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2.
Weitere Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Die Villenstraßen, durch die unser Kraftwagen sauste, boten im Abenddämmern mit ihren frühlingsgrünen Vorgärten das gewohnte Bild friedlichen Stillebens. Aber je mehr wir uns dem Innern näherten, desto mehr veränderte sich das Alltagsantlitz unserer guten Stadt. Die Menschen standen in Gruppen an den Straßenecken beisammen, sie gestikulierten, sie hatten sich mitten auf dem Weg aufgepflanzt und vertieften sich in die Abendzeitungen. Im Aufblenden der abendlichen Laternen füllten sich die Bürgersteige mit einem immer dichteren Gedränge in der Richtung nach dem freien Platz, an dem das Amtsgebäude des Staatspräsidenten lag.

Hier stauten sich die Leute viele Glieder tief, Kopf an Kopf, zu dunklen, unruhig bewegten, unbestimmt murmelnden Mauern. Vereinzelte Rufe wurden ans der Menge laut – Gassenjungen pfiffen – die Straßenbahn bimmelte und kam nicht weiter. Auch für uns war es unmöglich, die Masse zu durchbrechen und vor dem Ministerium vorzufahren. Wir mußten aussteigen. – Schutzmänner hielten eine schmale Gasse durch das Gewühl bis zum Portal frei. Depeschenboten, Briefträger, Reporter, Abgeordnete, Beamte, Notabeln der Stadt drängten sich da zum Eingang oder schoben sich uns von dort entgegen.

Ich passierte eilig zu Fuß diesen Menschenhohlweg. Ich wurde von der Masse als der Staatsanwalt Sigrist erkannt. Erregte Rufe umbrandeten mich. »Mörder!« schrie mir ein blasser, leidenschaftlicher junger Mann ins Gesicht. Und eine Dame noch erregter: »Nein ... Mörderin!« – »Gnade – Gnade!« tönte es da wie in einem Sprechchor, und dann wieder ein tiefer Bierbaß: »Nee – Kinder – Gerechtigkeit! – Wo kämen wir denn sonst hin?«

Ich kümmerte mich nicht um die vox populi, obwohl die Leute mich am Ärmel faßten, mir in den Weg traten. Die Schutzleute schufen mir Bahn bis zum Eingang des Ministeriums. Dort harrte meiner ein Botenmeister. »Herr Staatsanwalt werden schon erwartet!« meldete er und geleitete mich die Treppe hinauf, durch ein paar Vorzimmer voll Menschen, in den Empfangsraum des Staatspräsidenten.

Dr. Nöldechen war allein in dem weiten, stillen, von der steifen Würde des Staats erfüllten und durchkälteten Gemach. Er stand vor einem mächtigen grünen Tisch, auf dem das gedämpfte Licht elektrischer Deckenlampen die Dinge beschien, mit denen Margot Sandner seit Monaten die Öffentlichkeit beschäftigte – die Stapel von Gerichtsakten, die Stöße von Zeitungen, die Bündel von Depeschen, Briefen, Eingaben von Privaten und Vereinen, die Haufen von Visitenkarten ihrer Freunde und Gegner in diesem Prozeß. Sinnend nun davor der kleine Mann, in dessen Händen ihr Schicksal lag. Ich kannte den Dr.. Nöldechen seit Jahrzehnten, und es schien mir, als sei er in dieser ganzen Zeit weder alt noch jung, sondern äußerlich immer derselbe geblieben. Der zart gebaute, etwas gebückte Herr mit dem schütteren grauen Vollbart, der mächtigen gebuckelten Stirn über der goldenen Brille hatte etwas Zeitloses. Immerhin: Er war jetzt ein Siebziger. Sein Gesicht gefurcht, in seinem seltsamen Widerspiel von amtlicher Strenge um den Mund und menschlicher Güte in den Augen. In denen lag ein tiefer Ernst der Verantwortung, wie er langsam den Gelehrtenkopf zu mir umwandte und mir stumm die Hand bot und auf einen Sessel wies. Er hüstelte bedächtig. Das war immer seine Art, seine Gedanken zu sammeln, ehe er sprach. Dann begann er mit seiner hohen, leisen, heute etwas matten Stimme.

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind! Ich brauche heute Menschen. Ich werde allein nicht fertig! Sie wissen: Ich bin ein gläubiger Christ. Ich habe heute Nachmittag einen einsamen, einstündigen Spaziergang gemacht und über den Fall Sandner nachgedacht. Ich habe mir dann die Stiftskirche aufschließen lassen und eine Viertelstunde gebetet, daß Gott der Herr mich erleuchten möge. Aber mein Gewissen ist noch nicht in Ruhe. Ich habe ja freilich da die Akten. Ich habe die Berichte und Gutachten der zuständigen Stellen. Ein anderer würde sich vielleicht mit dem, was er da schwarz auf weiß besitzt, zufrieden geben. Aber gerade diesmal kämpft in mir etwas dagegen. Das sind starre, unpersönliche Schriftsätze auf der Schreibmaschine. In anderen Fällen wären sie mir auch Richtlinien für meine Entschlüsse genug. In dem Dunkel, in dem wir im Falle der Margot Sandner tappen, ist zweimal zwei nicht einfach vier. Es fehlt mir der Schlüssel zu dem Menschlichen in diesem Rätsel!«

»– – – das höchstens in Frau Sandner's Schweigen über die Gründe ihrer Tat liegt!«

»Ich kenne diese Frau nicht. Ich habe als Staatspräsident selbstverständlich der Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen können. Ich suche irgendwie den lebendigen Eindruck ihrer Persönlichkeit. Ich habe mich mit ihren damaligen Richtern und dem Vorsitzenden des Schwurgerichts über sie unterhalten. Ich möchte nun noch Sie hören, der damals Frau Sandners Tod, und dann ihren Verteidiger, Doktor Morell, der ihr Leben forderte.«

»Ich weiß aus meiner Praxis wenig Fälle, in denen die Tatsachen so klar und einfach zutage liegen!« sagte ich, bemüht, die Ruhe meines Amtes zu wahren. »Wir haben überhaupt nur zwei eigentliche Zeugen – die beiden Schutzleute Lemich und Neubert – beides erprobte, im Dienst ergraute, über jeden Verdacht erhabene Beamte. Herr Staatspräsident halten jetzt eben deren schriftliche Bekundungen in der Voruntersuchung in der Hand, wie sie nachher von den beiden in der Hauptverhandlung beschworen wurden!«

»An diesen Aussagen ist kein Zweifel!« Dr.. Philipp Nöldechen nickte bedächtig und legte den Akt auf den Tisch.

»Rekapitulieren wir uns doch den kurzen und simpeln Vorgang!« fuhr ich fort. »Die beiden Schutzleute hatten in der Nacht vom fünfundzwanzigsten zum sechsundzwanzigsten Januar draußen an der Ecke der Elisen- und Gartenstraße in einem im Winter fast unbewohnten und daher von Einbrechern bedrohten Villenviertel Wacht. Eine Viertelstunde, nachdem es vom Turm elf Uhr nachts geschlagen, verlassen sie ihren Posten in der Elisenstraße, um in der unweit gelegenen, wenig gut beleumundeten Wirtschaft ›Knolls Taverne‹ den Vollzug der Polizeistunde zu kontrollieren, und biegen in die Gartenstraße ein. Dies Eckhaus, um das sie herumgehen, ist die große, winters völlig leere, dem Großkaufmann Leopold Sandner gehörige Villa, mit dem Vordereingang nach der Gartenstraße. Gerade als sie auf drei Schritte an dem Haustor vorbeikommen, kracht innen ein Schuß durch die Nachtstille, in der sie jeden etwa vorhergegangenen Schuß hätten hören müssen. Es war also unzweifelhaft der erste und einzige Schuß, der überhaupt abgegeben wurde.«

»Das Haustor ist unverschlossen –«, Dr.. Nöldechen blätterte wieder stirnrunzelnd, in angestrengtem Nachdenken in dem Protokoll.

»Der eine Schutzmann faßt sofort davor Posten, so daß niemand nach dem Schuß hier die Villa verlassen konnte ... «, fahre ich fort. »Der andere dringt mit seiner Taschenlaterne in die dunkle Diele ein. Alles ist still. Nichts rührt sich. Ein Hinterraum ist erleuchtet. Auf der Schwelle, zwischen diesem Salon und der Diele, liegt Sandner tot. Noch warm. Nicht weit davon auf dem Teppich ein Revolver – sein eigener Revolver, wie festgestellt –, in dem ein Schuß fehlt. Der Schuß ging von hinten an der tötlichen Stelle zwischen Wirbelsäule und Hinterkopf ins Genick. Es ist, nach Aussage aller Sachverständigen, ganz unmöglich, daß ein Mensch sich selbst einen solchen Schuß beibringen kann.«

»Und wenige Schritte davon, im Nebenraum ... «

»... sitzt Frau Margot Sandner in Hut und Mantel, völlig teilnahmslos, und läßt sich gleichgültig festnehmen ... «

»... und gibt nur die Tat zu, aber mit keiner Silbe jemals die Gründe!« Der alte Nöldechen seufzte und warf das Protokoll auf das grüne Tuch.

»Der Schutzmann an dem Haustor hat sofort mit der Trillerpfeife eine Streifrunde herbeigerufen!« fuhr ich fort. »Das ganze Haus wurde in allen Winkeln durchsucht. Es fand sich keine Menschenseele außer Frau Sandner und dem Toten. Der Hinterausgang nach dem Park war von innen so fest mit Sicherheitsschlössern und Vorlegstangen verwahrt, daß man eine Viertelstunde gebraucht hätte, um zu öffnen ... «

»Es gab noch eine Pforte aus dem Wintergarten ins Freie ... «

»Sie war fest verschlossen. Der Schlüssel hing innen an der Wand. Einen zweiten Schlüssel besaß Sandner selbst. Er fand sich in seiner Tasche. Den dritten und festgestelltermaßen letzten hatte der für den Winter mit dem Sandnerschen Haushalt in die Stadt gezogene Gärtner. Dieser Schlüssel befand sich laut seinem Eid diese Nacht über wie gewöhnlich an einem Nagel an der Tapete über seinem Bett.«

»Und selbst wenn man von einem heimlich hergestellten Nachschlüssel reden wollte«, schloß ich, »so haben wir auch da einen klassischen Zeugen unter Eid dafür, daß während der kritischen Zeit niemand in der mondhellen Frostnacht, in der er weithin hätte gesehen werden müssen, von hinten heraus das Haus verlassen hat! Auch Fußspuren haben sich bekanntlich nirgends in der Umgebung gefunden.«

Dr.. Philipp Nöldechen nickte und schwieg. Ich hub noch einmal an:

»Also müssen wir Frau Sandners Geständnis, daß sie ihren Mann mit voller Überlegung getötet hat, Glauben schenken, auch wenn sie uns ihre Beweggründe unerschütterlich vorenthält. Dadurch macht sie es uns ja so schwer. Da heißt es immer und verfolgt mich seit Monaten, der Staatsanwalt habe den Kopf der Schuldigen verlangt! Weiß Gott – mir wäre lieber gewesen, ich hätte mildernde Umstände für die Angeklagte beantragen und sie vor dem letzten Gang bewahren können! Aber wo wir, dank ihr, überhaupt keine näheren Umstände der Tat kennen, konnten wir beim besten Willen auch keine mildernden Umstände der Tat kennen und in das Urteil einsetzen. Wir mußten uns also an die Tatsachen allein halten: Ja oder nein? Schuldig oder nicht? Leben oder Tod? Es gibt keine Abschwächung. Keine Erklärung. Es gibt nur den Buchstaben des Gesetzes. Das ist die Zwangslage, in die Margot Sandner selbst aus freiem Willen damals mich und die Geschworenen und den Gerichtshof versetzte, und jetzt, bei der Frage der Begnadigung, Sie, Herr Staatspräsident, bringt!«

»Es ist, als ob sie sterben wollte!« sagte der alte Herr mit seiner leisen, seltsam hellen Stimme. »Darf man einem Menschen von Staats wegen behilflich sein, der Selbstmord begehen will?«

»Ja!« versetzte ich fest. »Wenn dieser Mensch seine Tat sühnen und sich selber richten will – aus Gründen, die nur Gott und er kennen!«

Der ergraute kleine Würdenträger sah mich durch die Brillengläser aus seinen großen, dunklen Augen an, die, wenn auch alterstrübe, doch noch seine geistige Bedeutung verrieten.

»Das ist Ihr Standpunkt!« sprach er langsam. » Audiatur et altera pars!" Ich höre da draußen die stürmische Stimme des Verteidigers. Wir kennen sein Ungestüm.« Und zu dem einen Spalt der Tür öffnenden Diener: »Lassen Sie Herrn Doktor Morell nur gleich herein!«


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