fleisch im Sattel mürbe reiten?«
Und durch die hohlen Hände schrie er: »Wirtschaft, Bande, Gesindel!« Die Wände erdröhnten hörbar unter dem Widerhall.
Der Wirt, fett, lächelnd, mit zwei altpreußischen Spucklöckchen vor den Ohren, erschien in der Thür und drückte seine unterthänige Freude aus, daß der Herr Baron seine gesunde Stimme in der Fremde nicht verloren habe. Dann werde auch das übrige keinen Schaden genommen haben.
»So wenig, alter Freund,« entgegnete Leo, »daß ich Sie, wenn Sie sich noch einmal erlauben, meine Stimme zu kritisieren, zu Ihrem eigenen Fenster rausexpedieren werde.« –
Der Wirt bat erschrocken um Vergebung und versprach, an Essen und Trinken Vorzügliches zu leisten: dann drückte er sich dienernd zur Thür hinaus.
»Offen gesagt, mein Alter,« meinte Leo, »du gefällst mir nicht. Du liegst da wie das Leiden Christi.«
Ulrich Kletzingk biß die Zähne zusammen und richtete sich straff empor. »Ich danke dir,« sagte er, »ich bin schon wieder frisch.«
»Und was macht das Herz? Was machen die Anfälle? Wer hat dir denn überhaupt in dieser ganzen Zeit den Kopf gerubbelt, wenn dir die weißen Mäuschen spielten?«
Ulrich lächelte, wie man zu Kinderworten lächelt, an denen man sein Herz erquickt. –
»Wie lange hab' ich deine alte Nomenklatur nicht mehr zu hören bekommen,« sagte er, während ein Schimmer froher Zärtlichkeit sein grelles Auge verklärte. »Nun fehlt bloß noch, daß du mich ›kleines Mädchen‹ nennst, und der alte Zustand ist wieder hergestellt.«
»Kannst du haben!« lachte Leo. »Aber beantworte gefälligst meine Frage.«
»Ja – erstens haben meine Anfälle von Herzschwäche bedeutend nachgelassen, und dann war ja zuzeiten auch meine – meine – – meine Frau da – obwohl –« er stockte.
Leo Sellenthin sah vor sich nieder. Zwischen den Brauen erschienen zwei zuckende Falten: seine vollen, sinnlichen Lippen kniffen sich fest zusammen. Er nickte ein paarmal und murmelte:
»Ja richtig – deine Frau – deine Frau.«
Der Wirt brachte Wein.
Die beiden stießen an. Bei dem glockenhellen Getön trafen sich ihre Augen. Ulrich streckte dem Freunde schweigend über den Tisch weg die hagere, sommersprossige Hand entgegen, die Leo mit hastiger Inbrunst ergriff.
»Auf uns zwei beide, Alter!« rief er.
Ulrich schien etwas hinzusetzen zu wollen, aber er verschluckte es. »Gut, auf uns zwei beide,« sagte er dann.
»Und daß alles beim alten bleiben möge.«
»Und daß alles beim alten bleiben möge.«
Leo warf sein Glas hinterrücks an die Wand, so daß es zerschellte. Ulrich that desgleichen.
Dann, als neue Gläser gekommen waren, goß Leo in ein paar Zügen die Flasche leer.
»Du nippst ja doch nur,« sagte er entschuldigend.
Aber es schien, als wär' es nicht der Durst allein, der ihn zum Trinken zwang. Er sprang auf, setzte sich und sprang wieder auf, um mit harten Schritten den Raum zu durchmessen. So beträgt sich einer, dem Schweres bevorsteht und der sich sammeln und Mut machen will.
Ulrich folgte ihm mit den Augen, und ein Lächeln des Verständnisses glitt über sein Gesicht.
»Dabei fällt mir ein, Leo,« begann er, um dem ungeschickteren Freunde auf die Sprünge zu helfen, »hast du mir in deinen Briefen jemals zu meiner Hochzeit gratuliert? Ich besinne mich nicht.«
»Nein,« sagte Leo brummig.
»Findest du das höflich?«
»Nein. Hab' auch nicht nötig, dir gegenüber höflich zu sein.«
»Paßt dir meine Heirat nicht?«
»Passen! Gott – sieh mal – was hat das für 'nen Zweck, wenn du mich jetzt, zwei Jahre nach der Hochzeit, fragst, ob mir die Sache paßt … Das bleibt sich nun schon egal … Worauf es ankommt –« er trat an den Freund heran und legte beide Hände auf seine Schultern, ihm mit einem fast angstvoll forschenden Blick ins Auge starrend – »Uli, bist du glücklich?«
Ulrich lachte. Es war ein Lachen voll ruhiger Selbstironie, das dieser schweratmenden Brust entquoll und aus dem nur ein schärferes Ohr, als das Leos war, einen Unterton von Müdigkeit oder Beklommenheit herausgehört hätte.
»Wozu plötzlich dies feierliche Wesen?« fragte er, »du weißt ja, solange ich auf dem Buckel der Liberalen mein Stroh dreschen und beweisen kann, daß der Mensch erst beim Baron anfängt, ist für mein Glück gesorgt.«
»Du weichst mir aus,« entgegnete Leo. »Auch gut … Ich werde mich also fortan ausschließlich mit diesem jungen Huhn beschäftigen: den dazu gehörigen Gurkensalat allenfalls ausgenommen.« Und er fing mit scheinbarem Heißhunger zu essen an.
Ulrich sah ihm eine Weile schweigend zu.
»Du hast recht,« sagte er dann, »es ist vergebliche Mühe, ernste Angelegenheiten im Scherze abhandeln zu wollen. Man schädigt sich in seinem innersten Wesen … Du fragst mich, ob ich glücklich bin? … Sieh mich an und frage dich, ob ich glücklich sein kann? Du weißt, ich bin immer blutarm und schwächlich gewesen, und nur durch kunstmäßige Trainierung meiner Willenskraft ist es mir möglich geworden, mich schließlich noch zu einem halbwegs nützlichen Menschen herauszubilden … Aber bei dieser Verschwendung von Energie um der kläglichsten Hindernisse willen, die ein andrer – Gesünderer – gar nicht kennt, oder wenn er sie kennt, gar nicht beachtet, wird gleichzeitig so viel von meinem Wohlbehagen ins Leere verpufft, daß an ein eigentliches Glück für mich in keinem Falle zu denken ist … Nun habe ich es gewagt, meine Hand nach Felicitas auszustrecken, ich, ein kranker Mann, ein Pedant, ein Einsiedler, der nichts hat als sein Hab und Gut und seinen ehrlichen Willen … Felicitas aber ist ein so weiches, zum Genießen erschaffenes Wesen, sie steht so widerstandslos jedem Phantasie- und Sinnenreize offen, und gibt der Welt in so liebenswürdiger Weise zurück, was sie von ihr empfängt, daß es ein Frevel an ihr wäre, wollte ich es versuchen, sie in meine stillen, abstrakten Grübeleien mit hineinzuspinnen … Ich erkaufe mir gewissermaßen das Recht, als ihr Mann neben ihr her zu leben, indem ich ihr alle nur erdenkliche Freiheit lasse … Sie liebt Männergesellschaft – gut – ich lasse ruhig zu, daß unsre jungen Herren aus der ganzen Gegend kommen, um ihr den Hof zu machen, und habe meine stille Freude daran, wenn sie mir die Thorheiten, die die Leute um ihretwillen begehen, in ihrer lieblichen, verschämten Art selber eingesteht … Ich lasse ihrer Phantasie ruhig die Zügel schießen, ob sie sich nun im Parke künstliche Ruinen aufbaut, – oder nachts zu Pferde über die Wiesen jagt – oder im Mondschein über den Strom schwimmt – oder bei Sonnenschein die Läden schließt und bis zum Abend bei Lampenlicht im Bette liegt – meinetwegen. Sie mag treiben, was sie will, und der Klatsch wagt sich auch nicht an sie heran, denn sie ist meine Frau … Ich nehm' sie wie eine schöne Tropenblume, die meiner Pflege anvertraut ist. Deren fremdartigen Liebreiz muß man auch bedingungslos anbeten, selbst wenn man die Gesetze ihres Seins und Wachsens nicht versteht … Aber was schwatz' ich viel … du kennst sie ja.«
»Jawohl, ich kenne sie,« erwiderte Leo.
Es war etwas in diesem Tone, was Ulrichs Bedenken erregte.
»Willst du damit sagen, daß du meine Meinung nicht teilst?«
»Ich? Ich will gar nichts damit sagen.«
»Aber ich bitte dich darum.«
»Na – dann will ich damit sagen, daß du trotz der Pedanterie, zu der du dich mit Gewalt erzogen hast, ein gewaltiger Romantiker vor dem Herrn bist – oder eigentlich immer warst … Beweis: die Freundschaftsinsel. Ja, apropos, lebt sie noch – unsre Freundschaftsinsel?«
»Der Strom hat sie nicht weggespült,« erwiderte Ulrich mit einem Lächeln der Pietät. »Sie steht fest wie wir zwei beide.«
»Na, das ist brav … So brav wie wir zwei beide. – Nun denk also mal gefälligst dran, wie du dir als christliches Konfirmationsgeschenk von deinem Alten auf der Insel einen heidnischen Tempel errichten ließest – wir beide, in Gestalt von Castor und Pollux mitten darin – mit Opfern und Gelübden und ähnlichem Klimbim.«
»Das waren Dummheiten! Reminiscenzen aus der Homerstunde,« warf Ulrich ein.
»Aber warum sind mir solche Reminiscenzen nie gekommen? Weil ich ein nüchternes, lustiges Landjunkerchen bin, das seine Phantasie noch nie weiter strapaziert hat, als ein feuriges Pferd, ein feuriges Weib und ein feuriges Glas Wein notwendigerweise erfordern … Aber du – na der Tempel sagt wohl alles … Du hast die Gewohnheit, dir aus denen, die du lieb hast, Idealgestalten zu formen, die schließlich nur in deiner Phantasie existieren.«
»Willst du damit sagen, daß ich Felicitas überschätze?« fragte Ulrich.
»Wenn du doch endlich mit deinem inquisitorischen ›Willst du damit sagen‹ aufhören wolltest … Ich bin ja kein Holzdieb … Aber um auf Felicitas zurückzukommen … Du weißt, ich kenne sie von Kindesbeinen an. Ganz abgesehen davon, daß sie ein Stück Cousine von mir ist, hat sie ja lang genug auf Halewitz gelebt – ich hab' sie auch zuzeiten – zuzeiten, weißt du – heillos gern gehabt, aber für eine – wie sagst du? – eine fremdartige Tropenblume hab' ich sie nie gehalten … Entweder geht mir der Blick dafür ab, oder ich Dummkopf kenne die Weiber besser, als du siebenmal Weiser.«
Ulrich sah stieren Auges vor sich nieder.
Leo aber, der ihn mit scheuen Blicken maß, faßte sich ein Herz und polterte los:
»Mensch, sag mir das eine: Wie bist du auf die tolle Idee gekommen, sie zu deiner Frau zu machen?«
Ulrich fuhr erbebend unter diesem Backenstreich zusammen. »Ich verstehe dich nicht, Leo,« wehrte er ab.
Leo sah erschrocken, daß er zu viel gewagt hatte.
»Ich meine – nach dem – was – vorgefallen war!« erklärte er kleinlaut.
»Was war denn vorgefallen? Weil ihr Mann im ehrlichen Zweikampf gegen dich unterlegen war, sollte es mir verwehrt sein, um sie zu werben? … So treue Freunde wir beide auch sein mögen, ganz identisch sind wir doch nicht … Und wenn ich nicht stets die Gewißheit gehabt hätte, in deinem Geiste, ja ich möchte fast sagen, in deinem Auftrage gehandelt zu haben …«
Leo lachte laut auf. »Schockschwerenot. In meinem?«
»Jawohl. Und ich will dir sagen, warum. Du erinnerst dich jenes großen Abends, als du zu mir auf den Hof gesprengt kamst und mir sagtest: Du, – Rhaden hat beim Spiel Händel mit mir gesucht und ich hab' ihn fordern müssen. Du mußt natürlich mein Sekundant sein … Nun weißt du wohl noch, welche Frage ich damals an dich richtete?«
Leo sah ihm starr ins Auge. »Ich weiß,« murmelte er.
»›Dieser Wortwechsel könnte leicht nur ein Vorwand sein,‹ sagte ich. ›Man munkelt im Lande allerhand. Du weißt, ich gebe meine Hand nie zu einem Unrecht her – und ich frage dich bei unsrer Freundschaft: Besteht etwas, was nach menschlichen und göttlichen Gesetzen verboten ist, zwischen dir und Felicitas?‹ – Du antwortetest ›nein‹, und ich war zufrieden, denn so was wie Lügen gibt es doch nicht zwischen uns … Es wäre absurd – nicht?«
»Ja – es wäre absurd,« wiederholte Leo und kniff die Lippen zusammen.
»Daß die Kartellverhandlungen sich zerschlugen, war kein Wunder, so geringfügig die Ursache auch gewesen sein mochte, denn Rhadens galliges Temperament kannten wir alle. Ich leugne nicht, daß du ihn schontest, aber du wurdest hitzig, und das Unglück wollte, daß deine dritte Kugel einen schlimmen Weg ging … Nun war's geschehen, und wir mußten die Folgen tragen … Es war ja ganz klug von dir, daß du dem Gezeter der Weiber für etliche Zeit aus dem Wege gingst, aber ob du recht daran thatst, nach Abmachung der Festungsstrafe erst recht das Weite zu suchen und ein halbes Jahr lang überhaupt nichts von dir hören zu lassen, das scheint mir doch mindestens zweifelhaft, denn nun war dem Geträtsche und Geklatsche aufs neue Thor und Thür geöffnet.«
Er hielt inne und netzte sich die gesprungenen Lippen am Rande des Weinglases. Seine Wangen brannten, das schmale, fahle Gesicht schien wie von innerem Feuer durchleuchtet. – Aber in derselben unbarmherzig sachlichen Ruhe fuhr er fort:
»Du erinnerst dich hoffentlich genau der Stunde unsres letzten Zusammenseins … Du hattest eben dein Urteil empfangen – zwei Jahre – ›runde Summe‹, wie du sagtest, wovon die Hälfte dir ja dann Gott sei Dank erlassen wurde. Du wolltest deine Haft noch an demselben Abend antreten. Wir saßen zusammen beim Wein und feierten Abschied, wie heute Wiedersehen. Viereinhalb Jahr sind's her, und viel hat sich inzwischen verändert. Du übergabst mir die nötigsten Papiere und machtest mich zum Kurator deiner Güter, leider ohne mir streng stipulierte Vollmachten in die Hand zu geben. Doch davon später … Drauf sagtest du wörtlich: Noch eine Bitte hab' ich an dich … Du weißt, Felicitas ist durch mich in eine böse Lage geraten. Ich selbst könnte mich natürlicherweise nicht wieder in ihre Nähe wagen, auch wenn ich bald wieder frei käme, und weil mir die Frage nicht aus dem Kopfe gehen will: ›was soll auf ihr werden?‹, so bitt' ich dich von Herzen: nimm dich ihrer an, – sei um sie und laß den gehässigen Tratsch nicht über ihre Schwelle dringen … Stimmt das?«
»Stimmt, stimmt,« sagte Leo verdrießlich und stocherte in dem Huhn umher, das kalt in der geronnenen Sauce lag.
»Und was fragte ich dich darauf?«
»Weiß nicht! Ist ja auch ganz egal! Ist ja alles egal! Mach bloß ein Ende.«
»Ich fragte dich,« fuhr Ulrich fort, ohne sich beirren zu lassen, »trägst du am Ende doch eine alte Liebe zu ihr im Herzen? Du erwidertest: ›Es war, aber es ist vorbei.‹ Und ich fragte dich weiter: Sie ist also frei? ›Von meinetwegen ist sie's,‹ erwidertest du.« –
»Konnt' ich denn ahnen, Mensch, daß du selbst –«
»Aendert das die Sache? War sie dann weniger frei?«
»Geh, du bist ein Splitterrichter und hast mir den Appetit verdorben,« sagte Leo, die Gabel endgültig niederlegend.
»Verzeih mir, lieber Junge,« entgegnete Ulrich, »aber ich kann uns diese Auseinandersetzung nicht ersparen, sonst glaubtest du dich am Ende befugt, mir vorzuwerfen, ich hätte durch meine Heirat das Tischtuch zwischen uns entzwei geschnitten.«
»Es wird wohl so wie so darauf hinauskommen,« brummte Leo, finster vor sich hinblickend.
»Wie – was heißt das?« stammelte Ulrich wie einer, der seinen Ohren nicht traut.
»Sag mal selbst, wie denkst du dir eigentlich unsern ferneren Verkehr?«
»Ich denke mir, daß, wenn in unsern Herzen nur alles beim alten ist, die Mittel und Wege, das zu bethätigen, unsre kleinste Sorge sein dürfen.«
»Sehr brav! – sehr brav! – von einem Manne idealer Gesinnung nicht anders zu erwarten. Aber es ist, wie es immer war: deine Lebensweisheit läßt dich überall im Stich, wo es sich um Freundschaft, Liebe und sonstige hohe Gefühle handelt. Zwischen uns steht jetzt eine Frau, mein Alter … Und glaubst du denn, diese Frau würde im stande sein, mir das, was geschehen ist, bis zu dem Grade zu vergeben, um ruhig in meinen Verkehr auf Uhlenfelde einzuwilligen? … Aber selbst, gesetzten Falles, sie thäte es, wie könnte ich darauf eingehen? … Denn bedenk, auf deinem Hofe läuft ein Bursch herum … den hast du lieb – was?«
Ein wehmütiger Glanz erborgten Vaterglücks flog über Ulrichs Gesicht.
»Ich hab' ihn sehr lieb,« sagte er leise.
»Als ich ihn kannte, war er noch ganz klein, vier Jahre. Er hat oft genug auf meinem Knie gesessen … Er war zum Liebhaben, so viel weiß ich noch. Aber was hilft's? Dieser Bursch trägt im Gesicht die Züge des Mannes, den ich einmal im Feuer meiner Pistole hab' nach hinten überfallen sehen … Genügt dir das?«
Schweratmend starrte Ulrich ihn an.
»Und nun will ich dir mal was sagen,« fuhr Leo mit erhobener Stimme fort, »hättest du damals, als du aus verrückter Großherzigkeit oder meinetwegen aus ebenso verrückter Leidenschaft in diese Ehe hineinzurennen beschlossest, hättest du damals für gut befunden, deinen alten dummen Jungen, den Leo Sellenthin, erst hübsch um Rat zu fragen, wie es sich bei einem so wichtigen Schritte geziemt, so hätte er dir geantwortet – klipp und klar, wie es Mode ist bei ihm: du hast zu wählen zwischen ihr und mir. Basta.«
Ulrichs Gesicht wurde noch um einen Schatten fahler, seine linke Hand klammerte sich krampfhaft in das Eckpolster, und während er sich langsam emporzog, sagte er mit einer Stimme, welche die Angst um den sich lösenden Freund völlig entstellte:
»Leo, du weißt, ich häng' an dir, als wärst du ein Stück von meinem Leibe – aber ich will die Wahrheit wissen! Suchst du einen Bruch, so sag es.«
Der brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Da haben wir die Bescherung!« rief er. »Solche Scenen gibt's nun schon unser Leben lang … Als Quartaner – na, wir wissen ja, wie's da war … Wenn ich dir mal ausriß, weil's mir zu langweilig wurde, mit dir über Menschenwohl zu philosophieren und lieber mit Rupp und Sydow hinter dem Gartenzaun lag, um den vorübergehenden Backfischen Papierpfropfen gegen die Waden zu blasen, da gab's gleich ein Briefchen: Du bist untreu … Du bist ein Verräter … Ich werde mir den Tod geben. Der Deibel soll dich holen mit deiner verfluchten Tragik.«
Er stand auf und zauste dem Freunde, der in seine Ecke zurücksank, mit derb-drolliger Liebkosung das borstige Haupthaar.
»Ne, kleines Mädchen,« lachte er, »mich Taugenichts wirst du in diesem Leben nicht mehr los. Wer würde dich pflegen und dir den Kopf krauen, wenn dir die weißen Mäuschen spielen – und wer würde mir Moral predigen und seine altbackene Weisheit auskramen, wenn ich meine dummen Streiche mache, wiewohl – –« Er hielt inne, sandte einen schielenden Blick nach der Thürspalte, und eine der geleerten Flaschen ergreifend, schleuderte er sie mit einer Art von Kriegsgeheul gegen den Haspen, so daß sie klirrend am Eisen zerschellte.
Ulrich war entsetzt in die Höhe gefahren.
»Was ist geschehen?«
»Nichts von Bedeutung,« erklärte Leo wieder ganz ruhig. »Es kroch da seit einer Weile so ein Gewürm von Oberkellner 'rum, wahrscheinlich um uns zu behorchen. Das wollte ich bloß totschmeißen.«
Ulrich sandte einen befremdeten Blick zu ihm herüber.
»Ich bin wohl ein bißchen verroht da drüben unter den Wilden, was?« fragte Leo mit gutmütig abbittendem Lachen. »Aber laß gut sein, ich komme als ein ganzer und tüchtiger Kerl zu euch zurück. – Ich habe mich gereckt und gestreckt und finde, daß es augenblicklich wenige so ausgezeichnete Exemplare in Gottes weitem Tiergarten gibt, als meine Wenigkeit. Ich könnte mich, wenn ich ein halbes Jahr lang nischt zu essen kriegte, von meiner bloßen Selbstzufriedenheit nähren – wie der Bär Pfoten saugt – und würde dabei von Tag zu Tag fetter werden … Einen grandiosen Wahlspruch habe ich, der heißt: ›Nichts bereuen.‹ Und war ich einstmals ein wilder Finke und hab' ich mir mein Gewissen vollgepackt bis oben – gut – so hab' ich auch mein Pläsir dabei gehabt und muß zufrieden sein. Nur wehe dem, der mich daran erinnert! … Dem zahl' ich heim – alles, was mir an Aerger und Pech daraus erwachsen ist … Denn wozu wären die eigenen Fehler da, wenn man sie an andern nicht rächen sollte?«
»Eine behagliche Philosophie,« lachte Ulrich.
»Ich mach' mir alles behaglich,« entgegnete Leo, den Blondbart nach den Schultern hin auseinanderstreichend, »die Sünde wie die Besserung … Wenn ich jetzt, wo ich zum Bewußtsein meiner Jugendeseleien gekommen bin, wo ich einseh', daß ich die besten Jahre meines Lebens verzettelt – mein Hab und Gut vernachlässigt – mich an meinen Freunden versündigt – sei still, ich hab's mehr, als du ahnst – – meine Mutter mit Herzeleid und mich selbst mit Sündenschuld beladen hab' – wenn ich jetzt in ein großes Lamento ausbrechen wollte – oder mich mit Selbstvorwürfen quälen – oder gar in einem Morast von Verzweiflung versinken – – wem würd' ich nützen? Keinem … Was würd' ich ungeschehen machen? Nichts … Im Gegenteil, verrujenieren würd' ich auch das letzte … Und nun will ich dir mal erzählen, wie's geschah, daß ich heimkam … Dein letzter Brief war mir von Buenos Ayres in die Steppe nachgeschickt worden, wo ich seit ein paar Monaten kampierte … Als er mir in die Hände fiel, kam ich gerade dampfend und hundemüde von der Büffeljagd … Du schriebst mir, mit meinen Gütern steh' es schlimm, das Auge des Herrn fehle an allen Enden, du könntest den Ruin nicht länger aufhalten – und dergleichen mehr. Daß es abwärts ging, das wußt' ich ja, besonders seit ich in Monte Carlo, der vermaledeiten Räuberhöhle, die kolossalen Summen verspielt hatte, – aber ich war einfach zu bequem gewesen, daran zu denken. Drüben in Europa lauerte eine Welt von Sorgen und Mühen, aber hier ringsum war Freiheit und dralles, forsches Drauflosleben … Laß den ganzen Krempel verfallen, sagt' ich mir, geh den Scherereien aus dem Wege und bleib hier … Mutter und Schwestern hatten das Ihrige bekommen, Rechenschaft war ich keinem schuldig – warum sollt' ich nicht? … Ich schritt vom Lagerfeuer weg in die dämmrige Steppe rein, um mir die Sache noch einmal zu überlegen. Mir war zu Mute, als würd' ich schon das Richtige treffen, denn einen geeigneteren Winkel zu stiller Einkehr, als diesen Gräserwald mit dem hohen, grauen Himmel drüber kann es nicht geben, das glaub mir. Drum sind die Leute dort auch so verflucht gescheit und bringen sich gegenseitig um, wo sie bloß können … Also kurz und gut, wie ich nun so in einer Wegfurche zwischen den mannshohen Halmen hinschritt, da stieß mein Fuß gegen etwas … Es war der Kadaver eines Gaules, der dort gefallen war … Man findet dergleichen an den Wegen alle fünfzig Schritt, manchmal haufenweise. Was mir an diesem auffiel, war auch nur, daß man vergessen hatte, ihm die Sielen abzunehmen. Er war noch ganz frisch, – kaum 24 Stunden alt – und mußte augenscheinlich zu den Karren unsrer Expedition gehört haben … Ich nahm mir vor, den Fuhrknechten wegen ihrer Nachlässigkeit einen Denkzettel zu geben. Da, wie ich das arme Luder, das mich mit seinen weit offenen, graublauen Augen wie lebend ansah, noch einmal so betrachte, kommt mir plötzlich das Wort des Mannes in den Sinn, der unsrem Junkerstande eine neue Ehre, eine neue Kraft, eine neue Moral gegeben hat, das Wort, das er einmal im Reichstag sprach: ›Ein braves Pferd stirbt in seinen Sielen …‹ Und da sah ich mit einemmal dich vor mir, dich und deinen elenden Leichnam, dem du mit deiner Bombenenergie erst alles hast abringen müssen, was du geworden bist; … dich, den jeder halbwüchsige Junge zu Boden schlagen kann und den die rohesten Trunkenbolde unter den Knechten scheuen und ehren wie ihren Herrgott; … dich, der du zu allem geboren warst, bloß nicht zum Landwirt, und der du doch zuwege gebracht hast, daß aus der alten Klitsche deiner Vorfahren eine moderne Musterwirtschaft geworden ist; … dich, der du die Nächte hindurch über wissenschaftlichen Büchern sitzest und nicht müde wirst, neues Wissen in dich hineinzupumpen; … dich, der unsrem Kreise im Parlament einen Namen gemacht hat – sei still – ich weiß – man liest auch drüben bisweilen deutsche Zeitungen … Dich sah ich vor mir, der du so weiter schaffen wirst ohne Rast und Ruh, bis dieses schwache Stück Fleisch, das du da an dir hängen hast, dich doch einmal zum Tribute fordert … ›Ein braves Pferd stirbt in seinen Sielen,‹ sagt' ich da wieder und wieder vor mich hin und fing an, mich ein ganz, ganz klein bißchen zu schämen. Und wenn ich mich schäme, siehst du, – ich, – wo ich mir doch sonst immer so gut gefalle, dann ist sicher irgend etwas faul. – ›Also basta!‹ sagt' ich zu mir, ›du wirst mit deinem dicken Schädel mitten in alle Widerwärtigkeiten hineinrennen und ein verdammt tüchtiger Kerl werden. Und die Besserung soll sofort beginnen, indem du dich mit Morgengrauen auf den Heimweg machst.‹ Und zum Zeichen meiner moralischen Heldenkraft hab' ich noch an demselben Abend meine sämtlichen Kumpane – übrigens ein gottverlassenes Gesindel – unter den Tisch gesoffen … Oder vielmehr ich würd's gethan haben, wenn so etwas wie ein Tisch dagewesen wäre. – Als ich nun alle malerisch auf dem Rasen liegen sah, ließ ich meinen Gaul satteln, nahm meine zwei Diener mit den nötigsten Lebensmitteln zu mir – und dann ging's a galope large los – in die Weite … Die Viecher schnüffelten in die Morgenluft hinein. Es war, als hätten sie die Witterung des Halewitzer Stalles. Drei Wochen bis Buenos Ayres, fünf Wochen bis Hamburg – achtzehn Stunden bis zur ›Preußischen Krone‹. Da bin ich, da sitz' ich und komm' dir eins!«
Die Gläser klangen zusammen. Strahlend in Stolz hing Ulrichs Auge an dem Wiedergefundenen.
»Wissen die Deinen von deiner Ankunft?« fragte er.
»Nicht die Spur. Unerkannt wie mein Kollege, der edle Dulder Odysseus, will ich mich in Haus und Hof hineinschleichen. Viel Tröstliches werd' ich da wohl nicht finden.«
»Ich will dein Urteil nicht beeinflussen,« erwiderte Ulrich. »Uns bleibt ja noch Zeit genug, über Geschäfte zu reden, wenn du alles mit eigenen Augen gesehen hast. Es wird deinem Ohm Kutowski schwerlich gelingen, dir Sand in die Augen zu streuen … Den Deinen geht es gut. Deine Mutter ist weißer geworden, aber ebenso froh und ebenso fromm wie immer. Deine Schwester Elly hat sich zu einem süßen kleinen Jungfräulein herausgewachsen und wird schon eifrig becourt. Deine Schwester Johanna …« – er hielt inne. Die Sorgenfalte auf seiner Stirne trat schärfer hervor.
»Nun, was ist los?« fragte Leo befremdet.
»Du wirst ja selber sehen,« erwiderte er. »Die lange Witwenschaft scheint ihr nicht gut zu thun. Sie vereinsamt und verbittert. Auch zu uns nach Uhlenfelde kommt sie nicht mehr … Mit meiner Frau ist sie verfeindet. Warum, weiß kein Mensch. Und selbst gegen mich scheint sie einen Groll zu haben.«
»Ach, Unsinn!« rief Leo, »sie hat immer auf dich geschworen, und so wird es auch heute sein.«
»Apropos,« brach Ulrich ab, »denkst du auch daran, daß du eine neue Hausgenossin bekommen hast?«
»So – wen denn?«
»Hertha Prachwitz – Johannas Stieftochter.« Leo erinnerte sich. Gesehen hatte er sie nie. Aber Mutter schwärmte fast in jedem Briefe von ihr.
»Du weißt hoffentlich,« erwiderte Ulrich lächelnd, »daß sie die Podlinskischen Güter erbt. Man erzählt sich, daß deine Mutter den Schatz nur deshalb so eifersüchtig hütet, um ihn dir bei deiner Heimkehr auf dem Präsentierteller entgegenzubringen.«
Leo lachte. »Das sieht meiner lieben Alten ähnlich. Sie kuppelt mich seit meinen Windeln mit allem Weiblichen zusammen, was eine nennenswerte Mitgift kriegt. Im übrigen bin ich kein Unmensch … Und wir können uns die Kleine ja mal ansehen. – Aber, was wichtiger ist, als das und alles, Uli –«
»Nun?«
»Was wird auf uns beiden?«
»Ja, was wird auf uns beiden?«
Schweigend und ratlos sahen die Freunde sich an.