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39.
Abermalige Aufzeichnung des Staatsanwalts Dr. Sigrist

Der Rechtsanwalt Paul Morell befand sich in solch einer Aufregung, daß er meine Anwesenheit kaum beachtete. Ein seltsames Widerspiel von Selbstzufriedenheit und Schuldbewußtsein wetterleuchtete auf seinen nervösen Zügen, während er stürmisch vor Frau Sandner hintrat. Sein Atem flog. Das dunkle Kraushaar hing ihm schweißfeucht bis zu den heißen schwarzen Augen. Er mußte ein gutes Stück des weiten Weges von der Villa draußen in die Stadt hinein zu Fuß dahingeeilt sein, bis er irgendwo endlich jetzt vor Morgengrauen eine Droschke gefunden hatte.

»Gnädige Frau!« Er preßte es halb triumphierend, halb verstört hervor. »Sie sehen in mir einen Sünder, der sich schon selber Ablaß erteilt hat! Ich habe nämlich Ihre Weisungen nicht befolgt! Ich habe es nicht können und nicht dürfen! Ich habe sogar ganz einfach das Gegenteil getan. Ich habe das, was ich in dem Schrank gefunden hatte, hier diesem Herrn da übergeben und Sie dadurch vor ihm und einer blinden Justiz gerettet! Das gestehe ich Ihnen hiermit mit der Ruhe des guten Gewissens!«

»Gottlob, daß Sie im letzten Augenblick noch gesprochen und sich mir anvertraut haben, gnädige Frau!« fuhr er mit zitternden Lippen fort, die wenig von der inneren Ruhe verrieten, deren er sich rühmte. »Nun wissen wir mit unumstößlicher Sicherheit, was vorher schon drei schlichte Kinder des Volks bekundet haben: daß ein dritter in der Villa war, daß der graue Herr in der Villa war ...« Er verstärkte seine Stimme: »Daß er, dem man nach anderen Zeugenaussagen alles zutrauen kann, auch in diesem Fall der Schuldige ist, daß er der Mörder ist!«

»Verzeihung: der Ermordete!« sagte ich.

Morell starrte mich fassungslos an. Ich wiederholte:

»Sie haben sich versprochen! Sie wollten doch sagen, daß der graue Herr der Ermordete ist?«

»Ich verstehe Sie wirklich nicht!« Der Rechtsanwalt Morell zuckte die Achseln. »Ermordet wurde doch wahrhaftig Sandner ...«

»Ganz richtig! Ermordet wurde Leopold Sandner!« Ich stand auf, ging zu Morell hin und fragte ihn halblaut, in gewöhnlichem Gesprächston: »Sagen Sie mal – warum haben Sie eigentlich Sandner ermordet?«

Paul Morell trat einen Schritt zurück. Er musterte mich von Kopf bis zu Fuß, schüttelte den Kopf, als zweifle er an meinem Verstand. Dann versetzte er kaltblütig und entschieden:

»Ich verbitte mir solche Scherze!«

»Natürlich nur ein Scherz unter Leuten vom Bau!« sprach ich. »Aber sehen Sie, auf was man kommen könnte: Ihre Gattin – sie sitzt übrigens augenblicklich unten in meinem Wagen. Sie sind offenbar in Ihrer Aufregung an ihr vorbeigeeilt, ohne sie zu bemerken – also Ihre Gattin hat beschworen, sie habe Leopold Sandner am Fenster stehen sehen!«

» ... und wenn jemand: dann nimmt sie es mit ihrer Eidespflicht genau! Sie kennen sie doch! Sie ist doch ein fast philiströser, gewissenhafter Mensch!«

»... während Sandner damals noch gar nicht in der Wohnung war, sondern sie erst eine ziemliche Zeit nachher betreten hat!«

»Ich glaube, Sie träumen!«

»Nun, dann habe ich einen merkwürdigen Traum gehabt. In dem Garderobenraum hinter der Diele steht im Dunkeln ein Unbekannter. Das Haustor geht auf. Eine Frauengestalt schlüpft schattenhaft, ohne Licht zu machen, an ihm vorbei, durch die Diele, in das Innere des Hauses. Er kann nicht erkennen, wer es ist. Er denkt es sich nur. Er denkt übrigens falsch. Es ist nicht seine eigene Frau!«

»Was heißt denn das nur?«

Gut. Unser Unbekannter hat Geduld. Er steht und harrt. Er wartet, daß Sandner von der Straße her eintreten, in der Diele Licht machen und sich der Garderobe nähern wird, um dort Hut und Mantel aufzuhängen. In diesem Augenblick soll aus der Finsternis der Schuß krachen, der ihn niederstreckt. Aber der Mann, der von der Straße eintritt, macht sich nicht erst die Mühe, die Diele zu erhellen, denn er läßt Hut und Mantel nicht in der Garderobe, sondern behält beides an – Gott weiß warum – und nimmt es mit ins Haus. Er geht im Dunkel schnell und schattenhaft vertrauten Schritts wie ein Ortskundiger durch die Diele, legt dabei im Vorbeigehen etwas Hartes auf den Mitteltisch und verschwindet in den inneren Gemächern, ohne daß sich der große Unbekannte in der Garderobe darüber klar ist: Ist das Sandner oder nicht? – so daß er vorerst seine Kugel spart!«

»Sie fabeln da etwas zusammen ...«

»Unser unbekannter Freund hörte dann aus dem Rauchzimmer jemanden telephonieren. Er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber er erkannte die Stimme Leopold Sandners. Nun wußte er: Leopold Sandner war wirklich der Mann, der vorhin gekommen war. Und der auch wieder gehen würde. Darauf wartet er, um seinen Schuß anzubringen. Er braucht nicht lange zu warten. Die Türe zum Rauchzimmer geht auf. Ein heller Lichtschein fällt auf die Diele. Leopold Sandner betritt sie – ohne Hut und Mantel – er will nur die Pistole holen, die er dort auf den Tisch gelegt hatte. Sie ist aber nicht mehr da ...«

»So? Wo ist sie denn hingekommen?« forschte der Rechtsanwalt Morell ironisch. Er beherrschte sich vollständig. Er hatte meinen Bericht mit dem nachsichtigen Lächeln angehört, mit dem Erwachsene einem Kindermärchen folgen.

»Na – Sie hatten sie doch an sich genommen!« sagte ich.

»Ich?« Morell zog die dunklen Brauen hoch.

»Aber besinnen Sie sich doch! So was vergißt man doch nicht so leicht. Sie hatten inzwischen im Dunkel der Diele mit der Hand auf der Tischplatte nachgefühlt, was da wohl hingelegt sein könne ...«

»Immer ich? Was habe denn ich mit der ganzen Geschichte zu tun? Sie werden mir immer rätselhafter, Herr Staatsanwalt Sigrist!«

» ... und haben die Waffe in die Hand bekommen und sich ihrer bemächtigt, in der ganz richtigen Erwägung, daß ein Schuß aus ihr noch weniger auf die Spur des Täters führen könne als aus Ihrer eigenen, die Sie wohlweislich in der Tasche behielten. Die Sandnersche Pistole, deren Besitz Sie auf der Flucht verraten konnte, ließen Sie auf dem Teppich liegen! Dort hat man sie ja dann gefunden!«

»Wie lange gedenken Sie noch zu fabulieren, Herr Staatsanwalt?« erkundigte sich Dr. Morell förmlich teilnehmend.

»Ich bin schon am Ende! Mit dieser Pistole haben Sie in der Diele Sandner erschossen! Nun geben Sie das doch schon zu!«

Paul Morell zuckte höhnisch die Achseln. Er war ganz ruhig. Er fragte gelassen: »Sind Sie hellsehend, daß Sie das alles wissen?«

»Keine Schmeicheleien, Verehrtester!« versetzte ich. »Das ist nicht nötig. Mich hat einfach das bißchen Verstand, das Gott mir gab, auf die Spur geleitet!«

»Etwas spät ...?«

»Kann ich dafür, wenn seinerzeit ein Meineid der tollsten Art vor Gericht den ganzen Tatbestand auf den Kopf stellte – ein Meineid aus einem Mund, dem man das nie im hitzigsten Fieber zugetraut hätte?«

»So? Das ist ja das Neueste! Wer soll denn den Meineid geleistet haben?«

»Mein Gott, Ihre verehrte Gattin! Ich deutete das ja schon vorhin an ...«

»Nun wird es mir aber zu bunt!« schrie Morell mir ins Gesicht. Ich:

»Sie hat nicht Sandner, sondern seinen Mörder am Fenster gesehen! Warum gab sie das nicht zu? Warum nannte sie ihn nicht? Warum beschrieb sie ihn nicht? Warum hob sie lieber kaltblütig die Schwurfinger und leistete einen Meineid? Für welchen Mann auf der Welt hatte sie Grund dazu?«

»Und welchen Grund hätte ich gehabt, den guten Sandner umzulegen?« fragte Morell kaltblütig. Er brachte es fertig, kurz aufzulachen.

»Einen furchtbaren Grund!« sagte ich. »Ihre Frau und deren Beziehungen zu Sandner!«

»Was?«

»Sie haben davon erfahren. Sie sind ein heißblütiger Mensch. Sie haben das Temperament eines Südländers. Sie wollten sich rächen. Menschlich begreift sich das ja! Aber ich stehe hier eben als Vertreter der Staatsgewalt.«

Paul Morells Kohlenaugen funkelten unheimlich.

»Ich verbitte mir das!« zischte er zwischen den Zähnen. »Sie überschreiten die Rechte, die Ihnen Ihr Amt gibt! Sie greifen in mein Familienleben und in meine Familienehre ein! Sie verdächtigen kalten Bluts und leichten Herzens mir nichts dir nichts zwei Menschen, von denen der eine tot und die andere abwesend ist ...«

Plötzlich hatte er sich wieder in der Gewalt. Er wandte sich mit einer brüsken Schulterbewegung ab.

»Überhaupt – weisen Sie mir doch etwas nach!« sprach er spöttisch.

»Sie bemängelten eben die Abwesenheit Ihrer Frau Gemahlin!« sagte ich. »Dieser Rüge können wir sofort abhelfen. Ich lasse jetzt Ihre Gattin heraufholen und Ihnen gegenüberstellen. Es wird sich ja zeigen, ob sie, Auge in Auge mit Ihnen, noch die Kraft haben wird, zu verschweigen, wen sie am Fenster gesehen hat!«

»Sie wird dasselbe sagen wie ich«, sprach Paul Morell ohne eine Spur von Gemütserregung, »daß wir gegen diese Verdächtigung unserer Ehre entrüstet Protest erheben und uns energisch dagegen verwahren, irgendwie in diese blutige Geschichte verwickelt zu werden!«


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